Geschwächt aber nicht besiegt: Die Hamas im Gazastreifen

Foto: Imago

Die Hamas ist nicht geschlagen und hat in Gaza schon wieder die Kontrolle übernommen. Wer nun glaubt, man könne mit alten Rezepten eine neue Situation schaffen, irrt, meint unser Kolumnist Richard C. Schneider.

Erst kürzlich erschien in der ZEIT ein Artikel, der in Aussicht stellte, dass jetzt, nach dem Gaza-Krieg, auf längere Sicht doch endlich alles ein gutes Ende finden könnte. Ja, das ist eine etwas verkürzt wieder­ge­gebene Darstellung des Beitrags, der insgesamt gut argumen­tierte. Aber die Realität erzählt eine gänzlich andere Geschichte. Denn die Hamas, sie ist wieder da. Dezimiert, waffen­tech­nisch massiv geschwächt, aber: Sie hat sofort mit Beginn des Waffen­still­stands die Straßen und Plätze im Gaza-Streifen wieder­be­setzt, um ein sehr klares Signal zu geben: Wir sind noch da, wir sind nicht geschlagen, nein: Wir haben gesiegt!

Rund 4000 neue Hamas-Kämpfer rekrutiert

Ob Letzteres stimmt, darf angezweifelt werden. Aber sicher ist, dass Israel keinen „totalen Sieg“ über die Islamisten errungen hat, wie Premier Benjamin Netanyahu dies immer wieder propa­giert und versprochen hatte. Im Gegenteil, die ersten Anzeichen sind schon da, dass die Hamas als Organi­sation sehr wohl weiter existieren, sich wieder­be­waffnen und die Herrschaft über Gaza nicht freiwillig aufgeben wird.

Sogar der ameri­ka­nische nun Ex-Außen­mi­nister Antony Blinken sagte noch in den letzten Tagen seiner Amtszeit, dass die Hamas schon wieder neue Kämpfer rekru­tieren konnte. Man geht derzeit von rund 4000 jungen Paläs­ti­nensern aus, die – neben den überle­benden Kämpfern – für die Hamas und gegen Israel in den Krieg und Tod ziehen wollen. Dabei wird es nicht bleiben. Die Zerstörung in Gaza ist so total, dass der Hass noch weiter­wachsen wird, wenn die Paläs­ti­nenser endgültig begreifen werden, was im vergan­genen Jahr geschehen ist. Selbst wenn die einen oder anderen die Hamas dafür verant­wortlich machen werden, weil sie das Unglück mit ihrem Massaker vom 7. Oktober über die eigene Bevöl­kerung gebracht hatten – die meisten werden das nicht öffentlich zu sagen wagen. Und es ist gar nicht so sicher, dass eine Mehrheit wirklich so denkt. Die Ideologie, dass es für die „große Sache“, die „Befreiung Paläs­tinas“ wert ist, sogar rund 50 000 Paläs­ti­nensern zu opfern, wird seit vielen Jahren in die Köpfe der nachkom­menden Genera­tionen in Gaza gehämmert. Der Westen sollte daher aufhören zu glauben, dass Logik und Ratio überall und immer verfangen. Das gelingt ja nicht einmal mehr in (noch) liberalen Demokratien.

Die Allianzen der Hamas

Nein, die Hamas ist da. Und auch der Iran ist noch da. Und die Verbün­deten werden neue Wege finden, um Gaza erneut zu einem Ort maximaler Gefahr für Israel zu machen. Die Vorstellung eines rechts­extremen israe­li­schen Politikers wie Bezalel Smotrich, der gegen den Waffen­still­stand gestimmt und gefordert hatte, dass die israe­lische Armee auf mindestens zwei Jahre Gaza besetzen müssen, um die Hamas komplett auszu­räu­chern, erkennt zwar die Realität an, dass die IDF die Hamas eben noch lange nicht vernichtet hat. Aber auch eine Komplett­be­setzung würde nichts nutzen, weil Israel und seine Partner, darunter auch die sogenannten moderaten arabi­schen Staaten, keinerlei langfris­tiges Konzept für Gaza haben. Nicht für die Bekämpfung der Islamisten, nicht für die Befriedung Gazas.

Es fehlt an einer geeig­neten Strategie

Ein israe­li­scher Zyniker erklärte kürzlich, man solle doch die Paläs­ti­nen­sische Autono­mie­be­hörde nach Gaza lassen, dann würden sie und die Hamas noch ihren Bürger­krieg von 2007 fortsetzen und sich gegen­seitig fertig machen. So falsch ist auch diese Vermutung nicht. Die Fatah-Organi­sation von Paläs­ti­nen­ser­prä­sident Mahmud Abbas hat noch lange nicht vergessen, wie ihre Leute von der Hamas auf die Dächer von Hochhäusern in Gaza gezerrt und dann in den Abgrund gestürzt wurden. Da sind noch viele Rechnungen offen. Aber darüber hinaus ist die aktuelle Situation auch dadurch entstanden, dass die israe­lische Regierung einfach nie bereit war, über den „Tag danach“ zu sprechen, geschweige denn ein Konzept zu entwerfen, das man dann mit Hilfe der USA, der EU und der arabi­schen Staaten hätte umsetzen können, damit nur ja kein Macht­vakuum in Gaza entstehe.

Insze­nierung und Hamas-PR

Der Tag danach ist nun da. Und das Macht­vakuum, das wurde von der Hamas eindrucksvoll geschlossen. Zwar gibt es immer noch Leugner der Realität. Sie posten Fotos, die aus der Luft geschossen wurden, als letzte Woche die ersten drei weiblichen Geiseln freige­lassen wurden.

Was die Hamas zeigte: Dicht­ge­drängt, vermummte Hamas-Kämpfer mit der grünen Banderole über der Stirn, die von paläs­ti­nen­si­schen Männern bedrängt wurden. Die drei israe­li­schen Frauen waren ganz offen­sichtlich in Panik, die Meute drohte jeden Augen­blick über sie herzu­fallen, die Hamas-Leute mussten sogar auf den Jeeps des Roten Kreuzes stehen, um die Bevöl­kerung „zurück­zu­drängen“.

Die Fotos aus der Luft jedoch belegen, dass dies insze­niert war. Ein kleiner Pulk von vielleicht 200, 300 Menschen, mehr nicht.

Keine Insze­nierung aber ist, dass die Hamas schon wieder rund 6000 Polizisten in ganz Gaza instal­liert hat. Gaza ist in der Hand der Hamas. Punkt.

System­wechsel qua Wohlstands­ver­sprechen und Zwei-Staaten-Lösung?

Jede „Friedens­be­mühung“, jeder Friedensplan ist zum Scheitern verur­teilt, solange es kein schlüs­siges Konzept gibt, wie man die Hamas ein für alle Mal unschädlich macht. Die Ideologie kann man – vielleicht – allmählich zum Verschwinden bringen, wenn die Paläs­ti­nenser eine Alter­native angeboten bekommen. Aber man soll sich im Westen (und in Israel) nicht wieder der Illusion hingeben, dass finan­zielle Anreize, also ein besseres Leben, diesen System­wechsel herbei­führen können. Nicht alle Gesell­schaften dieser Welt sind auf materi­ellen Wohlstand fixiert. Um also vielleicht irgendwann, in ferner Zukunft, einen Schritt weiter­zu­kommen, wird es leider auch nicht reichen, den Paläs­ti­nensern endlich einen Staat zu geben. Alle westlichen Bemühungen, die unter dem Stichwort „Zwei-Staaten-Lösung“ subsum­miert werden können, müssen scheitern, wenn man nicht begreift, wie die paläs­ti­nen­sische Gesell­schaft wirklich tickt und welchen Einfluss die Islamisten in den vergan­genen Jahrzehnten gewonnen haben. Gewiss, es gibt viele Paläs­ti­nenser, die sich ein Leben nach westlichem Modell wünschen, natürlich. Diese gilt es unbedingt zu unterstützen.

Neue Lösungs­an­sätze gesucht

Aber wie erreicht man dieje­nigen, die einer Ideologie anhängen, die uns zutiefst wesens­fremd ist? Oder vielleicht nicht? Judenhass, Fanatismus, extremer Natio­na­lismus und das alles auch noch mit religiösem Eifer versehen, kennen wir auch im Westen. Auch da sind die Bemühungen bislang nicht wirklich erfolg­reich, um ein Umdenken anzustoßen. Und wer glaubt, Donald Trump werde die Lösung für den Nahen Osten bringen, könnte sich auch getäuscht sehen. Oder vielleicht doch nicht? Manchmal sind Paradoxien der Weg in die richtige Richtung. Klar ist nur: Die alten Lösungs­an­sätze sind alle passé. Je schneller der Westen das begreift, umso besser für alle, die in der Region leben.

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