Der Tag danach: Welche Chancen hat Gaza?
Eine Zweistaatenlösung ist wohl ebenso alternativlos wie unrealistisch, zumindest in naher Zukunft. Welche Voraussetzungen erfüllt sein müssten und warum nicht nur die Regierung Netanyahus an einer solchen Lösung kein Interesse hat – der Kommentar von Richard C. Schneider.
Ok, Netanyahu hat es wieder getan. Er hat allen seinen Kritikern eine Abfuhr erteilt. Er ist und bleibt unwillig, irgendwelche Pläne für Gaza zu entwickeln, für den sogenannten „Tag danach“, wenn also – irgendwann – der Krieg dort vorbei sein wird. Und er sagte es noch einmal deutlich, er sei nicht bereit „Hamastan“ gegen „Fatahstan“ auszutauschen, mit anderen Worten: er ist nicht bereit, die Palästinensische Autonomiebehörde nach Gaza zu holen, falls Israel es gelingen sollte, die Hamas wirklich auszuschalten.
Diese Verweigerungshaltung ist seinem Trieb geschuldet, die eigene Macht zu erhalten, und das geht nur mit seinen rechtsextremen Koalitionspartnern Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich, die sogar die Vertreibung der Palästinenser aus Gaza und die Wiederansiedlung von Juden im Gazastreifen fordern.
Unterdessen fliegt Jake Sullivan, einer der engsten Mitarbeiter von US-Präsident Joe Biden im Nahen Osten herum, um die Friedensvision der USA voranzutreiben: Einen Pakt zwischen Saudi-Arabien, den USA und Israel, gemeinsam mit den arabischen Staaten, die bereits im Abraham-Abkommen mit Israel kooperieren, sowie Jordanien und Ägypten, die seit Jahrzehnten Friedensverträge mit Israel haben. Die Saudis sind zu allem bereit. Aber sie brauchen das Ja-Wort Netanyahus, diesen einfachen Satz, dass er für die Zwei-Staaten-Lösung ist. Doch der Satz kommt nicht. Zum einen, weil Netanyahu ein Gegner eines palästinensischen Staates ist, zum anderen, weil so ein Satz sein sicheres politisches Ende bedeuten würde. Die Rechtsextremisten würden aus der Koalition aussteigen und damit wäre Netanyahu Geschichte.
Und wie kann es wirklich weitergehen?
Diejenigen, die konstruktiv sein wollen, haben ein klares Szenario: Den Pakt zwischen Israel und Saudi als Incentive für Jerusalem, um Gaza an die Palästinensische Autonomiebehörde zu übergeben. Wie vorteilhaft das für Israel sein könnte, konnte man im April sehen, als der Iran mehr als 300 Drohnen, Raketen und Cruise Missiles auf Israel abfeuerte und Saudis, Jordanier, Amerikaner und Israelis gemeinsam die Angriffe abwehrten, mit Hilfe auch der Frühwarnsysteme in den Emiraten.
Doch vergessen wir für einen Moment Netanyahu. Nehmen wir an, es gäbe in Israel eine politische Führung, die versucht mit einer Vision die Politik von morgen zu gestalten. Sagen wir, Jerusalem wäre für die Zwei-Staaten-Lösung und die Rückkehr der PA nach Gaza, von wo sie die Hamas 2007 in einem grauenvollen, brutalen Bürgerkrieg vertrieben hatte.
Wie soll das eigentlich funktionieren? Die PA ist korrupt, sie hat einen greisen und erratischen Führer – Präsident Mahmud Abbas – der aufgrund seines Alters und seiner Krankheit mit Sicherheit kein Mann der Zukunft ist. Wer aber könnte ihn beerben? Wer wäre da, um die Einheit der Palästinenser zu garantieren? Ein Politiker mit Vision, mit Charisma und mit Weitblick? Jibril Rajoub? Mohammed Dahlan? Namen, die man immer wieder hört, doch es darf angezweifelt werden, dass sie oder andere, die derzeit genannt werden, tatsächlich in der Lage wären, die Palästinenser zu einen. So hört man dann immer wieder einen Namen: Marwan Barghouti, der Tanzim-Führer von einst, der seit Jahrzehnten im israelischen Gefängnis sitzt. Er ist wahrlich kein Nelson Mandela, aber ihm wird zugetraut, die Palästinenser, wie einst Mandela in Südafrika, zu einen. Seine Autorität zweifelt niemand an, zumindest nicht, solange er im Knast sitzt.
Werden die Israelis ihn rauslassen? Schwer zu glauben, doch selbst wenn – wird Barghouti in der Lage sein, die Erwartungen an ihn zu erfüllen? Und selbst wenn – wie soll dann die Zukunft Gazas aussehen? Werden die moderaten arabischen Staaten bereit sein, unter der Führung der PA echte Verantwortung in Gaza zu übernehmen, bis hin zu einem robusten militärischen Mandat? Im Augenblick winken alle ab, von den Ägyptern angefangen bis zu den Saudis. Denn das würde auch bedeuten, mit den Israelis wirklich eng zusammenzuarbeiten, in aller Öffentlichkeit. Dafür aber bedürfte es einer israelischen Regierung, mit der man sich als arabischer Staat sehen lassen kann!
Und selbst wenn das alles denkbar wäre, selbst wenn man sich eine ideale Situation vorstellen möchte – wie soll das gehen, solange die Hamas irgendwie noch existiert und ihre Ansprüche nicht aufgibt? Würde das nicht bedeuten, dass Israel die Hamas wirklich „vollständig besiegen“ muss, wie Netanyahu immer wieder erklärt? Würde die Hamas die PA und andere Akteure (natürlich auch die USA und Israel) in Gaza wirklich „zulassen“? Oder muss man nicht Terrorakte gegen Verwaltungspersonal, Soldaten, Politiker befürchten?
Wäre es also wirklich möglich, den Gaza-Streifen nach den Vorstellungen der USA neu aufzubauen? Das Konzept ist sicher gut und richtig und wahrscheinlich auch die einzig mögliche Option für die Zukunft von rund 2,5 Millionen Menschen in Gaza. Aber dazu braucht es wohl tatsächlich Voraussetzungen, die man sich im Augenblick nicht vorstellen kann:
- Das Ende Netanyahus
- Das Ende der Hamas
- Einen wirklich charismatischen palästinensischen Führer
- Arabische Staaten, die bereit sind, echte Verantwortung zu übernehmen
- Geldgeber, die soviel Hilfe bereitstellen, dass der Gaza-Streifen schnellstens wieder aufgebaut werden kann
- Einen amerikanischen Präsidenten auch nach November 24, der seine Autorität und sein Gewicht in diesen Friedensprozess legen würde und könnte
- Eine EU, die abgesehen von Vorwürfen, Anschuldigungen und dem üblichen „We are highly concerned“-Phrasen echte Hilfe leisten in Gaza. Und das bedeutet nicht nur Geldgeber zu sein, sondern auch mit Truppen und sehr viel Know-How vor Ort zu helfen. Übrigens: auch Israel zu helfen.
Denn ja, auch das wird nötig sein: Den Israelis zu helfen, diese Entwicklungen in Gaza zuzulassen nach dem 7. Oktober. Das Misstrauen, das Trauma und der Hass sind in Israel so stark und schlimm wie noch nie. Die westlichen Partner müssten den Israelis viele Anreize anbieten, das Wagnis einzugehen, den Palästinensern etwas zu geben. Der Pakt mit den Saudis allein wird nicht reichen. Angesichts des explodierenden Antisemitismus in Europa müssten die europäischen Regierungen darüber hinaus in ihren eigenen Ländern dafür sorgen, dass Judenhass in der momentan vorherrschenden Form wirklich geahndet wird.
Last but not least – wenn man all die Voraussetzungen für eine Lösung anschaut, wie sie auf dem Tisch liegt, kann man dann allzu viel Hoffnung für die Zukunft haben? Die klare Antwort in Kenntnis des Nahen Ostens wäre: NEIN. Aber es gibt keine Alternative. Man muss es versuchen. Aber bis man die Schritte dazu einleiten kann, wird es noch lange dauern. Solange Netanyahu an der Macht ist, geht gar nichts. Und solange Yahiye Sinwar in seinem Tunnel sitzt und von da das Schicksal Gazas bestimmt, erst recht nicht.
Es ist ein langer Weg. Und wer die Geschichte vom Frosch und dem Skorpion kennt, weiß, dass der Nahe Osten schon immer besonders geschickt war, seine eigenen Chancen wider besseres Wissen selbst zu zerstören.
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