Debatte Meinungsfreiheit:
Keine Täter-Opfer-Umkehr! – Eine Antwort auf Yascha Mounk
„In Europa werden Menschen tatsächlich für ihre Meinung eingesperrt“ betitelt Yascha Mounk seinen Essay. Jeanette Hofmann, Professorin an der Freien Universität mit den Schwerpunkten Digitalisierung und Demokratie widerspricht und betont die Dringlichkeit, Antworten zu finden auf das Dilemma, in dem sich Demokratie bewegt: Sich zu verteidigen, ohne die eigenen Grundsätze preiszugeben.
Unwillkürlich schaut man auf das Veröffentlichungsdatum, um sich zu vergewissern, dass der Text von Yascha Mounk tatsächlich aus dem April 2025 stammt und nicht doch ein, zwei Jahre älter ist. Im April mögen zwar noch nicht die Helikopter über die Columbia University geflogen sein, aber die Liste der verbotenen Begriffe, die laut der Verfügung 14151 des amerikanischen Präsidenten künftig von der föderalen Forschungsförderung ausgeschlossen sind, lag zu diesem Zeitpunkt längst vor. Auch die ersten Verhaftungen von Studierenden, die von ihren Rechten auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit Gebrauch machten, hatte es schon gegeben.
Parallelen zu JD Vances Münchner Rede
Yascha Mounk zeigt mit dem Finger auf Deutschland und Großbritannien und lässt die Repressionen der amerikanischen Regierung unerwähnt. Darin erinnert sein Beitrag in verstörender Weise an die Rede von JD Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar dieses Jahres.
Yascha Mounk ist diese Übereinstimmung durchaus bewusst. Am Ende seines Artikels kommt er auf die „Heuchelei“ von JD Vance zu sprechen, um dem erwartbaren Widerspruch an seinem eigenen Beitrag mit dem Argument zu begegnen, dass das an der Kritik selbst nichts ändert. In diesem Punkt ist Mounk rechtzugeben: Der Verweis auf das Glashaus, in dem man selbst sitzt, wäre angesichts der zunehmenden Einschränkungen von Meinungsfreiheit diesseits wie jenseits des Atlantiks tatsächlich eine lahme Reaktion. Statt dem Reflex eines Whataboutism nachzugeben, ist es deshalb sinnvoller, das Argument des Autors auf seine Plausibilität abzuklopfen.
Indizes für Demokratie und Pressefreiheit
Werfen wir zunächst einen Blick auf die verfügbaren Daten: Die dieses Jahr veröffentlichten Berichte zur internationalen Entwicklung der Demokratie, der Menschenrechte, darunter insbesondere der Meinungs- und Pressefreiheit sprechen eine eindeutige Sprache. Seit rund 25 Jahren befinden sich Demokratien weltweit auf dem Rückzug. Gleichzeitig nimmt die Zahl der autokratisierenden Staaten stetig zu; derzeit sind es laut dem „Varieties of Democracy Project“ 45 (V‑Dem: https://v‑dem.net/). Das ist fast eine Vervierfachung gegenüber den frühen 2000er Jahren. Im nächsten Jahr wird man auch die USA zu diesen Ländern zählen müssen. Zu den wichtigsten Indikatoren für den internationalen Demokratieverfall gehören Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit. Das V‑Dem Projekt stellt in seinem aktuellen Bericht fest, dass sich die Presse- und Meinungsfreiheit im Jahr 2024 in 44 Ländern verschlechtert hat, ein neuer Tiefpunkt gegenüber den Vorjahren. Tatsächlich gehören offene Zensur und informelle Formen der Behinderung der Presse und der Meinungsfreiheit zu den wichtigsten Waffen im Arsenal der Autokraten.
Desinformationskampagnen als Herausforderung für etablierte Medien
Ebenso wichtig ist Desinformation von oben. In den letzten Jahren lässt sich ein beklemmender Zusammenhang zwischen dem Aufkommen politischer Lügen der politischen Elite, der Polarisierung der öffentlichen Sphäre und dem Verfall von Demokratien beobachten. Die Erhebungen der amerikanischen Organisation Freedom House bestätigen diese Trends. Demzufolge hat sich die Zahl der Länder, in denen die unabhängige Berichterstattung vollständig zum Erliegen gekommen ist, in den letzten 20 Jahren fast verdreifacht.[1] Für das vergangene Jahr lassen sich Angriffe auf die Medien für 120 Länder belegen. Nicht immer geht die Aggression von der Regierung aus, auch extremistische Bewegungen greifen JournalistInnen verbal wie auch physisch an. So berichtet die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) über bewusst gestreute Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der Presse in Deutschland durch populistische und extremistische Akteure. Insgesamt wird die Pressefreiheit in Deutschland jedoch als befriedigend eingestuft. Im Word Press Freedom Index rangiert Deutschland derzeit auf Platz 11, Großbritannien auf Platz 20, die USA auf Platz 57.
Europa konnte seinen Status als „freieste Region der Welt“ im Index von Freedom House halten, auch wenn es in vielen Ländern systematische Verletzungen von Grundrechten zu verzeichnen gibt. Die Bilanz von Deutschland ist gemischt. Während die Meinungsfreiheit im Allgemeinen gewahrt wird, hat die gesetzlich legitimierte Überwachung der BürgerInnen deutlich zugenommen. Der Freedom House Index gibt Deutschland 95 von 100 möglichen Punkten (Großbritannien 92, USA 84 Punkte).
Bei allen Vorbehalten, die man gegenüber der Repräsentativität und Neutralität quantitativer Vermessungen demokratischer Zusammenhänge haben sollte[2], deuten die verschiedenen Studien doch daraufhin, dass es um die Meinungs- und Pressefreiheit Deutschlands im internationalen Vergleich, sicherlich aber verglichen mit den USA, noch relativ gut steht. Es ist anzunehmen, dass das Gefälle zwischen (West-)Europa und den USA in den kommenden Jahren sogar zunehmen wird. Können wir uns also beruhigt zurücklehnen? Das wäre wahrscheinlich eine fatale Fehleinschätzung der Situation.
USA: Blaupause für Europa?
Seit geraumer Zeit entwickeln autokratische Regierungen Blaupausen für den Demokratieabbau, damit sie von gleichgesinnten Kolleg:innen andernorts imitiert werden können. Dies betrifft neben dem Umbau von Verfassungen und Verfassungsgerichten etwa Einschüchterungen der unabhängigen Presse, Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit, versuchten Legitimationsentzug gegenüber Gerichten, Richter:innen und Anwaltsfirmen, aber auch diverse Belohnungssysteme für persönliche Loyalität, die zur Korruption einladen. Die an Dramatik gewinnenden Verletzungen rechtsstaatlicher Normen und Verfahren führen ja nicht nur vor Augen, wie fragil und verletzlich die vor kurzem noch als unerschütterlich erachteten demokratischen Institutionengefüge sind, sie lassen auch erahnen, was uns in wenigen Jahren in Deutschland nach einem weiteren Regierungswechsel bevorstehen könnte. Das momentane Gefälle zwischen dem Zustand der Meinungs- und Pressefreiheit in Europa und den USA gibt folglich keinen Anlass zu Triumphgefühlen, es jagt einem eher einen Schauer über den Rücken angesichts der Entwicklungen, die möglicherweise vor uns liegen. Was, wenn die Zerstörung der Demokratie in den USA zur Blaupause für eine künftige Regierung hierzulande wird?
Nationalisieren von Problemen
Das Problem von Yascha Mounks Essay besteht nicht darin, dass er Einzelfälle verallgemeinert oder den Eindruck erzeugt, dass man in Deutschland jederzeit damit rechnen muss, ins Gefängnis geworfen zu werden, wenn man von seinem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch macht. Das Problem besteht darin, dass er die zunehmenden rechtlichen, technischen und sozialen Beschränkungen des öffentlich Sagbaren in mehr und mehr Demokratien gewissermaßen nationalisiert und personalisiert, also mit dem Finger auf Europa, vor allem aber auf Deutschland, Großbritannien, Nancy Faeser und Robert Habeck zeigt. Der großräumige Zerfall demokratischer Freiheitsversprechen und ‑garantien, der sich darin ausdrückt, bleibt unerwähnt. Unerwähnt bleibt auch das offenkundige Paradox einer grassierenden Beschränkung von Informations- und Meinungsfreiheiten ausgerechnet in einer Zeit, in der die medialen Voraussetzungen für eine breite, demokratische gesellschaftliche Verständigung so gut wie nie zuvor sind. Das Internet und die Plattformtechnologie haben die Hürden für horizontale soziale Kommunikationsbeziehungen in den letzten 20 Jahren erheblich gesenkt. Weshalb nehmen unter solchen Bedingungen Überwachung, Verfolgung und Bestrafung zu?
Yascha Mounks Kritik bezieht sich allein auf das Handeln der Regierungen. Brüssel, Berlin und London erscheinen als derart übermächtig, dass selbst die sozialen Netzwerke, die ihrerseits zu unverzichtbaren und mächtigen Infrastrukturen öffentlicher Kommunikation geworden sind, als arme Opfer erscheinen. Hier hätte man sich mehr Nuancierung, mehr Sensibilität für die politischen Zielkonflikte und die außerordentlich vielschichtigen Dilemmata gewünscht, die die digitale Kommunikation in den letzten 20 Jahren produziert hat.
Unterschiedliche rechtliche Traditionen in USA und Europa
Zwischen den USA und Europa besteht seit langem ein wechselseitiges Unverständnis für die jeweiligen Auslegungen und Grenzziehungen hinsichtlich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit. Während es aus amerikanischer Sicht nicht nachvollziehbar ist, warum etwa die Leugnung des Holocausts in vielen europäischen Ländern ein (weithin akzeptierter) Straftatbestand ist, hat man in Europa Mühe zu verstehen, dass in den USA selbst grobe Beleidigungen oder Verleumdungen verfassungsrechtlich geschützt sind. Der fünfte Artikel des Grundgesetzes und das First Amendment der amerikanischen Verfassung fremdeln miteinander; sie repräsentieren – und normieren – verschiedene ethische Welten. Die unterschiedlichen rechtlichen Traditionen befeuern auch Mounks Kritik. Ganz im Einklang mit der amerikanischen Lesart wertet er die deutschen Beschränkungen der Meinungsfreiheit als „schockierend streng“. Selbst wenn man die bestehenden nationalen Unterschiede in Rechnung stellt, bleibt die JD Vance-artig zugespitzte Opfer-Täter-Konstellation seines Textes ein Rätsel.
„Jagd auf Kritiker“ oder Schutz vor orchestrierter Gewalt und Extremismus?
Die britischen und deutschen Opfer von Zensur und Strafverfolgung, an deren Geschichte uns Mounk exemplarisch teilhaben lässt, sind offenkundig harmlose, unschuldige Zeitgenoss:innen. Da ist die im Alter fortgeschrittene Klavierlehrerin der Musikschule, die den Mittelfinger hochstreckt; der Rentner, der den früheren Wirtschaftsminister Habeck in satirischer Weise als Schwachkopf bezeichnet und daraufhin eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen muss; die britischen Eltern, die in einer geschlossenen WhatsApp-Gruppe Verfahrensfragen bezüglich der Auswahl der Schulleiters aufwerfen und prompt von der Polizei abgeholt werden; die schottische Großmutter und schließlich sogar ein autistischer Teenager. Sie alle, das verdeutlichen diese Beispiele, sind aufrechte Bürgerinnen und Bürger, die, weil sie ihre Meinung gesagt haben, Schikanen durch Polizei und staatliche Zensur erfahren haben. Diesen Opfern gegenüber stellt Mounk Politiker:innen, die “Jagd auf Kritiker“ machen. Selbst wenn jeder einzelne dieser Fälle sich genauso zugetragen hat, stellt sich die Frage, ob sich aus dieser Verteilung von Opfer- und Täterrollen eine zutreffende Gesamtschau der Situation ergibt.
Wer einmal eine mediale Hetzkampagne beobachtet hat oder gar selbst davon betroffen war, weiß, dass im öffentlichen Raum nicht nur empörte Klavierlehrerinnen und ungeschulte Polizist:innen unterwegs sind. Vor allem am extremistischen Rand der Gesellschaft formiert sich verbale und visuelle Gewalt, die vorzugsweise marginalisierte Gruppen und Andersdenkende bedroht. Organisierte Shitstorms, Hassrede und Hetzkampagnen richten sich gegen Journalismus und Wissenschaft, aber auch gegen die Kommunalpolitik, vor allem, wenn sie sich mit affektiv aufgeladenen Themen wie Migration oder Geschlechterfragen beschäftigen. Anonyme Gewaltandrohungen gegen die eigene Person oder die Familie zielen darauf, Menschen einzuschüchtern. Die Betroffenheit ist asymmetrisch, Frauen erwischt es öfter als Männer, in der Politik trifft es eher progressive als konservative Parteien. Der öffentliche Raum nimmt an manchen Orten eine toxische Qualität an. Dazu gehört nicht zuletzt das soziale Netzwerk X, das eine recht eigenwillige Interpretation der Meinungsfreiheit feiert, seit Elon Musk dort das Sagen hat. Die Rechtsprechung in Deutschland zu „Hasskriminalität“ ist übrigens weit weniger einheitlich als Mounks Essay nahelegt. Während die Bezeichnung von Robert Habeck als „Schwachkopf“ tatsächlich zu einer Hausdurchsuchung führte, ist das Nazi-Etikett „Volksschädling“ für Olaf Scholz straffrei geblieben. Nicht alle Leute lässt das aufatmen. Im Gegenteil, für die Betroffenen ist die arbiträre Rechtsprechung bedrückend.
Rückzug aus sozialen Medien als „Hölle toxischer, unzivilisierter Inhalte“
Im Ergebnis entstehen weiträumige Chilling Effekte, die den öffentlichen Diskurs auskühlen. Das in Oxford ansässige Reuters Institute beobachtet seit Jahren einen Rückzug aus der digitalen öffentlichen Sphäre.[3] Die Praxis des öffentlichen Teilens und Kommentierens von Nachrichten geht zurück; stattdessen findet die politische Debatte in geschlossenen Räumen via Messagingapps statt. Während Yascha Mounk diese Entwicklung vermutlich staatlicher Zensur anlasten würde, hebt das Reuters Institute hervor, dass es bislang keine gute Erklärung dafür gibt, aber der Ruf der sozialen Netzwerke als „Hölle toxischer, unzivilisierter Inhalte“ vermutlich eine Rolle spielt. Viele Menschen hätten den Eindruck gewonnen, dass man im digitalen Raum inzwischen Vorsicht bei öffentlichen Äußerungen über politischen Themen angebracht ist. Aus eigener Erfahrung würde ich das bestätigen. Man ist heute gut beraten, selbst kurze Kommentare auf mögliche Missverständnisse und Angriffsflächen hin zu prüfen. Denn wer sich sichtbar und womöglich kontrovers öffentlich äußert, lebt gefährlich und muss mit persönlichen Angriffen rechnen. Die Plattformen, die das Phänomen der Many-to-Many Kommunikation und der nutzergenerierten Inhalte technisch erst möglich gemacht und in die Breite getragen haben, sind mitverantwortlich für diese Situation. Die abnehmende Meinungsfreiheit kommt folglich nicht nur per Gesetz von oben, sie kommt auch von unten und von der Seite, aus der Infrastruktur. Entsprechend ist die Situation viel verworrener und unübersichtlicher als uns Yascha Mounks Beispiele unschuldiger Bürger:innen glauben machen wollen.
Soziale Netzwerke als Machtinstrumente des öffentlichen Diskurses
Die Plattformen sind keineswegs nur Opfer von staatlichen Restriktionen, wie Mounk suggeriert. Anders als man denken könnte, interpretieren die großen Plattformen Meinungsfreiheit nicht im Sinne der amerikanischen Verfassung. Mithilfe ihrer Gemeinschaftsstandards und ‑richtlinien, eine Form der privaten Regulierung, filtern sie Inhalte und strukturieren in zunehmendem Maße die öffentliche Diskussion. Weil soziale Netzwerke mittlerweile eine solch große Macht über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im öffentlichen Diskurs ausüben, verpflichtet der Digital Service Act (DAS) sie nun zu größerer Transparenz. Künftig müssen sie die Zwecke und Regeln der Moderation von Inhalten offenlegen. Sofern sie den Informationsfluss mit Empfehlungsalgorithmen steuern, bekommen die Nutzenden nun ein Anrecht auf Alternativen, so dass sie selbst wenigsten mitbestimmen können, welche Beiträge angezeigt werden. Es ist ein, für den amerikanischen Blick auf die EU, nicht untypisches Missverständnis, europäische Plattformregulierung als bloße Schikane abzuqualifizieren. Ja, der Europäische Digital Service Act (DAS) schränkt die Meinungsfreiheit ein. Illiberalen Demokratien wie Ungarn liefert er neue Instrumente, um politisch unerwünschte Stimmen rechtlich mundtot zu machen. Zugleich unternimmt der DSA aber auch wichtige erste Schritte, um die Kommunikations- und Marktmacht der Plattformen zu bändigen und die Rechte der Nutzenden zu stärken. Was uns Mounk vorenthält ist, dass der US amerikanische Staat New York im vergangenen Jahr ähnliche Maßnahmen ergriffen hat. Das „Stop Hiding Hate“ Gesetz sieht vor, dass Plattformen künftig ihre Regeln zur Moderation von Inhalten, einschließlich ihrer Politik gegenüber Hassrede offenlegen müssen. Interessanterweise schließt das auch die Definition der einschlägigen Filtergegenstände, also Rassismus, Desinformation, Belästigung oder ausländische Einflussnahme mit ein. Der europäische Digital Service Act hat sich um solche Festlegungen herumgedrückt.
Lawful but harmful
Die digitale Öffentlichkeit, in die sich alle Menschen aktiv einbringen können, hat die Aura des arabischen Frühlings inzwischen weit hinter sich gelassen. Sie ist nicht mehr nur ein Segen, sondern auch ein chronischer Problemfall, für den es möglicherweise keine guten Antworten gibt. Der Ausdruck „lawful but harmful“ bringt die Dilemmata auf den Punkt, die der digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit mit sich gebracht hat. Damit gemeint sind Äußerungen, die durch den Schutz der Meinungsfreiheit gedeckt sind, aber Schaden für Einzelne und die Gesellschaft erzeugen. Beispiele dafür sind Anti-Impfkampagnen, der Widerstand gegen Schutzmasken oder das Werben für alternativer Heilmittel wie Hydroxychloroquin oder gar Bleichlauge während der Covid-Epidemie. Die Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Expertise ist zum beliebten Angriffsziel populistischer Politiker (es sind überwiegend Männer) geworden. Selbst wenn Kampagnen darauf zielen, demokratische Institutionen zu diskreditieren und, wie etwa im Falle von Hydroxychloroquin, nachweislich Schaden anrichten, lassen sie sich nicht ohne unerwünschte Nebenwirkungen für den demokratischen Staat aus der Welt schaffen. Wie kann sich eine Demokratie ihrer Gegner erwehren, ohne ihre Freiheitsversprechen zu verletzen? Das ist die Frage, auf die Yascha Mounks Essay keine Antwort gibt, weil er sie erst gar nicht wahrnimmt.
Welche Antworten auf grundsätzliches Dilemma der Demokratie?
Mounk hat vollkommen recht, wenn er sich in der Ablehnung staatlicher Zensur auf die Fehlbarkeit der Zensoren beruft. Weil Wissen grundsätzlich vorläufiger Natur ist und wir ohne ultimative Wahrheiten zurechtkommen müssen, kann ein demokratischer Staat seine Bürger:innen nicht auf korrekte Aussagen verpflichten. Im Gegenteil, er muss die Bedingungen schützen, die den öffentlichen Streit um das gute Leben in all seinen Details befördern. Besteht das einzig demokratiekonforme Mittel gegen extremistische und populistische Angriffe auf die Demokratie also in der Gegenrede? Aber was bedeutet das für den Umgang mit reichweitenstarken Formen der Inzivilität, mit den koordinierten Angriffen auf Journalisten, Politikerinnen und Wissenschaftlerinnen?
Im Grenzbereich der Täter-Opfer-Umkehr
Mounks Argumentation bewegt sich im Grenzbereich klassischer Täter-Opfer-Umkehr, wenn er suggeriert, dass Einschränkungen der Meinungsfreiheit die Polarisierung in der öffentlichen Diskussion verstärken. Polarisierung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sich Gegenspieler nicht mehr als legitime Konkurrierende betrachten, sondern als Feinde, die es politisch zu vernichten gilt. Behauptungen und affektive Begriffe treten an die Stelle von Begründungen. Ist die größere Präsenz von Hass, Verachtung und Wut im öffentlichen Raum nun auch eine Folge staatlich unterdrückter Meinungsfreiheit, wie Mounk spekuliert? Das Variety of Democracy Projekt schlägt in seinem diesjährigen Bericht eine andere Interpretation vor: Demnach ist überall dort eine zunehmende Polarisierung zu beobachten, wo autokratisierende Regierungen Desinformation verbreiten, um Misstrauen in demokratische Institutionen, darunter auch gegnerische Parteien, zu schüren: „Wenn Polarisierung hoch ist, sind Bürger:innen eher gewillt, demokratische Prinzipien für andere Interessen zurückzustellen“ (V‑Dem 2025: 38, eigene Übersetzung). Als Beispiele für diesen Zusammenhang werden das britische Brexit Votum und die US-Wahlen im Jahr 2016 genannt. Brasilien illustriert die umgekehrte Entwicklung: Strikte Maßnahmen gegen Desinformation während des Wahlkampfes trugen dazu bei, die Autokratisierung des Landes zu stoppen.
Auf eine kurze Formel gebracht, haben wir in den letzten zehn Jahren beobachten und lernen müssen, dass ein Mehr an Meinungsfreiheit, wie es das Internet ermöglicht hat, nicht zwingend auf ein Mehr an Demokratie hinausläuft. Die digitale Transformation der öffentlichen Sphäre hat Verletzlichkeiten der Demokratie offengelegt, gegen die sie sich nicht wirkungsvoll schützen kann, ohne ihre eigenen Grundsätze, ihre Legitimation zu gefährden. Von der Politikwissenschaft würde man sich Beiträge wünschen, die die Risiken anerkennen, die in diesem Dilemma stecken, statt mit dem Finger auf einzelne Länder zu zeigen.
[1] https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2025/uphill-battle-to-safeguard-rights
[2] Ich war in den 2010er Jahren zweimal Ko-Autorin des Freedom House Berichts für Deutschland und weiß daher, wovon ich spreche.
[3] https://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/digital-news-report/2023/unpacking-news-participation-online%20engagement-over-time
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