Ein Mehr für unsere Sicherheit! – Zur Stationierung von US-Waffen in Deutschland
Am Rande des NATO-Gipfels in Washington im Juli 2024 vereinbarten Deutschland und die USA, erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges, wieder landgestützte US-Waffensysteme in Deutschland zu stationieren. Aber anstatt diese Stärkung des US-Engagements in Europa einhellig zu begrüßen, wird in Deutschland eine beinahe absurde Debatte über vermeintliche Risiken und mögliche Provokationen Russlands geführt, wie Gerlinde Niehus in ihrer Analyse erörtert.
Der strategische Kontext: Späte Einsicht in neue Realitäten
Das Strategische Konzept der NATO von 2022 stellt fest, dass die „Russische Föderation (…) die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum“ ist. Diese Einordnung ist in einer Linie mit der neuen Militärischen Strategie der NATO von 2019 und dem Konzept für die Abschreckung und Verteidigung des Euro-Atlantischen Raumes (DDA) von 2020. In beiden wird Russland als die größte unmittelbare Bedrohung eingestuft.
Diese Einsicht kam sehr spät. In den vielen Jahren vorher und spätestens seit Russlands Krieg gegen Georgien 2008 war die NATO einem Selbstbetrug aufgesessen. Man strebte, insbesondere auf Betreiben von Ländern wie Deutschland und Frankreich, nach einer „strategischen Partnerschaft“ mit Russland und war nicht willens oder fähig, das aggressive und revisionistische Russland Putins als das einzustufen, was es ist: eine Bedrohung.
Der lange Weg zum Ende des INF-Vertrages
Vor diesem Hintergrund ist es wohl auch zu verstehen, warum die Alliierten rund sechs Jahre benötigten, um festzustellen, dass Russland gegen den sogenannten INF-Vertrag verstoßen hat.
Zum Hintergrund: Der INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) wurde am 8. Dezember 1987 von den Vereinigten Staaten und der ehemaligen Sowjetunion unterzeichnet und trat am 1. Juni 1988 in Kraft. Er verpflichtete beide Länder, ihre bodengestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern bis zum 1. Juni 1991 abzuschaffen.
Bis zum Ablauf der Frist hatten die beiden Länder gemeinsam insgesamt 2.692 Kurz- und Mittelstreckenraketen zerstört: 1.846 sowjetische Raketen und 846 amerikanische Raketen. Dies war die erste Vernichtung einer ganzen Kategorie von Waffen, die auch nukleare Sprengköpfe tragen konnten.
Spätestens seit 2013 häuften sich jedoch Hinweise, dass Russland neue Mittelstreckenraketen mit der Bezeichnung 9M729 oder, in der NATO-Bezeichnung SSC‑8 entwickelt, hergestellt, getestet und eingesetzt hatte. Die 9M729 ist mobil und leicht zu verstecken. Sie ist in der Lage, nukleare Sprengköpfe zu tragen. Sie verkürzt die Vorwarnzeit im Falle eines Angriffs auf Minuten und senkt damit die Schwelle für einen nuklearen Konflikt. Und sie kann europäische Hauptstädte erreichen.
Russland leugnete, wahrheitswidrig, in den folgenden Jahren die Existenz dieser Waffen. Tatsächlich wurden sie jedoch u.a. in Kaliningrad, Moskau und Nord-Ossetien stationiert – und bedrohen seitdem unsere Sicherheit. Als dann 2018 die USA und die anderen NATO-Alliierten nach jahrelangen Appellen an Russland zu dem Schluss kamen, dass Russland mit dieser Waffe mit einer geschätzten Reichweite von über 2000 km gegen den INF-Vertrag verstoßen hat, war die Reaktion Russlands bemerkenswert: Man gab mit beachtlicher Chuzpe am Rande einer Militärausstellung zu, dass diese Waffen existierten – und verstieg sich dann zur nächsten Lüge: Ihre Reichweite läge mit ca. 480 km unter der Marge des INF-Vertrags.
Unser Dach hat Löcher
Nach Ende des Kalten Krieges kam der Luftverteidigung in Europa lange nur eine untergeordnete Rolle zu. Das galt in gleichem Maße für die Bundeswehr, deren Fähigkeit zur Luftverteidigung massiv verkleinert wurde. Seit dem Fall der Berliner Mauer, der friedlichen Wiedervereinigung beider deutscher Staaten und dem Ende des Warschauer Pakts in den 1990er-Jahren rechnete über viele Jahre hinweg niemand mehr damit, dass Russland jemals wieder Deutschland und Europa bedrohen würde.
Ein erstes Umdenken brachte zunächst die Annexion der Krim im Jahr 2014, gefolgt von dem Verstoß Russlands gegen den INF-Vertrag. Diese Vorgänge führten bei den NATO-Mitgliedern zu ersten Anpassungen, die auch eine Stärkung der integrierten Luft- und Raketenabwehr vorsahen.
Insbesondere Russlands Krieg gegen die Ukraine seit Anfang 2022, in dem Russland massiv Raketen und andere Flugkörper einsetzt zum immensen Schaden für die Bevölkerung und insbesondere auch für die zivile Infrastruktur wie die Energieversorgung, hat das Problembewusstsein über die eigenen Fähigkeitslücken unter den NATO-Verbündeten geschärft. Vor allem die „European Sky Shield Initiative“, der bislang 21 NATO-Länder beigetreten sind, ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Und auch das Gemeinschaftsprojekt ELSA (European Long-Range Strike Approach), das ebenfalls am Rande des NATO-Gipfels u.a. zwischen Frankreich, Deutschland und Großbritannien vereinbart wurde, soll eine kritische Fähigkeitslücke im Bereich der weitreichenden Abstandswaffen schließen. Aber das ist alles noch Zukunftsmusik.
Gegenwärtig sind viele europäische Staaten mit ihrer vorhandenen Ausrüstung weder qualitativ noch quantitativ in der Lage, den umfänglichen russischen Flugkörperfähigkeiten zu begegnen. So fehlen auf NATO-Seite neben Mittelstreckenwaffen auch Luftabwehrsysteme, Langstreckenradare, und Bestände an Raketen und Munitionsreserven. Der Schutz gegen Hyperschallwaffen ist unzureichend, genauso wie der gegen Drohnenangriffe und ballistische Raketen.
Russland hingegen hat über die letzten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte auch in diesem Bereich strategisch aufgerüstet. So verfügt das Land über ein umfangreiches Arsenal an präzisen Raketensystemen. Diese umfassen Kurzstreckenwaffen, zu denen die Iskander‑M mit einer Reichweite von mindesten 500 km gehören. Außerdem zählen Mittelstreckenwaffen wie die schon erwähnte 9M829 (SSC‑8) und die Hyperschallrakete Kinschal dazu. Des Weiteren handelt es sich um Langstreckenwaffen wie die Topol‑M (SS-27) und die Sarmat (RS-28). Diese Raketen, die häufig sowohl konventionell als auch nuklear bestückt werden können, sind in der Lage, Ziele in ganz Europa zu erreichen. Das gilt insbesondere auch für die in Kaliningrad stationierten Raketen. Dazu gehören neben den Iskander‑M und 9M729 auch die Kinschal-Hyperschallraketen sowie Kalibr Marschflugkörper mit einer Reichweite von 2500 km sowie S‑300 und S‑400 Luftabwehrsysteme. Außerdem gibt es Hinweise, dass Russland in Kaliningrad sein Lagersystem für Atomwaffen ausgebaut hat. Russland hat damit Hyperschallraketen in sein Arsenal integriert, die sowohl als Primärangriffswaffen als auch für Ablenkungstaktiken eingesetzt werden können. Diese Waffen stellen eine besondere Herausforderung für die Luftabwehr dar, da sie sehr schnell und schwer abzufangen sind. Zudem hat Russland taktische Nuklearwaffen in Belarus stationiert. Hinzu kommen eine Reihe sogenannter Anti-Access/Area Denial (A2/AD) Zonen (u.a. in Kaliningrad, auf der Krim – für die Schwarzmeerregion – oder im Raum Murmansk für die Nordflanke). Diese erschweren Zugang und Operationsmöglichkeiten der Verteidiger in einem Angriffsfall erheblich. Angesichts dieser russischen Kapazitäten dürften die allermeisten strategischen Hochwertziele in den europäischen NATO-Staaten im Falle eines Angriffs ungeschützt sein.
Schließen wir zumindest eine Sicherheitslücke!
Derzeit haben die europäischen NATO-Partner keine eigenen Mittelstreckenraketen im Sinne von landgestützten ballistischen Raketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 km. Nach dem INF-Vertrag wurden solche Systeme in Europa weitgehend eliminiert. Auch wenn die NATO ein integriertes Luft- und Raketenabwehrsystem entwickelt hat, und die Entwicklung europäischer Fähigkeiten angekurbelt wurde, besteht hier insgesamt eine beachtliche Lücke in unseren Fähigkeiten zur Abschreckung und Verteidigung.
Dementsprechend steht bereits in der deutschen nationalen Sicherheitsstrategie von 2023: “Die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähige Präzisionswaffen befördern.“
Am 10. Juli 2024 veröffentlichten die Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland am Rande des Gipfeltreffens der NATO in Washington D.C. folgende gemeinsame Erklärung zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland:
„Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend im Jahr 2026, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung. Diese weitreichenden konventionellen Fähigkeiten werden, wenn vollständig entwickelt, SM‑6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen, die über eine deutlich größere Reichweite verfügen als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa. Das Üben mit diesen modernen Fähigkeiten wird das Engagement der Vereinigten Staaten von Amerika für die NATO sowie deren Beiträge zur integrierten Abschreckung in Europa deutlich machen.“
Es geht also um die Stationierung von drei Waffensystemen: der Boden-Luft-Flugabwehrrakete SM‑6, den Marschflugkörper Tomahawk mit einer Reichweite zwischen 1600 km und 2500 km, und die noch in der Entwicklung befindlichen Hyperschallwaffe „Dark Eagle“ mit einer angenommenen Reichweite von ca. 3000 km. Alle Systeme sehen eine Bewaffnung mit konventionellen Sprengköpfen vor. Eine nukleare Bewaffnung ist nicht vorgesehen.
„Ihre erste Aufgabe ist es, jene russischen Deep-Strike-Fähigkeiten, welche die Allianz auf Distanz halten sollen, ins Fadenkreuz zu nehmen (hold at risk) und eventuell zu zerstören, bevor sie auf NATO-Gebiet feuern. Verlöre der Kreml diese Systeme, da sie zerstört oder abgezogen wurden, würde es der NATO erleichtert, den Angriff zurückzudrängen. Dies soll Russland von vornherein abschrecken, NATO-Länder anzugreifen.“
Diese zweite Aufgabe folgt dem Prinzip: Versuche dich nicht gegen alle Pfeile zu schützen, versuche den Bogenschützen zu treffen. „Die Umsetzung dieses Prinzips verlangt die Fähigkeit zum frühen Ausschalten besonders von Führungszentren, Radaranlagen, Marschflugkörper- und Raketenstellungen und Flugplätzen‚ in der ‚Tiefe des Raums‘. Aber auch für den taktisch-operativen Zweck, also die Lähmung und schließlich Abwehr konventioneller russischer Angriffe entlang der Front, zeigt der Krieg in der Ukraine praktisch täglich die Notwendigkeit weitreichender land- oder luftgestützter Abstandswaffen – zur Ausschaltung von Gefechtsständen, weitreichender Artillerie, Logistik-Depots, Brücken und Bahnlinien u.a.m. weit hinter der Front.“
Die Stationierung dieser Waffensysteme ist die lange überfällige Antwort auf die Aufrüstung Russlands mit Mittelstreckenwaffen seit 2013. Die damit verbundene Botschaft an Putin lautet: Bedroht Russland NATO-Europa oder greift einen oder mehrere Verbündete militärisch an, ist sein Territorium kein Heiligtum! Damit sind sie ein wichtiges Mittel der konventionellen Abschreckung der NATO.
Gehen wir nicht den selbsternannten Pazifisten auf den Leim!
Natürlich sehnen wir uns alle nach Frieden! Aber wir kommen diesem Ziel nicht näher, wenn wir einem Despoten wie Putin nachgeben oder ihn zu befrieden versuchen. Im Gegenteil! Die Geschichte zeigt, dass Appeasement- und Beschwichtigungspolitik den Aggressor nur ermuntert, seine Aggression weiter zu treiben.
Wie es der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid kürzlich mit Blick auf die Ukraine formulierte: „Wer sich jetzt nach Frieden sehnt, unterstützt diejenigen mit Waffen, die überfallen worden sind. Denn das ist die einzige Sprache, die Gewaltmenschen verstehen. Gewaltmenschen fallen nicht um, weil ihnen jemand Friedensappelle ins Ohr flüstert.“
Ein Beschwichtigungs- und Eskalationsvermeidungsansatz gegenüber Putin beruht auf einem grundlegenden Missverständnis. Präsident Putin agiert nicht auf Basis einer Eskalations- oder Deeskalationsspirale. Vielmehr respektiert er Stärken und nutzt Schwächen aus. Wo immer er kann, schürt er Ängste, Zaudern und Feigheit, um sie zu seinem Vorteil zu nutzen. Viele Menschen in Deutschland, Europa und weltweit sind nur allzu bereit, immer wieder in diese Falle zu tappen.
Wenn Sahra Wagenknecht diese Waffen vehement ablehnt, vor allem mit der Argumentation, dass sie nicht als Mittel zur Verteidigung, sondern als Angriffswaffen dienen würden, die Deutschland zu einem primären Ziel russischer Atomraketen machen würden, dann ist dies wohl zum einen Ausdruck ihres eigenen ideologischen Dogmatismus. Zum anderen aber zeigt es auch eine grundlegende Unkenntnis von Prinzipien der Abschreckung und Verteidigung. Und es verdreht die Tatsachen: Die russischen Raketen, inklusive solcher mit möglicher Nuklearbewaffnung, sind ja bereits seit Jahren nicht nur aus Kaliningrad, sondern auch aus dem rückwärtigen Raum Russlands auf uns gerichtet und können bis nach Westeuropa reichen. Nur wir haben bislang wenig in den Händen, um uns gegen sie zu schützen. Diese Art von Stimmungsmache ist im Kern eine populistische Irreführung der Allgemeinheit. Wenn man ihrer, und der in dieser Hinsicht ähnlichen Linie der AFD folgen würde, liefe das auf ein Weniger an Sicherheit für die Bevölkerung in Deutschland und anderen europäischen NATO-Partnern hinaus – und nicht ein auf Mehr!
Ähnlich problematisch sind Reaktionen aus Teilen der SPD, immerhin der Kanzlerpartei. Der Historiker Jan Claas Behrends, als SPD-Mitglied ebenfalls Mitglied im Geschichtsforum beim SPD-Parteivorstand, brachte es jüngst auf den Punkt:
„Rolf Mützenich ist nicht irgendeine Stimme in der SPD, sondern Fraktionsvorsitzender. Seine Aufgabe ist es, die Zeitenwende voranzutreiben, Deutschland und Europa sicherer zu machen und nicht als Bedenkenträger aufzutreten. Niemandem hilft eine Amerikakritik, die so klingt, als seien wir im Jahr 1985. Mützenichs Aussagen, seine Ängstlichkeit verunsichern die Öffentlichkeit und legitimieren letztlich Positionen des BSW oder der Linken. Die SPD sollte sich darauf besinnen, als Partei für die Westbindung Deutschlands zu stehen. Das ist bundesdeutsche Staatsräson und entspricht in diesen Zeiten unseren Interessen.“
Lassen wir uns also nicht beirren: Investieren wir weiter in unsere Sicherheit!
Die in diesem Artikel zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind die der Autorin und geben nicht unbedingt die der NATO oder der NATO-Verbündeten wider.
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