Input Paper „Sollte der EU-Kandi­da­ten­status für Moldau ein realis­ti­sches Ziel werden?“

Foto: European Union

Im Rahmen unseres Pro­jek­tes „Öst­li­che Part­ner­schaft Plus“ ver­öf­fent­li­chen wir eine Reihe von Input Papers zum Thema: Per­spek­ti­ven und Wege zum EU-Kan­­di­­da­­ten­sta­tus für die Ukraine, Geor­gien und die Repu­blik Moldau.

Für die Republik Moldau ana­ly­siert Oktawian Milewski die po­li­ti­sche Lage und for­mu­liert seine Hand­lungs­emp­feh­lun­gen an die Ent­schei­dungs­trä­gerInnen in Berlin und Brüssel, warum die EU ein geopo­li­ti­scher Akteur werden sollte und dem Trio im Juni einen EU-Kan­­di­­da­­ten­sta­tus ver­lei­hen sollte.

Die aktuelle poli­ti­sche und gesell­schaft­liche Lage

Moldau ist von dem Krieg in der Ukraine in wirt­schaft­li­cher, mensch­li­cher und gesell­schaft­li­cher Hinsicht stark betroffen. Das Land muss nun plötzlich mit einem beispiel­losen Zustrom von Menschen aus der Ukraine zurecht­kommen. Es handelt sich um 450.000 Menschen, von denen gegen­wärtig 95.000 in Moldau wohnen. Für ein Land mit begrenzten wirt­schaft­li­chen und admi­nis­tra­tiven Ressourcen hat Moldau diese Heraus­for­de­rung bislang recht gut bewältigt. Aller­dings hat diese Aufgabe der komplexen Gemenge­lage, mit der Moldau schon vor dem 24. Februar zu kämpfen hatte, Etliches hinzu­ge­fügt. Es hat die Arith­metik des Landes in Bezug auf seine Bezie­hungen zur Euro­päi­schen Union kompli­zierter gemacht.

Die zusätz­liche Komple­xität durch den Krieg in der Ukraine hat eine Wahr­neh­mung dafür geschaffen, dass die erhöhte Fragi­lität des Staates von der mangelnden Fähigkeit herrührt, die vielen Punkte auf der Agenda admi­nis­trativ und finan­ziell zu bewäl­tigen. Jetzt kommt die Krise mit den Flüch­tenden hinzu. Die wirt­schaft­li­chen und gesell­schaft­li­chen Auswir­kungen der russi­schen Invasion in der Ukraine kommen zu der bereits bestehenden Krise in den Bereichen Energie und Gesund­heit sowie letztlich auch in den Bereichen Wirt­schaft, Finanzen, Arbeit und Militär hinzu. Moldau hat die Auswir­kungen seiner ererbten Abhän­gig­keit von den Bezie­hungen zur EU zu spüren bekommen, was einer Frage von Scheitern und Überleben gleich­kommt. Die schnelle Hilfe aus dem EU-Haushalt und die direkte Hilfe zur Bewäl­ti­gung der Flücht­lings­krise haben es der Regierung erlaubt, auch diese huma­ni­täre Krise durchzustehen.

Da sich die Aufmerk­sam­keit der Behörden auf Sicher­heits­fragen durch den Krieg in der Ukraine verschob, haben sich die Reformen in der Justiz und die Iden­ti­fi­zie­rung der finan­zi­ellen und mensch­li­chen Ressourcen für die Reformen im Ener­gie­be­reich noch stärker verzögert. Im Grunde gab es in den Monaten März und April bei Chișinăus Anstren­gungen, so energisch wie möglich gegen die Korrup­tion vorzu­gehen, eine Flaute. Hinzu kommt, dass die öffent­liche Wahr­neh­mung durch eine Fülle vermeint­li­cher Gefahren in Bezug auf die Lage in Trans­nis­trien und der autonomen Region Gagausien verzerrt wurde. Diese Fragen verstärkten die ohnehin bestehende Sorge in der moldaui­schen Gesell­schaft über den Krieg in der Ukraine.

In den ersten neun Regie­rungs­mo­naten erreichte das Tandem Gavrilița/​Sandu und die neue Gene­ra­tion, die in Moldau an die Macht gekommen war, einige Erfolge, das Land tatsäch­lich aus der Isolation zu holen und System­re­formen  auf den Weg zu zu bringen. Bei Reporter ohne Grenzen rangiert Moldau 2022 auf dem Index zur Medi­en­frei­heit auf Platz 40 (nach Platz 89 im Jahr 2021) und schnitt damit deutlich besser ab als Länder wie Rumänien (Platz 56), Polen (Platz 66) oder Ungarn (Platz 85). Moldau hat auch bei der Korrup­ti­ons­be­kämp­fung viel­ver­spre­chende Ansätze gezeigt, auch wenn zum Zeitpunkt, da dieser Beitrag verfasst wurde (Mai 2022), die Hoffnung verfrüht wäre, dass das Land vor Ende 2022 eine merkliche Verbes­se­rung spüren wird. Laut Trans­pa­rency Inter­na­tional rangiert Moldau immer noch auf Platz 105 des Index zur Korrup­ti­ons­wahr­neh­mung (nach Platz 107 im Vorjahr).

Insgesamt wäre aber gewagt zu behaupten, Moldau habe den Punkt erreicht, an dem die Reformen des Systems bereits unum­kehrbar sind. Es ist jedoch offen­sicht­lich, dass das Land gegen­wärtig von einer wirklich proeu­ro­päi­schen und fort­schritt­lichsten Gene­ra­tion seit der Unab­hän­gig­keit regiert wird.

Struktur des Prozesses zur Erlangung des Kandidatenstatus

Bis zum 24. Februar hatte Chișinău einen Kandi­da­ten­status als ein mittel- bis lang­fris­tiges Ziel betrachtet, also für eine Zeit in 3 bis 5 Jahren. Man hoffte, dass Moldau bis 2024/​25, dem Ende der Amts­zeiten des Präsi­denten bzw. der Regierung den Status eines Beitritts­kan­di­daten bean­tragen würde. Der Bear­bei­tungs­pro­zess würde nach diesem Schritt mindes­tens ein Jahr oder länger dauern, wenn man frühere Erfah­rungen der West­balkan-Staaten berück­sich­tigt, die für Chișinău bis zum24. Februar als Orien­tie­rungs­punkte galten. Also können wir getrost annehmen, dass man innerlich darauf einge­stellt war, bis 2026 einen Kandi­da­ten­status zu erlangen. Ausgehend von dieser Kalku­la­tion hatte Chișinău seine Reformstrategien,die den Weg zu einem Kandi­da­ten­status bereiten sollten, abgewogen und ausgerichtet,.

Der Angriffs­krieg Russlands auf die Ukraine hat diese Bezugs­punkte voll­kommen obsolet werden lassen und die Karten neu gemischt. Als die Ukraine am 28. Februar den Kandi­da­ten­status bean­tragte, kam es zu einem mentalen „Abriss aller Bühnen“, und zwar sowohl auf Seiten des Trios, als auch auf euro­päi­scher Seite. Ange­sichts der wegwei­senden ukrai­ni­schen Entschei­dung Ende Februar nahm Moldau den Inte­gra­ti­ons­pro­zess mit der EU nun ganz anders wahr und folgte der Ukraine am 3. März nur drei Tage später () mit dem formellen Antrag bei der EU auf einen Kandi­da­ten­status. Chișinău hat also umgehend reagiert und ist gleichsam auf den fahrenden Zug aufge­sprungen, indem er die Gele­gen­heit nutzte, die sich durch den über­ra­schenden Schritt der Ukraine bot.

Die Antwort in dem doppelten Fragen­ka­talog zum Kandi­da­ten­sta­tus­ver­mit­telte eine ungefähre Vorstel­lung von der Fähigkeit des Landes, die formalen Schritte zu diesem Prozess zu absol­vieren. Chișinău mobi­li­sierte nicht nur die verfüg­bare Büro­kratie der Zentral­re­gie­rung, die für die Beant­wor­tung der beiden Frage­bögen zuständig war, sondern erhielt auch beträcht­liche Unter­stüt­zung durch Akteure der Zivil­ge­sell­schaften in Moldau und Rumänien. Eine Reihe zivil­ge­sell­schaft­li­cher Orga­ni­sa­tionen aus Rumänien sowie die Büros von rumä­ni­schen Europa-Abge­ord­neten in Brüssel halfen ebenfalls beim Ausfüllen der Frage­bögen. Dies ist bezeich­nend dafür, wie wichtig externe Unter­stüt­zung für Moldau ist, aber auch dafür, wie spärlich die mensch­li­chen Ressourcen in Chișinău gesät sind.

Gegen­wärtig wartet Moldau auf das Gipfel­treffen des Euro­päi­schen Rates im Juni, bei dem eine Entschei­dung über die Kandi­datur Moldaus fallen soll, wobei der Beschluss einstimmig fallen muss. Die Führung des Landes, insbe­son­dere die Präsi­dentin und die Minis­ter­prä­si­dentin, unter­nehmen eine poli­ti­sche Charme-Offensive gegenüber inter­es­sierten euro­päi­schen Regie­rungs­kanz­leien, um die Chancen von Moldau auf einen Kandi­da­ten­status zu verbes­sern. Hier reicht schon ein Blick auf die Agenda der Arbeits­be­suche der moldaui­schen Führung.

Heraus­for­de­rungen und die Rolle der Zivilgesellschaft

Für Chișinău besteht die größte Heraus­for­de­rung gegen­wärtig darin, eine ausrei­chend ruhige und bere­chen­bare gesell­schaft­liche und poli­ti­sche Umgebung zu schaffen, um Reformen durch­zu­führen, die auf Recht­staat­lich­keit und Korrup­ti­ons­be­kämp­fung abzielen. Diese zentralen Reformen haben sich wegen der sich über­la­gernden Krisen hinge­zogen, mit denen die Regierung Gavrilița seit den ersten Monaten nach Beginn ihrer Amtszeit im August 2021 zu kämpfen hatte.

Das Tandem Gavrilița/​Sandu hat keine größeren Regie­rungs­fehler gemacht, und es hat auch keine Krisen durch ein schlechtes staat­li­ches Handeln, durch Korrup­tion oder ähnliches gegeben. Die moldaui­sche Exekutive musste aber eine Kaskade von Krisen bekämpfen, zu der die von Russland ausge­löste Ener­gie­krise, die Corona-Pandemie und die sich daraus erge­benden wirt­schaft­li­chen Turbu­lenzen gehörten. Die moldaui­sche Wirt­schaft ist 2021 zwar um fast 13 % gewachsen, doch könnte das Wirt­schafts­wachstum 2022 nur noch bei 0,3 % liegen. Die hohen Kosten für Ener­gie­träger haben eine Ketten­re­ak­tion aus sehr hohen Lebens­hal­tungs­kosten und der gegen­wärtig höchsten Infla­ti­ons­rate in Europa ausgelöst (27 % im Mai 2022). Das hat zu einem Rückgang der Popu­la­rität und Begeis­te­rung für die Reformen geführt. Es sorgte auch für den Verlust der sozio-ökono­mi­schen Gewinne, die die Regierung in den ersten Monaten ihrer Amtszeit mit ihrer Renten­re­form erreicht hatte. Diese Effekte wurden durch die erwähnte Ketten­re­ak­tion zunichte gemacht. Vor diesem Hinter­grund vertiefte die Krise durch den Angriffs­krieg auf die Ukraine, die sich über die anderen Krisen legte, das Gefühl der Angst in der moldaui­schen Gesellschaft.

Die Zivil­ge­sell­schaft ist bereits ein sehr wichtiger stabi­li­sie­render Faktor, weil sie den Staat mit Expertise und der wichtigen Kraft versorgt, die für eine Beibe­hal­tung eines reform­freund­li­chen Klimas notwendig ist. Die Zivil­ge­sell­schaft ist darüber hinaus eine Rekru­tie­rungs­quelle gewesen, um in der neuen Exekutive eine Reihe wichtiger Posi­tionen neu zu besetzen. Aller­dings sind hier die Kapa­zi­täten begrenzt. Es besteht also eine starke Notwen­dig­keit, neue mensch­liche Ressourcen aus der moldaui­schen Diaspora zu rekru­tieren. Das ist jedoch ein lang­fris­tiger Prozess, der zudem ein sehr moti­vie­rendes Beloh­nungs­system erfordert. Dwnn ohne ausrei­chende finan­zi­elle Ressourcen und äußere Anreize durch inter­na­tio­nale Partner ist ein solcher Durch­bruch nicht möglich.

Bedeutung des Kandidatenstatus

Die Zuer­ken­nung eines Kandi­da­ten­status für Moldau wird in Chișinău gleichsam als Licht am Ende des Tunnels wahr­ge­nommen. Es könnte wahrlich ein stra­te­gi­scher Game Changer werden, mit einer beträcht­li­chen Mobi­li­sie­rungs­wir­kung für die Eliten, die öffent­liche Verwal­tung, die breite Bevöl­ke­rung und die moldaui­sche Diaspora, von der 700.000 Moldauer:innen wohl bereits in der EU wohnen (bei einer Bevöl­ke­rung in Moldau von 2,7 Millionen). Neben der Schaffung eines echten stra­te­gi­schen Ziels für das Land (es wäre in dieser Hinsicht eine beispiel­lose Maßnahme) würde es auch die Attrak­ti­vität des Landes hinsicht­lich der Entwick­lungs­fä­hig­keit beträcht­lich erhöhen. Ein Kandi­da­ten­status würde das Land für die Diaspora, die eine sehr wichtige Ressource darstellt, attrak­tiver machen. Moldau hat sie in den letzten zwei bis drei Jahr­zehnten verloren, und sie könnte erheblich zu einem Aufbau des Landes zu einem wahrlich euro­päi­sierten Staat beitragen.

Die EU ist bereits der Bezugs­punkt für Moldaus stra­te­gi­schen Kurs, aller­dings ist noch nicht klar, ob der Bezugs­punkt selbst seine Rolle auch so übernimmt, wie es in Chișinău erwartet wird. Anders gesagt: Die trans­for­ma­tive Kraft der EU würde an Gewicht und Geschwin­dig­keit gewinnen, wenn Moldau einen Kandi­da­ten­status erhält.

Rolle der Reformen und des Assoziierungsabkommens

Wir müssen davon ausgehen, dass die Entschei­dung, den Kandi­da­ten­status zu bean­tragen, absolut ungeplant und unerwart kam, auch wenn man intensiv davon geträumt haben mag. Es war die direkte Folge des umfas­senden tekto­ni­schen Sicher­heits­schocks für die osteu­ro­päi­schen Part­ner­länder, der durch die russische Invasion in die Ukraine und den radikal anderen Blick  auf die Sicher­heit in Europa ausgelöst wurde. Vor jenem Augen­blick hatte der Bericht des Euro­päi­schen Parla­ments über die Umsetzung des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens und der „vertieften und umfas­senden Frei­hand­les­zone“ (DCFTA) vom November 2021 befunden, dass sich Moldau auf einem ermu­ti­genden Reformweg bewegt, seit das Tandem Gavrilița/​Sandu in Chișinău an die Macht kam. Die moldaui­sche Führung folgte der norma­tiven Anleitung der EU so eng wie möglich und ist entschlossen, diesen Kurs unbeirrt weiterzuverfolgen.

Der Hauptkurs der Reformen, die das Kabinett Gavrilița ange­stoßen hat, zielt auf den Ausbau der admi­nis­tra­tiven Funk­tio­na­lität, der insti­tu­tio­nellen Kapa­zi­täten, der sozio-ökono­mi­schen Wider­stands­fä­hig­keit und auf eine allge­meine Stärkung des moldaui­schen Staates nach Jahr­zehnten des Brain Drain und einer Kaperung des Staates durch halb­kri­mi­nelle Netzwerke. Die wich­tigste Reform, die derzeit unter­nommen wird, ist die Justiz­re­form. Sie befindet sich noch in der Anfangs­phase, nachdem sie durch den Kampf für eine echte Unab­hän­gig­keit der Gene­ral­staats­an­walt­schaft und die oben beschrie­bene dreifache Krise verzögert wurde (Pandemie, Energie sowie Inflation und Lebens­hal­tungs­kosten). Es geht hier um die Funk­ti­ons­fä­hig­keit einer zentralen Säule des Justiz­sys­tems, die aus rund 450 Staats­an­wälten besteht, die wiederum in der Vergan­gen­heit zu über­wie­genden Teilen mit an der Kaperung des Staates und der insti­tu­tio­nellen Unter­gra­bung der moldaui­schen Gesell­schaft beteiligt waren. Seit März und bis Ende 2022 werden die wich­tigsten Gremien der moldaui­schen Staats­an­wälte und Richter einem recht­li­chen Über­prü­fungs­pro­zess unter­zogen, der das direkte Ergebnis eines speziell hierfür verab­schie­deten Gesetzes ist. Im Kern sollte dieses Über­prü­fungs­ge­setz, das im Februar verab­schiedet wurde, einer inten­siven Gesundung des Justiz­sys­tems ein größeres Momentum verleihen. Es wird erwartet, dass, sobald die Staats­an­walt­schaften ihre ordnungs­ge­mäße Unter­su­chungs- und Ankla­ge­funk­tionen wahr­nehmen – was vermut­lich im Herbst 2022 deut­li­cher sichtbar wird – der Reform­schwung des übrigen Justiz­sys­tems die insti­tu­tio­nellen Kapa­zi­täten des Staates beleben wird, um weitere wichtige Reformen zu unter­stützen. Eine verbes­serte recht­staa­liche Umgebung würde die moldaui­schen Insti­tu­tionen von krimi­nellen Elementen befreien und die Chancen für wirt­schaft­liche Entwick­lung erhöhen, wodurch Moldau für auslän­di­sche Inves­ti­tionen attrak­tiver wird.

Vor diesem Hinter­grund verspricht der Kandi­da­ten­status eine klare stra­te­gi­sche Ziel­set­zung und setzt für den gesamten moldaui­schen Staat und die Gesell­schaft Standards. Diese Standards sind bereits durch das Asso­zi­ie­rungs­ab­kommen, die DCFTA und die normative Stan­dar­di­sie­rung, die von Moldau im letzten Jahrzehnt allmäh­lich unterrnommen wurde, auf dem Weg zur Umsetzung. Gegen­wärtig sind diese Standards in Moldau insti­tu­tio­na­li­siert und werden in der Praxis verinnerlicht .

Die öffent­liche Meinung in Moldau

Einer Umfrage zufolge, die von WatchDog Moldova und CBS Axa am 10. Mai durch­ge­führt wurde, ist die moldaui­sche Gesell­schaft in Bezug auf die Ansichten zum Ursprung des Krieges in der Ukraine in zwei ungefähr gleich­große Teile gespalten. Fast die Hälfte der Gesell­schaft stimmt dem russi­schen zu. Diese Situation ist eine direkte Folge des starken Einflusses russi­scher Medien auf dem moldaui­schen Medi­en­markt. So glauben rund 40 % der Moldauer:innen, dass Russland für die Invasion in die Ukraine verant­wort­lich ist, während rund 37 % meinen, die Ukraine sei allein an dem Krieg schuld. Besorg­nis­er­re­gend ist auch, dass rund 20 % der Moldauer:innen nicht in der Lage waren, die Frage zu beant­worten, wer in diesem Krieg die gute Seite ist und wer die böse. Aller­dings hat der Krieg in der Ukraine einige Verän­de­rungen bewirkt, was die Wahr­neh­mung der EU und die stra­te­gi­sche Entschei­dung der Moldauer:innen anbelangt. 55 % der Moldauer:innen würden die EU als Option für eine stra­te­gi­sche Inte­gra­tion wählen, während nur 22 % sich für die Eura­si­sche Wirt­schafts­union entscheiden würden. Die Diskre­panz ist noch nie so groß gewesen, seit diese Präfe­renzen abgefragt wurden. Es sollte auch bedacht werden, dass diese Meinungs­um­fragen nicht die Wahr­neh­mung der moldaui­schen Diaspora oder der Menschen in der abtrün­nigen Region Trans­nis­trien berück­sich­tigen. Würden die Ansichten in der Diaspora erfasst, besteht eine große Wahr­schein­lich­keit, dass über 70 % der Moldauer:innen stra­te­gisch die EU bevor­zugen würden. Gleich­zeitig sind der gleichen Umfrage zufolge 54 % der Moldauer:innen gegen einen Beitritt zur NATO, was auch mit den russi­schen Medi­en­n­ar­ra­tiven korre­liert, die immer noch in Moldau domi­nieren.[1]

Seit Beginn des Jahres 2022 ist die öffent­liche Meinung in Moldau schritt­weise sehr viel kriti­scher gegenüber den regie­renden Eliten in Chișinău geworden. Die moldaui­sche Exekutive hat zwar bei ihrer Regie­rungs­füh­rung keine schwer­wie­genden Fehler gemacht, doch haben die vielen Krisen, die sie zu bewäl­tigen hatte, ihre Popu­la­rität erodieren lassen. Das sollte aller­dings mit Blick auf die allge­meine Stabi­lität der poli­ti­schen Lage in Moldau nicht als ein besorg­nis­er­re­gender Prozess betrachtet werden. Die proeu­ro­päi­sche Partidul Acțiune și Soli­da­ri­tate (PAS; dt.: „Partei der Aktion und Soli­da­rität“), die gemeinsam mit dem Tandem Gavrilița/​Sandu das Parlament domi­nierte, stehen erst am Anfang ihrer Herr­schaft, und derartige Erosionen sollten als offen­sicht­liche Folge sowohl der Reformen zur Korrup­ti­ons­be­kämp­fung und der Herstel­lung von Recht­staat­lich­keit betrachtet werden, wie auch als Effekt des immer noch prekären Medi­en­kon­texts, der von den vom Kreml gespon­sorten Narra­tiven dominiert wird. Die Regie­rungs­partei liegt in den Umfragen immer noch in Front. Die PAS hätte wohl 29 % der Stimmen erhalten, wenn Anfang Mai Wahlen statt­ge­funden hätten. Die prorus­si­sche Partei der Sozia­listen der Republik Moldau hätte 22,5 % bekommen. Maia Sandu ist mit 40 % Zustim­mung die popu­lärste Führungs­figur in Moldau, gefolgt vom ehema­ligen prorus­si­schen Präsi­denten Moldaus Igor Dodon mit 39 %. Als Dritter folgt Ion Ceban, der Bürger­meister von Chișinău, mit 37 %. Die Unter­schiede werden deut­li­cher, wenn die Moldauer:innen gefragt werden, wem sie am meisten vertrauen. Hier liegt Mia Sandu mit 24 % vorn, Igor Dodon folgt mit 16 %, und für den flüch­tigen Ilan Şor wären es 4 %.

Erwähnt werden sollte hier, dass Igor Dodon zur Zeit, da dieser Beitrag geschrieben wurde, wegen vier Verfahren in Haft ist (Bestech­lich­keit, Verstri­ckung in betrü­ge­ri­sche Partei­fi­nan­zie­rung, illegale Berei­che­rung und Hoch­verrat). Ihm drohen 20 Jahre Gefängnis. Ilan Şor ist ebenfalls wegen einer Vielzahl von Straf­ver­fahren auf der Fahn­dungs­liste der moldaui­schen Behörden und soll in Moldau seine Strafe absitzen. Allgemein wird die poli­ti­sche Bühne in Moldau immer noch souverän von einem einzigen poli­ti­schen Schwer­ge­wicht dominiert, nämlich von Maia Sandu.

Szenarien

Es lassen sich auf Grund der Entwick­lungen des Angriffs­kriegs Russlands auf die Ukraine Krieg und der Reaktion der EU auf die neue Sicher­heits­ar­chi­tektur auf dem Kontinent vier poten­zi­elle Szenarien entwerfen. Diese Szenarien sind auch abhängig davon, wie erfolg­reich sich die russische Invasion gestaltet und wie standhaft die Ukraine bleiben wird.

Das erste Szenario ergibt sich aus Moldaus allmäh­li­chen Fort­schritten, wobei ein von der EU verlie­hener Kandi­da­ten­status zusammen mit den damit einher­ge­henden Ressourcen den Weg konso­li­dieren würde, den die neue Gene­ra­tion mit dem Tandem Gavrilița/​Sandu an der Spitze einge­schlagen hat. Bei diesem Szenario würde ein Erfolg der Reformen nicht nur den Staat konso­li­dieren, sondern auch die Gene­ra­tion der poli­ti­schen Elite, die jetzt an der Macht ist. Deren Regie­rungs­zeit könnte auf ein ganzes Jahrzehnt hinaus abge­si­chert werden, was auf Moldau eine enorme trans­for­ma­tive Wirkung hätte.

Das zweite Szenario wäre ein Status quo, der von Durch­wurs­teln und zöger­li­chen Versuchen einer begrenzt erfolg­rei­chen Staats­re­form geprägt wäre, da die notwe­nigen mate­ri­ellen und mensch­li­chen Ressourcen fehlen würden. Dieses Szenario würde die Verwei­ge­rung oder den Aufschub eines Kandi­da­ten­status beinhalten und wäre gleichsam ein pallia­tiver Ansatz für die prekäre Staat­lich­keit Moldaus. Die Popu­la­rität der Amts­in­haber und deren Fähigkeit, auf die moldaui­sche Gesell­schaft einzu­wirken, würden allmäh­lich erodieren. Das könnte poten­ziell die Rückkehr einer Kombi­na­tion aus prorus­si­schen und klep­to­kra­tie­för­dernden Parteien begüns­tigen. Moldau würde besten­falls einen Rückfall erleben und wieder zu turbu­lenten Zeiten einer olig­ar­chi­schen Herr­schaft wie seiner­zeit unter Vladimir Plahot­niuc zurückkehren.

Die ersten beiden Szenarien gehen davon aus, dass Russland mit seiner neoim­pe­rialen Agenda nicht voran­kommt, und dass die Ukraine auf die eine oder andere Weise den Krieg gewinnt und ihre volle Souve­rä­nität zumindest in den Grenzen vom 23. Februar 2022 wieder­her­stellt, einschließ­lich einer Rück­ge­win­nung des seit 2014 besetzten Donbas.

Die beiden folgenden Szenarien gehen davon aus, dass es Russland gelingt, die ukrai­ni­sche Armee zu besiegen und die Kontrolle über die bis Ende Mai 2022 eroberten Gebiete aufrecht­zu­er­halten. Die EU würde dabei dem Trio einen Kandi­da­ten­status verwehren und es dadurch Russland erlauben, mit der stra­te­gi­schen Unklar­heit für den Raum der Östlichen Part­ner­schaft zu speku­lieren, und zwar mit beispiel­loser Geschwin­dig­keit und Aggressivität.

Das dritte Szenario wäre mit einer Verschlech­te­rung der ohnehin schwie­rigen finan­zi­ellen und wirt­schaft­li­chen Lage Moldaus verbunden und von einer schwachen Diver­si­fi­zie­rung im Ener­gie­be­reich, einem mangelndem demo­ga­phi­schen Potenzial und einer schwe­lenden Insta­bi­lität in Bezug auf Trans­nis­trien geprägt. Dieser Kurs wäre verbunden mit sozialen Unruhen, hoher poli­ti­scher Insta­bi­lität und der Rückkehr einer Kombi­na­tion aus „alter“ Olig­ar­chie und prorus­si­schen Parteien ans Ruder des Staates. Dieses Szenario würde vor Ablauf der jetzigen Amtszeit der Regierung (2025) eintreten, und zwar mit Hilfe von Umstürzen, die von Russland unter­stützt und insze­niert werden würden. Moldau würde in eine Halbiso­la­tion und eine indirekte Abhän­gig­keit von einer von Russland diktierten stra­te­gi­schen Agenda zurückgeworfen.

Das vierte Szenario geht von einem de facto- oder de jure-Verlust der Souve­rä­nität durch ein Ausgreifen der russi­schen Invasion in der Ukraine oder einem voll­kom­menen russi­schen Sieg über die Ukraine und einer anschlie­ßenden Invasion in Moldau aus. Russland würde sein Imperium wieder­errichten und Europa eine Ordnung aufzwingen, die es so nur vor dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat.

Gegen­wärtig dürften die ersten beiden Szenarien am wahr­schein­lichsten sein. Es wird viel davon abhängen, wie die Entschei­dung des Euro­päi­schen Rates am 23./24. Juni ausfällt.

Empfeh­lungen an deutsche und EU-Entscheidungsträger

Moldau muss in erster Linie den ukrai­nisch-russi­schen Krieg gut über­stehen, der das Land im Vergleich zur Ukraine bisher nur marginal getroffen hat. Aller­dings ist bei den vielen Krisen durch die Flücht­linge aus der Ukraine, durch asym­me­tri­sche Gefahren aus Trans­nis­trien, durch perma­nente russische Erpres­sungs­ver­suche mit Blick auf Ener­giel­eife­rungen, durch die sehr hohe Inflation und durch die anhal­tende Wirt­schafts­krise die Fragi­lität des moldaui­schen Staates spürbar geworden.

Vor diesem Hinter­grund benötigt Moldau kosten­güns­tige finan­zi­elle Ressourcen aus der EU und Deutsch­land. Die deutsch-fran­zö­sisch-rumä­ni­sche Geber­kon­fe­renz vom 5. April in Berlin ist hier ein gutes Beispiel für Zusagen in dieser Richtung. Die Betei­ligten hatten dort finan­zi­elle Unters­stüt­zung für Moldau in Höhe von insgesamt 659,5 Millionen Euro verspro­chen. Aller­dings bestehen nur rund 10 % dieser Summe aus Förder­mit­teln und kosten­güns­tigen lang­fris­tigen Darlehen. Der Rest der Summe ist zwar sehr hilfreich für den moldaui­schen Bedarf, bedeutet aber auch eine lang­fris­tige Bürde für die Staats­ver­schul­dung. Ange­sichts der gegen­wär­tigen Heraus­for­de­rungen bräuchte Moldau mindes­tens die Hälfte dieser Gelder als jährliche Zuschüsse, bis das Land eine relativ solide makro­eu­ro­päi­sche Stabi­lität erreicht hat (vermut­lich in 3 bis 5 Jahren).

Moldaus Reform- und Stär­kungs­kurs könnte durch vier weitere Schritte unter­stützt werden. Der erste Schritt besteht aus makro­fi­nan­zi­eller Haus­halts­un­ter­stüt­zung für eine verbes­serte Diver­si­fi­zie­rung der Ener­gie­im­porte (Gas und Strom). Sobald Moldau sein Ziel erreicht hat, nicht mehr vonteuren russi­schen Ener­gie­res­sourcen abhängig zu sein, wird es freiere Hand bei der Umsetzung von Reformen haben und sich von der perma­nenten sozio-ökono­mi­schen Erpres­sung durch Moskau befreien.

Der zweite Schritt besteht darin, den Zugang zum Gover­nance-Prozess zu fördern und auch die Rückkehr von kompe­tenten mensch­li­chen Ressourcen in das Land, was mit tech­ni­scher und/​oder tech­no­kra­ti­scher Hilfe in der staat­li­chen Verwal­tung verbunden wäre. Die Rede ist hier nicht nur von Managern, sondern auch von Fach­kräften in den Bereichen Bildung und Gesund­heit. Solch eine gemein­same Anstren­gung sollte nicht nur auf die Zentral­re­gie­rung ausge­richtet sein, sondern auch auf die kommunale Ebene. Die Praxis in der Vergan­gen­heit hat jedoch gezeigt, dass die Schaffung solch insti­tu­tio­neller Rekru­tie­rung­in­stru­mente ohne Unter­stüt­zung durch den Westen (und durch die EU) nicht effektiv vorge­nommen werden kann. Wir sprechen hier für den Anfang (6–12 Monate) von Hunderten Personen, die in der Zentral­re­gie­rung wie auch vor Ort auf kommu­naler Ebene benötigt werden. Ist ein solches Momentum geschaffen, wäre zu erwarten, dass sich ein zentri­pe­taler Effekt herausbildet.

Der dritte Schritt ist die Vision und die Expertise zur Reform des insti­tu­tio­nellen und norma­tiven Geflechts des Staates. An dieser Stelle würde die moldaui­sche Exekutive (die Kanzlei der Zentral­re­gie­rung und die Präsi­dentin), die auch die Minis­te­rien umfasst, durch die Expertise von 11 durch die EU finan­zierten Beratern profi­tieren. Dieser Beitrag wäre aller­dings mit Blick auf den Bedarf und die Hinder­nisse für Moldau nur die Spitze des Eisberges. Auch sollte ein Mecha­nismus konzi­piert werden, um Moldauer:innen aus der Diaspora zurück­zu­holen, um Moldaus Reform­fä­hig­keit zu verbes­sern und eine neue insti­tu­tio­nelle Kultur zu etablieren.

Und schließ­lich muss der Bau und die Instand­set­zung der kriti­schen Infra­struktur unbedingt jetzt erfolgen! Moldau stützt sich logis­tisch auf eine Infra­struktur, die nach russischen/​sowjetischen Standards entworfen und gebaut ist. In den letzten drei Jahr­zehnten hat sich Moldau nicht aus dieser struk­tu­rellen Abhän­gig­keit lösen können, weil es an einer Vision, an Moti­va­tion, Ressourcen und einer stra­te­gi­schen Ziel­set­zung fehlte. Gegen­wärtig scheint sich eine solche Ziel­set­zung abzu­zeichnen, voraus­ge­setzt, das Land könnte von massiven Inves­ti­tionen profi­tieren. Hierfür gibt es keine andere Quelle als die Euro­päi­sche Union. Der Status eines EU-Beitritts­kan­di­daten könnte und sollte eine Quelle sein, um mit den Ressourcen, der Expertise und der Stabi­lität, die damit verbunden sind, eine Annä­he­rung und eine Trans­for­ma­tion hin zu euro­päi­schen Standards zu erreichen.

[1] Für weitere Details siehe: Sondaj socio-politic, Mai 2022, WatchDog Moldova and CBS-AXA, abrufbar unter: https://www.ipn.md/storage/ckfinder/files/Sondaj%20la%20comanda%20WatchDog%20si%20IPIS%20Mai%202022.pdf


Oktawian Miliewski, Corre­spon­dent for Radio France Inter­na­tio­nale, Moldova

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