Debatte Meinungs­freiheit:
Keine Täter-Opfer-Umkehr! – Eine Antwort auf Yascha Mounk

„In Europa werden Menschen tatsächlich für ihre Meinung einge­sperrt“ betitelt Yascha Mounk seinen Essay. Jeanette Hofmann, Profes­sorin an der Freien Univer­sität mit den Schwer­punkten Digita­li­sierung und Demokratie wider­spricht und betont die Dring­lichkeit, Antworten zu finden auf das Dilemma, in dem sich Demokratie bewegt: Sich zu vertei­digen, ohne die eigenen Grund­sätze preiszugeben.

Unwill­kürlich schaut man auf das Veröf­fent­li­chungs­datum, um sich zu verge­wissern, dass der Text von Yascha Mounk tatsächlich aus dem April 2025 stammt und nicht doch ein, zwei Jahre älter ist. Im April mögen zwar noch nicht die Helikopter über die Columbia University geflogen sein, aber die Liste der verbo­tenen Begriffe, die laut der Verfügung 14151 des ameri­ka­ni­schen Präsi­denten künftig von der föderalen Forschungs­för­derung ausge­schlossen sind, lag zu diesem Zeitpunkt längst vor. Auch die ersten Verhaf­tungen von Studie­renden, die von ihren Rechten auf Versamm­lungs- und Meinungs­freiheit Gebrauch machten, hatte es schon gegeben.

Paral­lelen zu JD Vances Münchner Rede

Yascha Mounk zeigt mit dem Finger auf Deutschland und Großbri­tannien und lässt die Repres­sionen der ameri­ka­ni­schen Regierung unerwähnt. Darin erinnert sein Beitrag in verstö­render Weise an die Rede von JD Vance bei der Münchner Sicher­heits­kon­ferenz im Februar dieses Jahres.

Yascha Mounk ist diese Überein­stimmung durchaus bewusst. Am Ende seines Artikels kommt er auf die „Heuchelei“ von JD Vance zu sprechen, um dem erwart­baren Wider­spruch an seinem eigenen Beitrag mit dem Argument zu begegnen, dass das an der Kritik selbst nichts ändert. In diesem Punkt ist Mounk recht­zu­geben: Der Verweis auf das Glashaus, in dem man selbst sitzt, wäre angesichts der zuneh­menden Einschrän­kungen von Meinungs­freiheit diesseits wie jenseits des Atlantiks tatsächlich eine lahme Reaktion. Statt dem Reflex eines Whata­boutism nachzu­geben, ist es deshalb sinnvoller, das Argument des Autors auf seine Plausi­bi­lität abzuklopfen.

Indizes für Demokratie und Pressefreiheit

Werfen wir zunächst einen Blick auf die verfüg­baren Daten: Die dieses Jahr veröf­fent­lichten Berichte zur inter­na­tio­nalen Entwicklung der Demokratie, der Menschen­rechte, darunter insbe­sondere der Meinungs- und Presse­freiheit sprechen eine eindeutige Sprache. Seit rund 25 Jahren befinden sich Demokratien weltweit auf dem Rückzug. Gleich­zeitig nimmt die Zahl der autokra­ti­sie­renden Staaten stetig zu; derzeit sind es laut dem „Varieties of Democracy Project“ 45 (V‑Dem: https://v‑dem.net/). Das ist fast eine Vervier­fa­chung gegenüber den frühen 2000er Jahren. Im nächsten Jahr wird man auch die USA zu diesen Ländern zählen müssen. Zu den wichtigsten Indika­toren für den inter­na­tio­nalen Demokra­tie­verfall gehören Einschrän­kungen der Meinungs- und Presse­freiheit. Das V‑Dem Projekt stellt in seinem aktuellen Bericht fest, dass sich die Presse- und Meinungs­freiheit im Jahr 2024 in 44 Ländern verschlechtert hat, ein neuer Tiefpunkt gegenüber den Vorjahren. Tatsächlich gehören offene Zensur und infor­melle Formen der Behin­derung der Presse und der Meinungs­freiheit zu den wichtigsten Waffen im Arsenal der Autokraten.

Desin­for­ma­ti­ons­kam­pagnen als Heraus­for­derung für etablierte Medien

Ebenso wichtig ist Desin­for­mation von oben. In den letzten Jahren lässt sich ein beklem­mender Zusam­menhang zwischen dem Aufkommen politi­scher Lügen der politi­schen Elite, der Polari­sierung der öffent­lichen Sphäre und dem Verfall von Demokratien beobachten. Die Erhebungen der ameri­ka­ni­schen Organi­sation Freedom House bestä­tigen diese Trends. Demzu­folge hat sich die Zahl der Länder, in denen die unabhängige Bericht­erstattung vollständig zum Erliegen gekommen ist, in den letzten 20 Jahren fast verdrei­facht.[1] Für das vergangene Jahr lassen sich Angriffe auf die Medien für 120 Länder belegen. Nicht immer geht die Aggression von der Regierung aus, auch extre­mis­tische Bewegungen greifen Journa­lis­tInnen verbal wie auch physisch an. So berichtet die Organi­sation Reporter ohne Grenzen (RSF) über bewusst gestreute Zweifel an der Vertrau­ens­wür­digkeit der Presse in Deutschland durch populis­tische und extre­mis­tische Akteure. Insgesamt wird die Presse­freiheit in Deutschland jedoch als befrie­digend einge­stuft. Im Word Press Freedom Index rangiert Deutschland derzeit auf Platz 11, Großbri­tannien auf Platz 20, die USA auf Platz 57.

Europa konnte seinen Status als „freieste Region der Welt“ im Index von Freedom House halten, auch wenn es in vielen Ländern syste­ma­tische Verlet­zungen von Grund­rechten zu verzeichnen gibt. Die Bilanz von Deutschland ist gemischt. Während die Meinungs­freiheit im Allge­meinen gewahrt wird, hat die gesetzlich legiti­mierte Überwa­chung der Bürge­rInnen deutlich zugenommen. Der Freedom House Index gibt Deutschland 95 von 100 möglichen Punkten (Großbri­tannien 92, USA 84 Punkte).

Bei allen Vorbe­halten, die man gegenüber der Reprä­sen­ta­ti­vität und Neutra­lität quanti­ta­tiver Vermes­sungen demokra­ti­scher Zusam­men­hänge haben sollte[2], deuten die verschie­denen Studien doch daraufhin, dass es um die Meinungs- und Presse­freiheit Deutsch­lands im inter­na­tio­nalen Vergleich, sicherlich aber verglichen mit den USA, noch relativ gut steht. Es ist anzunehmen, dass das Gefälle zwischen (West-)Europa und den USA in den kommenden Jahren sogar zunehmen wird. Können wir uns also beruhigt zurück­lehnen? Das wäre wahrscheinlich eine fatale Fehlein­schätzung der Situation.

USA: Blaupause für Europa?

Seit geraumer Zeit entwi­ckeln autokra­tische Regie­rungen Blaupausen für den Demokra­tie­abbau, damit sie von gleich­ge­sinnten Kolleg:innen andernorts imitiert werden können. Dies betrifft neben dem Umbau von Verfas­sungen und Verfas­sungs­ge­richten etwa Einschüch­te­rungen der unabhän­gigen Presse, Eingriffe in die Wissen­schafts­freiheit, versuchten Legiti­ma­ti­ons­entzug gegenüber Gerichten, Richter:innen und Anwalts­firmen, aber auch diverse Beloh­nungs­systeme für persön­liche Loyalität, die zur Korruption einladen. Die an Dramatik gewin­nenden Verlet­zungen rechts­staat­licher Normen und Verfahren führen ja nicht nur vor Augen, wie fragil und verletzlich die vor kurzem noch als unerschüt­terlich erach­teten demokra­ti­schen Insti­tu­tio­nen­gefüge sind, sie lassen auch erahnen, was uns in wenigen Jahren in Deutschland nach einem weiteren Regie­rungs­wechsel bevor­stehen könnte. Das momentane Gefälle zwischen dem Zustand der Meinungs- und Presse­freiheit in Europa und den USA gibt folglich keinen Anlass zu Triumph­ge­fühlen, es jagt einem eher einen Schauer über den Rücken angesichts der Entwick­lungen, die mögli­cher­weise vor uns liegen. Was, wenn die Zerstörung der Demokratie in den USA zur Blaupause für eine künftige Regierung hierzu­lande wird?

Natio­na­li­sieren von Problemen

Das Problem von Yascha Mounks Essay besteht nicht darin, dass er Einzel­fälle verall­ge­meinert oder den Eindruck erzeugt, dass man in Deutschland jederzeit damit rechnen muss, ins Gefängnis geworfen zu werden, wenn man von seinem Recht auf Meinungs­freiheit Gebrauch macht. Das Problem besteht darin, dass er die zuneh­menden recht­lichen, techni­schen und sozialen Beschrän­kungen des öffentlich Sagbaren in mehr und mehr Demokratien gewis­ser­maßen natio­na­li­siert und perso­na­li­siert, also mit dem Finger auf Europa, vor allem aber auf Deutschland, Großbri­tannien, Nancy Faeser und Robert Habeck zeigt. Der großräumige Zerfall demokra­ti­scher Freiheits­ver­sprechen und ‑garantien, der sich darin ausdrückt, bleibt unerwähnt. Unerwähnt bleibt auch das offen­kundige Paradox einer grassie­renden Beschränkung von Infor­ma­tions- und Meinungs­frei­heiten ausge­rechnet in einer Zeit, in der die medialen Voraus­set­zungen für eine breite, demokra­tische gesell­schaft­liche Verstän­digung so gut wie nie zuvor sind. Das Internet und die Platt­form­tech­no­logie haben die Hürden für horizontale soziale Kommu­ni­ka­ti­ons­be­zie­hungen in den letzten 20 Jahren erheblich gesenkt. Weshalb nehmen unter solchen Bedin­gungen Überwa­chung, Verfolgung und Bestrafung zu?

Yascha Mounks Kritik bezieht sich allein auf das Handeln der Regie­rungen. Brüssel, Berlin und London erscheinen als derart übermächtig, dass selbst die sozialen Netzwerke, die ihrer­seits zu unver­zicht­baren und mächtigen Infra­struk­turen öffent­licher Kommu­ni­kation geworden sind, als arme Opfer erscheinen. Hier hätte man sich mehr Nuancierung, mehr Sensi­bi­lität für die politi­schen Zielkon­flikte und die außer­or­dentlich vielschich­tigen Dilemmata gewünscht, die die digitale Kommu­ni­kation in den letzten 20 Jahren produ­ziert hat.

Unter­schied­liche recht­liche Tradi­tionen in USA und Europa

Zwischen den USA und Europa besteht seit langem ein wechsel­sei­tiges Unver­ständnis für die jewei­ligen Ausle­gungen und Grenz­zie­hungen hinsichtlich des Grund­rechts auf Meinungs­freiheit. Während es aus ameri­ka­ni­scher Sicht nicht nachvoll­ziehbar ist, warum etwa die Leugnung des Holocausts in vielen europäi­schen Ländern ein (weithin akzep­tierter) Straf­tat­be­stand ist, hat man in Europa Mühe zu verstehen, dass in den USA selbst grobe Belei­di­gungen oder Verleum­dungen verfas­sungs­rechtlich geschützt sind. Der fünfte Artikel des Grund­ge­setzes und das First Amendment der ameri­ka­ni­schen Verfassung fremdeln mitein­ander; sie reprä­sen­tieren – und normieren – verschiedene ethische Welten. Die unter­schied­lichen recht­lichen Tradi­tionen befeuern auch Mounks Kritik. Ganz im Einklang mit der ameri­ka­ni­schen Lesart wertet er die deutschen Beschrän­kungen der Meinungs­freiheit als „schockierend streng“. Selbst wenn man die bestehenden natio­nalen Unter­schiede in Rechnung stellt, bleibt die JD Vance-artig zugespitzte Opfer-Täter-Konstel­lation seines Textes ein Rätsel.

„Jagd auf Kritiker“ oder Schutz vor orches­trierter Gewalt und Extremismus?

Die briti­schen und deutschen Opfer von Zensur und Straf­ver­folgung, an deren Geschichte uns Mounk exempla­risch teilhaben lässt, sind offen­kundig harmlose, unschuldige Zeitgenoss:innen. Da ist die im Alter fortge­schrittene Klavier­leh­rerin der Musik­schule, die den Mittel­finger hochstreckt; der Rentner, der den früheren Wirtschafts­mi­nister Habeck in satiri­scher Weise als Schwachkopf bezeichnet und daraufhin eine Hausdurch­su­chung über sich ergehen lassen muss; die briti­schen Eltern, die in einer geschlos­senen WhatsApp-Gruppe Verfah­rens­fragen bezüglich der Auswahl der Schul­leiters aufwerfen und prompt von der Polizei abgeholt werden; die schot­tische Großmutter und schließlich sogar ein autis­ti­scher Teenager. Sie alle, das verdeut­lichen diese Beispiele, sind aufrechte Bürge­rinnen und Bürger, die, weil sie ihre Meinung gesagt haben, Schikanen durch Polizei und staat­liche Zensur erfahren haben. Diesen Opfern gegenüber stellt Mounk Politiker:innen, die “Jagd auf Kritiker“ machen. Selbst wenn jeder einzelne dieser Fälle sich genauso zugetragen hat, stellt sich die Frage, ob sich aus dieser Verteilung von Opfer- und Täter­rollen eine zutref­fende Gesamt­schau der Situation ergibt.

Wer einmal eine mediale Hetzkam­pagne beobachtet hat oder gar selbst davon betroffen war, weiß, dass im öffent­lichen Raum nicht nur empörte Klavier­leh­re­rinnen und ungeschulte Polizist:innen unterwegs sind. Vor allem am extre­mis­ti­schen Rand der Gesell­schaft formiert sich verbale und visuelle Gewalt, die vorzugs­weise margi­na­li­sierte Gruppen und Anders­den­kende bedroht. Organi­sierte Shits­torms, Hassrede und Hetzkam­pagnen richten sich gegen Journa­lismus und Wissen­schaft, aber auch gegen die Kommu­nal­po­litik, vor allem, wenn sie sich mit affektiv aufge­la­denen Themen wie Migration oder Geschlech­ter­fragen beschäf­tigen. Anonyme Gewalt­an­dro­hungen gegen die eigene Person oder die Familie zielen darauf, Menschen einzu­schüchtern. Die Betrof­fenheit ist asymme­trisch, Frauen erwischt es öfter als Männer, in der Politik trifft es eher progressive als konser­vative Parteien. Der öffent­liche Raum nimmt an manchen Orten eine toxische Qualität an. Dazu gehört nicht zuletzt das soziale Netzwerk X, das eine recht eigen­willige Inter­pre­tation der Meinungs­freiheit feiert, seit Elon Musk dort das Sagen hat. Die Recht­spre­chung in Deutschland zu „Hasskri­mi­na­lität“ ist übrigens weit weniger einheitlich als Mounks Essay nahelegt. Während die Bezeichnung von Robert Habeck als „Schwachkopf“ tatsächlich zu einer Hausdurch­su­chung führte, ist das Nazi-Etikett „Volks­schädling“ für Olaf Scholz straffrei geblieben. Nicht alle Leute lässt das aufatmen. Im Gegenteil, für die Betrof­fenen ist die arbiträre Recht­spre­chung bedrückend.

Rückzug aus sozialen Medien als „Hölle toxischer, unzivi­li­sierter Inhalte“

Im Ergebnis entstehen weiträumige Chilling Effekte, die den öffent­lichen Diskurs auskühlen. Das in Oxford ansässige Reuters Institute beobachtet seit Jahren einen Rückzug aus der digitalen öffent­lichen Sphäre.[3] Die Praxis des öffent­lichen Teilens und Kommen­tierens von Nachrichten geht zurück; statt­dessen findet die politische Debatte in geschlos­senen Räumen via Messa­gingapps statt. Während Yascha Mounk diese Entwicklung vermutlich staat­licher Zensur anlasten würde, hebt das Reuters Institute hervor, dass es bislang keine gute Erklärung dafür gibt, aber der Ruf der sozialen Netzwerke als „Hölle toxischer, unzivi­li­sierter Inhalte“ vermutlich eine Rolle spielt. Viele Menschen hätten den Eindruck gewonnen, dass man im digitalen Raum inzwi­schen Vorsicht bei öffent­lichen Äußerungen über politi­schen Themen angebracht ist. Aus eigener Erfahrung würde ich das bestä­tigen. Man ist heute gut beraten, selbst kurze Kommentare auf mögliche Missver­ständ­nisse und Angriffs­flächen hin zu prüfen. Denn wer sich sichtbar und womöglich kontrovers öffentlich äußert, lebt gefährlich und muss mit persön­lichen Angriffen rechnen. Die Platt­formen, die das Phänomen der Many-to-Many Kommu­ni­kation und der nutzer­ge­ne­rierten Inhalte technisch erst möglich gemacht und in die Breite getragen haben, sind mitver­ant­wortlich für diese Situation. Die abneh­mende Meinungs­freiheit kommt folglich nicht nur per Gesetz von oben, sie kommt auch von unten und von der Seite, aus der Infra­struktur. Entspre­chend ist die Situation viel verwor­rener und unüber­sicht­licher als uns Yascha Mounks Beispiele unschul­diger Bürger:innen glauben machen wollen.

Soziale Netzwerke als Macht­in­stru­mente des öffent­lichen Diskurses

Die Platt­formen sind keineswegs nur Opfer von staat­lichen Restrik­tionen, wie Mounk sugge­riert. Anders als man denken könnte, inter­pre­tieren die großen Platt­formen Meinungs­freiheit nicht im Sinne der ameri­ka­ni­schen Verfassung. Mithilfe ihrer Gemein­schafts­stan­dards und ‑richt­linien, eine Form der privaten Regulierung, filtern sie Inhalte und struk­tu­rieren in zuneh­mendem Maße die öffent­liche Diskussion. Weil soziale Netzwerke mittler­weile eine solch große Macht über Sicht­barkeit und Unsicht­barkeit im öffent­lichen Diskurs ausüben, verpflichtet der Digital Service Act (DAS) sie nun zu größerer Trans­parenz. Künftig müssen sie die Zwecke und Regeln der Moderation von Inhalten offen­legen. Sofern sie den Infor­ma­ti­ons­fluss mit Empfeh­lungs­al­go­rithmen steuern, bekommen die Nutzenden nun ein Anrecht auf Alter­na­tiven, so dass sie selbst wenigsten mitbe­stimmen können, welche Beiträge angezeigt werden. Es ist ein, für den ameri­ka­ni­schen Blick auf die EU, nicht untypi­sches Missver­ständnis, europäische Platt­form­re­gu­lierung als bloße Schikane abzuqua­li­fi­zieren. Ja, der Europäische Digital Service Act (DAS) schränkt die Meinungs­freiheit ein. Illibe­ralen Demokratien wie Ungarn liefert er neue Instru­mente, um politisch unerwünschte Stimmen rechtlich mundtot zu machen. Zugleich unter­nimmt der DSA aber auch wichtige erste Schritte, um die Kommu­ni­ka­tions- und Markt­macht der Platt­formen zu bändigen und die Rechte der Nutzenden zu stärken. Was uns Mounk vorenthält ist, dass der US ameri­ka­nische Staat New York im vergan­genen Jahr ähnliche Maßnahmen ergriffen hat. Das „Stop Hiding Hate“ Gesetz sieht vor, dass Platt­formen künftig ihre Regeln zur Moderation von Inhalten, einschließlich ihrer Politik gegenüber Hassrede offen­legen müssen. Inter­es­san­ter­weise schließt das auch die Definition der einschlä­gigen Filter­ge­gen­stände, also Rassismus, Desin­for­mation, Beläs­tigung oder auslän­dische Einfluss­nahme mit ein. Der europäische Digital Service Act hat sich um solche Festle­gungen herumgedrückt.

Lawful but harmful

Die digitale Öffent­lichkeit, in die sich alle Menschen aktiv einbringen können, hat die Aura des arabi­schen Frühlings inzwi­schen weit hinter sich gelassen. Sie ist nicht mehr nur ein Segen, sondern auch ein chroni­scher Problemfall, für den es mögli­cher­weise keine guten Antworten gibt. Der Ausdruck „lawful but harmful“ bringt die Dilemmata auf den Punkt, die der digitale Struk­tur­wandel der Öffent­lichkeit mit sich gebracht hat. Damit gemeint sind Äußerungen, die durch den Schutz der Meinungs­freiheit gedeckt sind, aber Schaden für Einzelne und die Gesell­schaft erzeugen. Beispiele dafür sind Anti-Impfkam­pagnen, der Wider­stand gegen Schutz­masken oder das Werben für alter­na­tiver Heilmittel wie Hydro­xychlo­roquin oder gar Bleich­lauge während der Covid-Epidemie. Die Glaub­wür­digkeit wissen­schaft­licher Expertise ist zum beliebten Angriffsziel populis­ti­scher Politiker (es sind überwiegend Männer) geworden. Selbst wenn Kampagnen darauf zielen, demokra­tische Insti­tu­tionen zu diskre­di­tieren und, wie etwa im Falle von Hydro­xychlo­roquin, nachweislich Schaden anrichten, lassen sie sich nicht ohne unerwünschte Neben­wir­kungen für den demokra­ti­schen Staat aus der Welt schaffen. Wie kann sich eine Demokratie ihrer Gegner erwehren, ohne ihre Freiheits­ver­sprechen zu verletzen? Das ist die Frage, auf die Yascha Mounks Essay keine Antwort gibt, weil er sie erst gar nicht wahrnimmt.

Welche Antworten auf grund­sätz­liches Dilemma der Demokratie?

Mounk hat vollkommen recht, wenn er sich in der Ablehnung staat­licher Zensur auf die Fehlbarkeit der Zensoren beruft. Weil Wissen grund­sätzlich vorläu­figer Natur ist und wir ohne ultimative Wahrheiten zurecht­kommen müssen, kann ein demokra­ti­scher Staat seine Bürger:innen nicht auf korrekte Aussagen verpflichten. Im Gegenteil, er muss die Bedin­gungen schützen, die den öffent­lichen Streit um das gute Leben in all seinen Details befördern. Besteht das einzig demokra­tie­kon­forme Mittel gegen extre­mis­tische und populis­tische Angriffe auf die Demokratie also in der Gegenrede? Aber was bedeutet das für den Umgang mit reich­wei­ten­starken Formen der Inzivi­lität, mit den koordi­nierten Angriffen auf Journa­listen, Politi­ke­rinnen und Wissenschaftlerinnen?

Im Grenz­be­reich der Täter-Opfer-Umkehr

Mounks Argumen­tation bewegt sich im Grenz­be­reich klassi­scher Täter-Opfer-Umkehr, wenn er sugge­riert, dass Einschrän­kungen der Meinungs­freiheit die Polari­sierung in der öffent­lichen Diskussion verstärken. Polari­sierung bedeutet in diesem Zusam­menhang, dass sich Gegen­spieler nicht mehr als legitime Konkur­rie­rende betrachten, sondern als Feinde, die es politisch zu vernichten gilt. Behaup­tungen und affektive Begriffe treten an die Stelle von Begrün­dungen. Ist die größere Präsenz von Hass, Verachtung und Wut im öffent­lichen Raum nun auch eine Folge staatlich unter­drückter Meinungs­freiheit, wie Mounk speku­liert? Das Variety of Democracy Projekt schlägt in seinem diesjäh­rigen Bericht eine andere Inter­pre­tation vor: Demnach ist überall dort eine zuneh­mende Polari­sierung zu beobachten, wo autokra­ti­sie­rende Regie­rungen Desin­for­mation verbreiten, um Misstrauen in demokra­tische Insti­tu­tionen, darunter auch gegne­rische Parteien, zu schüren: „Wenn Polari­sierung hoch ist, sind Bürger:innen eher gewillt, demokra­tische Prinzipien für andere Inter­essen zurück­zu­stellen“ (V‑Dem 2025: 38, eigene Übersetzung). Als Beispiele für diesen Zusam­menhang werden das britische Brexit Votum und die US-Wahlen im Jahr 2016 genannt. Brasilien illus­triert die umgekehrte Entwicklung: Strikte Maßnahmen gegen Desin­for­mation während des Wahlkampfes trugen dazu bei, die Autokra­ti­sierung des Landes zu stoppen.

Auf eine kurze Formel gebracht, haben wir in den letzten zehn Jahren beobachten und lernen müssen, dass ein Mehr an Meinungs­freiheit, wie es das Internet ermög­licht hat, nicht zwingend auf ein Mehr an Demokratie hinaus­läuft. Die digitale Trans­for­mation der öffent­lichen Sphäre hat Verletz­lich­keiten der Demokratie offen­gelegt, gegen die sie sich nicht wirkungsvoll schützen kann, ohne ihre eigenen Grund­sätze, ihre Legiti­mation zu gefährden. Von der Politik­wis­sen­schaft würde man sich Beiträge wünschen, die die Risiken anerkennen, die in diesem Dilemma stecken, statt mit dem Finger auf einzelne Länder zu zeigen.

 

[1] https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2025/uphill-battle-to-safeguard-rights

[2] Ich war in den 2010er Jahren zweimal Ko-Autorin des Freedom House Berichts für Deutschland und weiß daher, wovon ich spreche.

[3] https://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/digital-news-report/2023/unpacking-news-participation-online%20engagement-over-time

 

Textende

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