Die Zukunft der Luftfahrt: Die Ukraine ist bereit zum Abheben
Trotz des Krieges ist die Ukraine entschlossen, ihre Luftfahrtindustrie wieder aufzubauen und den Menschen das Reisen mit dem Flugzeug wieder zu ermöglichen. Am 8. Mai haben wir mit europäischen und ukrainischen Expert/innen über die Zukunft der ukrainischen Luftfahrtindustrie diskutiert. Am dringendsten benötigt werden: Schulungen für das Personal, finanzielle Unterstützung sowie Luftabwehrsysteme und Munition. Lukas Daubner hat die Ergebnisse der Diskussion zusammengefasst.
Ukrainische Expertinnen und Experten stellten bei der Diskussionsveranstaltung Die Zukunft des ukrainischen Luftfahrtsektors die aktuelle Situation dar. Wir danken für spannende Inputs und aufschlussreiche Diskussionen: Yurii Kisiel, Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und Infrastruktur, Werchowna Rada der Ukraine (Rada), Yulia Klymenko, stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Verkehr und Infrastruktur, Rada, Petro Pavlovsky, Leiter des Unterausschusses für Luftfahrt, Rada, Serhiy Derkach, stellvertretender Minister für Gemeinden, Territorien und Infrastrukturentwicklung der Ukraine, Oleksandr Bilchuk, Leiter der Staatlichen Luftfahrtverwaltung der Ukraine, Oleksii Dubrevskyi, CEO des Internationalen Flughafens Boryspil, Tetiana Romanovska, CEO des Internationalen Flughafens Lviv Danylo Halytskyi, Viktor Konarev, Leiter der Abteilung für Marketing- und Vertrieb beim Staatsunternehmen Antonov.
Von deutscher und internationaler Seite nahmen Vertreterinnen und Vertreter des Bundesverbandes der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie, des Bundesverbandes der Deutschen Luftverkehrswirtschaft, des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz, des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, von Airbus und Boeing sowie weiterer Unternehmen teil.
Am 8. Februar 2024 wurden weltweit 16.000 zivile Flüge registriert. In der Ukraine waren es an diesem Tag – wie an jedem anderen Tag seit dem 24. Februar 2022 – null. Das ist schmerzlich für eine stolze Luftfahrtnation. Die Ukraine ist immerhin eines von neun Ländern weltweit mit einem vollständigen Entwicklungszyklus von Flugzeugen.
Die Luftfahrtindustrie der Ukraine
Charkiw war früher das industrielle Zentrum der ukrainischen Luftfahrtindustrie. Dort befanden sich die Staatliche Flugzeugbaugesellschaft Charkiw und die Nationale Universität für Luft- und Raumfahrt, an der Ingenieure und andere Fachleute ausgebildet werden. Der Luftfahrtsektor war ein wichtiger Wirtschaftszweig. Vor 2022 beschäftigten allein die Flughäfen 200.000 Menschen und erwirtschafteten einen Jahresumsatz von 2,5 Milliarden Euro.
Gleich zu Beginn des russischen Angriffskriegs wurde die berühmte Antonov AN-225 („Mriya“) – eines der größten Frachtflugzeuge der Welt – in Hostomel, der Heimatbasis von Antonov, zerstört. Die Antonov-Produktionsstätte in Kyjiw wurde ebenfalls schwer beschädigt.
Antonov konnte einen Teil seiner Flotte vor der russischen Zerstörung retten. Die Flugzeuge sind nun am Flughafen Leipzig/Halle stationiert und werden dort regelmäßig eingesetzt. Damit erwirtschaften sie nicht nur dringend benötigtes Kapital, sondern es können dort auch die Besatzungen trainiert werden.
Aufgrund der Schäden durch russische Angriffe sind viele Flughäfen derzeit nicht betriebsbereit. Die drei größten und modernsten Flughäfen des Landes – Boryspil (Kiew), Lviv und Odessa – sind jedoch betriebsbereit.
Die Flughafenbetreiber versuchen, die Flughäfen betriebsbereit zu halten
Die Flughafenbetreiber bemühen sich, die Flughäfen trotz des andauernden Krieges weiter betriebsbereit zu halten. Ziel ist es, Flüge anbieten zu können, sobald der Luftraum offen ist. Dies ist nicht nur wichtig, um Investoren in das Land zu locken. Mehr als 12 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben das Land verlassen und wollen, wenn es die Lage erlaubt, in ihre Heimat zurückkehren oder zumindest Freunde und Familie besuchen. Derzeit ist die einzige Möglichkeit, in das Land zu gelangen, eine lange Reise mit dem Auto oder dem Zug.
Um die Funktionsfähigkeit der Flughäfen aufrechtzuerhalten, muss nicht nur die Flughafenbelegschaft ständig geschult werden, sondern auch die Verantwortlichen für die Luftsicherheit. Da kein Flugbetrieb stattfindet, und daher keine Einnahmen erzielt werden können, ist die finanzielle Lage der Flughäfen sehr schwierig.
Eine der größten Herausforderungen neben der Wiederherstellung der Infrastruktur ist daher der Erhalt des „Humankapitals“ der Branche, der Flughäfen und der Fluggesellschaften: Wie kann zumindest die Stammbelegschaft gehalten, ausgebildet und weiterqualifiziert werden? Wenn dieses Potenzial verloren geht, wird der Wiederaufbau kaum Schwung entwickeln. Dieses Problem betrifft nicht nur die Luftfahrtindustrie, sondern auch andere Branchen.
Westliche Partner der Ukraine könnten hier neben finanzieller Unterstützung in Form von Darlehen oder Direkthilfen und konkreten Industriepartnerschaften auch bei der Ausbildung der Arbeitskräfte helfen.
Pragmatismus und Drohnenproduktion
Antonov versucht auch im dritten Kriegsjahr, sich weiter über Wasser zu halten. Rund 9.000 Menschen sind dort noch beschäftigt. Antonov bietet den gesamten Zyklus von der Entwicklung über die Produktion bis hin zum Kundendienst an. Das Unternehmen spielt auch eine wichtige Rolle bei der Produktion von Drohnen sowie bei der Instandhaltung der noch funktionsfähigen Flugzeuge der ukrainischen Luftwaffe.
Die Ukraine ist inzwischen zwangsläufig zu einem Kompetenzzentrum für Drohnentechnologie geworden – dies könnte in Zukunft auch ein ziviler und militärischer Exportzweig sein. Eine enge Zusammenarbeit mit westlichen Unternehmen würde auch zu einem Entwicklungsschub dieser Technologie in Europa führen.
Strategische Partnerschaften mit europäischen Luft- und Raumfahrtunternehmen
Antonov strebt langfristige strategische Partnerschaften mit europäischen Luft- und Raumfahrtunternehmen an und soll Teil der europäischen Luft- und Raumfahrtgemeinschaft werden. Derzeit ist Antonov auf der Suche nach Partnern und Investoren für den Wiederaufbau des Flughafens und der Flugtestbasis in Hostomel.
Grundsätzlich ist der Wiederaufbau der ukrainischen (Luftfahrt-)Industrie ein lukratives Geschäft für westliche Unternehmen. Dies gilt nicht nur für die Zusammenarbeit mit Fluggesellschaften oder Flugzeug- und Drohnenherstellern, sondern auch für den Wiederaufbau von Flughäfen.
Den Flugbetrieb wieder aufnehmen, noch bevor der Krieg zu Ende ist
In den ersten Monaten des Krieges war das Leitszenario, dass der Flugbetrieb wieder aufgenommen wird, sobald der Krieg vorbei ist. Jetzt arbeiten die ukrainischen Behörden mit internationalen Luftfahrtbehörden und Versicherern an der teilweisen Wiederaufnahme des zivilen Flugverkehrs vor Kriegsende, ähnlich wie bei der Wiederaufnahme des Seeverkehrs.
Vergleichbar zur Situation in Israel soll der Luftraum trotz der anhaltenden Bedrohung durch russische Raketen und Kampfjets wieder teilweise geöffnet werden.
Dieser Schritt wäre von enormer, auch psychologischer, Bedeutung. Neben der Angleichung der ukrainischen Anforderungen an europäische Standards wäre die wichtigste Voraussetzung dafür eine deutliche Stärkung der ukrainischen Luftverteidigung. Erst wenn die Lufthoheit zurückgewonnen ist, kann die Öffnung des ukrainischen Luftraums für zivile Flüge in Betracht gezogen werden.
Die Ukraine ist entschlossen, ihre Luftfahrtindustrie wieder aufzubauen und ihren Bürgerinnen und Bürgern das Reisen mit dem Flugzeug wieder zu ermöglichen. Um eine weitere Zerstörung der Infrastruktur zu verhindern und langfristig den Luftverkehr wieder zu ermöglichen, braucht die Ukraine die Mittel, um die russische Aggression zu bekämpfen. Neben Waffen und Munition bedeutet dies vor allem eine ausreichende Luftabwehr.
Die Diskussionsteilnehmenden waren sich einig: Die Ukraine ist bereit, den Flugverkehr wieder aufzunehmen. Der Westen muss sie bei diesem Vorhaben unterstützen.
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