Israel zwischen demokra­ti­scher Gleichheit und rassis­ti­schen Problemen

Foto: IMAGO /​ ZUMA Wire

Israel ist kein Apart­heid­staat, aber es hat – wie andere auch – ein Rassismus-Problem, das es in den Griff bekommen muss, so Richard C. Schneider in seinem Essay über die komplexe Situation zwischen Juden und Arabern in Israel.

Anders als viele woken oder „weltoffene“ Kreise glauben wollen, ist Israel kein Apart­heid­staat. Aber es gibt – leider – in dieser nach wie vor einzigen Demokratie im Nahen Osten Rassismus. Wie übrigens in Deutschland auch. Und in vielen anderen demokra­ti­schen Ländern. Insofern ist Rassismus in Israel kein Einzel­phä­nomen, nichts, was den jüdischen Staat „besonders“ macht oder eben: besonders schlecht.

Und doch muss man sich, wie überall, mit diesem Problem ausein­an­der­setzen. Der Jerusalem-Tag am 29. Mai war mal wieder ein Kulmi­na­ti­ons­er­eignis, das das Ausmaß des Araber­hasses in Israel in seiner ausge­präg­testen Form zeigte. Der Tag erinnert an die Eroberung Jerusalems 1967, als die Teilung in ein israe­li­sches West- und ein jorda­ni­sches Ostje­ru­salem aufhörte zu existieren. Mit der Zusam­men­führung der Stadt fügte sich noch ein Umstand, den damals viele jenseits der jüdischen Welt noch nicht wirklich verstanden. Nach 2000 Jahren eroberte das jüdische Volk seine heiligen Stätten zurück. In Jerusalem war das der Tempelberg mit der sogenannten „Klage­mauer“, der Westmauer des Zweiten Tempels. Dazu kamen die Gräber vieler Propheten, die Grabstätten der Stamm­väter und ‑mütter in Hebron und bei Bethlehem und viele andere Orte, die jüdisch-biblisch von großer Bedeutung sind. Doch der Tempelberg ist und bleibt das Zentrum des Judentums. Dort standen eben die beiden jüdischen Tempel bis zu ihrer jewei­ligen Zerstörung. Mit dem Ende des Salomo­ni­schen Tempels 70 n. Chr. durch die römischen Truppen, die von Titus befehligt wurden und dessen Triumph im Titus­bogen auf dem Forum Romanum in Rom bis heute zu sehen ist – inklusive des sieben­ar­migen Leuchters, den die Römer aus dem jüdischen Tempel entwen­deten… -, mit dem Ende des Tempels begann auch die Zeit der endgül­tigen Diaspora des jüdischen Volkes. Und mit ihr: die Trans­for­mation eines Glaubens­ritus, in dessen Mittel­punkt zwar der eine und einzige, unsichtbare Gott stand, aber auch Tieropfer, die im Tempel ständig vollzogen wurden.

Das Ende des Tempels bedeutete eine riesige Chance für das Judentum, die die weisen Männer um Rabbi Jochanan ben Sakkai damals zu nutzen wussten. Sie schufen das Judentum von heute, das „rabbi­nische“ Judentum, in dem alles Faktische des gelebten Glaubens in Tempel­zeiten auf eine metaphy­sische, abstrakte Ebene geführt wurde. Tieropfer gab es nicht mehr, aber Gebete und Texte, die darüber sprachen. Und in dem man sie sprach, war es so, als ob man sie tatsächlich vollziehen würde. Die Sprache wurde zum Träger des nun non-existenten Rituals. Es gibt unzählige Beispiele, bis hin zu der Notwen­digkeit, ein Quorum von Zehn für ein Gemein­schafts­gebet zu formu­lieren, denn die Vertreibung verlangte flexible Lösungen. Wallfahrten zum Tempel an den Hohen Feier­tagen gab es nicht mehr. Die Juden waren in aller Welt zerstreut, also mussten sie als Gemein­schaft gerettet werden, indem man die Synagogen zu neuen Zentren machte, in denen man zusam­men­kommen musste zum Gebet.  Nur so konnte man das Volk vor dem Aussterben oder der Assimi­lation retten.

Der 6‑Tage-Krieg 1967 brachte nicht nur eine Theolo­gi­sierung der israe­li­schen Politik mit sich, sie führte auch zu einer neuen Verding­li­chung des Rituals. Anfänglich waren es kleine Kreise, die davon träumten, den Tempel wieder aufzu­bauen – und zwar genau dort, wo er einst stand und wo sich heute Al-Aksa-Moschee und Felsendom befinden. Die beiden musli­mi­schen Heilig­tümer stehen übrigens inzwi­schen länger dort als beiden jüdischen Tempel zusammen.

Doch inzwi­schen führte diese Verding­li­chung zu religiös-radikalen Entwick­lungen. Dass es auf einmal Gruppen gab, die die Kleider des Hohepriesters wieder nähten (um sie dann auch möglichst bald zu nutzen!), dass man den „Roiten Hefer“ suchte und neu züchtete, ein Rind, das rot ist und bestimmte rituelle Bedeutung hat, waren ja noch die harmlosen Erschei­nungen dieser neuen Realität. Schlimmer wurde es, als eine Gruppe radikaler jüdischer Extre­misten in den 1980er Jahren einen Anschlag auf den Felsendom und Al-Aksa plante, um einen Weltkrieg zwischen Juden und Muslimen auszu­lösen, denn das wäre der „Endkrieg“, nachdem dann der Messias käme, die Juden und die Welt erlösen und das „Dritte Haus“ (Hebräisch: Bait haSch­lischi) errichten würde, also den dritten Tempel. Der israe­lische Inlands­ge­heim­dienst Shin Beth konnte das Attentat verhindern. Zum Glück. Doch seitdem werden die Muslime mehr und mehr als Hindernis auf dem Weg der Erlösung gesehen, das es zu besei­tigen gilt. So schaukeln sich der islamis­tische Extre­mismus der heutigen Zeit und jüdischer Extre­mismus immer weiter gegen­seitig auf.

Kein Wunder also, dass in rechten und ultra­rechten Kreisen der Hass auf Araber immer weiter­wächst. Er wird genährt aus einer Mischung von religiösem jüdischen Fanatismus, den man als „Assimi­lation“ an die Gegeben­heiten der Region inter­pre­tieren könnte, und von realen, terro­ris­ti­schen Ereig­nissen, bei denen Juden ermordet werden. Hinzu kommt aber auch, nach 2000 Jahren Diaspora, das politische und militä­rische Macht­element in Israel. Religion und/​oder Ideologie und Politik sind immer schon ein gefähr­liches Gemisch, so auch jetzt im Staate Israel. Die inzwi­schen auch numerische Bedeutung, die die extreme israe­lische Rechte im politi­schen Gefüge des Landes inzwi­schen hat, verändert die Lage, selbst wenn die große Mehrheit der Israelis, darunter auch viele Juden, die ihren Glauben tagtäglich prakti­zieren, nicht extre­mis­tisch ist. Aber, wie überall auch, können die „Wenigen“ ziemlich laut sein. Ihre Anzahl wird weiter­wachsen. Auf biolo­gische Weise. Denn diese Menschen haben meist mehr Kinder als die eher modern-liberalen oder gar säkularen Israelis.

Der Jerusalem-Tag, der mit einem Flaggen­marsch durch die Altstadt von Jerusalem verbunden ist, hat früher sehr viel weniger für Aufsehen oder Zusam­men­stöße zwischen Paläs­ti­nensern und Israelis gesorgt. Das lag schlicht daran, dass er eher ein Freudenfest für die Rückeroberung der Klage­mauer war als ein Aufruf zur Vertreibung der Araber aus Jerusalem – aber auch daran, dass die paläs­ti­nen­sische Bevöl­kerung weniger selbst­be­wusst und aggressiv war als heute.

Nun ziehen also jüdische Extre­misten durch die Stadt und brüllen: „Tod den Arabern“. Sie ziehen aber auch innerhalb Israels durch die Orte, in denen es noch Araber gibt, Paläs­ti­nenser mit israe­li­scher Staats­bür­ger­schaft. Und wenn, wie im letzten Gaza-Krieg 2021, sogenannte „gemischte Städte“ innerhalb des Kernlands Israel explo­dieren, wenn es dort zu Straßen­schlachten zwischen paläs­ti­nen­si­schen und jüdischen Israelis kommt oder gar Toten, dann schürt das auf beiden Seiten immer weiter den Hass und das Misstrauen. Solche Ereig­nisse sind Wasser auf die Mühlen der Rechten in Israel. Politiker wie Benjamin Netanyahu spielen mit diesen Emotionen und rassis­ti­schen Vorur­teilen gegenüber Arabern aus einem einzigen Grund: dem eigenen Macht­an­spruch. Es ist ein bisschen wie in Ungarn. Viktor Orbán war einst selbst Stipendiat von dem ungarisch-jüdisch-ameri­ka­ni­schen Milli­ardär George Soros, aber das hindert ihn nicht, gegen Soros mit antijü­di­schen Chiffren zu hetzen, um seine Wähler­schaft bei der Stange zu halten. Er fördert jüdisches Leben in Ungarn, ist Netan­yahus Bruder im Geiste, und mit großer Wahrschein­lichkeit ist es ihm ziemlich egal, ob jemand Jude ist oder nicht, er benutzt den Antise­mi­tismus in jedem Fall für seine Zwecke. Was ihn natürlich dann doch zum Antise­miten macht. Denn die neumo­dische Idee, es gäbe antise­mi­tische Äußerungen, ohne dass der „Sprecher“ Antisemit ist, ist natürlich naiv und Unsinn.

Der Rassismus in Israel kann sich verbreiten, weil er religiöse Gefühle auch derje­nigen anspricht, die zwar rechts sind, aber mit anti-arabi­schem Hass nichts zu tun haben. Immerhin ist es der rechte Naftali Bennett, ein Kippa­träger und ein Mann, der den Schabbat einhält und der mit einer arabi­schen Partei, noch dazu einer, die den Muslim­brüdern nahesteht, koaliert. Und er ist es, der zusammen mit den anderen jüdischen Koali­ti­ons­partnern ein millio­nen­schweres Aufbau­pro­gramm für die rund 20% der israe­li­schen Bürger, die sogenannten „arabi­schen Israelis“, auflegt.

Doch gleich­zeitig kann er viele Dinge, die den Hass anschüren, nicht verhindern, es würde seine sowieso schon wackelige Position weiter gefährden. Waren es früher vielleicht ein paar Dutzend jüdische Israelis, die regel­mäßig das Plateau des Tempel­bergs besuchten, so sind es inzwi­schen Hunderte, ja, Tausende. Und war es früher klar, dass diese keine Gebete oder Gebets­ri­tuale auf dem Plateau verrichten durften, weil der Waqqf, die islamische Gesell­schaft, dies strikt unter­sagte, provo­zieren inzwi­schen immer mehr religiöse Fanatiker die musli­mische Gegen­seite, indem sie genau das tun: Sie beten und verbeugen sich, als Zeichen ihrer Ergebenheit gegenüber Gott.

Die Politik ist dagegen einiger­maßen machtlos. Die Rechts­spre­chung ist – scheinbar – klar: man kann einen jüdischen Staats­bürger nicht daran hindern, sich sozusagen überall im Land zu bewegen. Es gibt dennoch manchmal Entschei­dungen, solche Besuche zu unter­sagen, aus Gründen der natio­nalen Sicherheit. Doch wenn selbst ein Ariel Sharon, damals noch Opposi­ti­ons­führer, im Jahr 2000 den Tempelberg mit einem riesigen Sicher­heits­aufwand besuchte, um dort zu provo­zieren, und damit die Zweite Intifada auslöste, dann ist klar, dass viele rechte Politiker heute keinerlei Interesse haben, ihre Wähler­schaft zu verärgern, vor allem da sie selbst mit ihnen mehr oder weniger heimlich sympathisieren.

Der Rassismus in Israel ist nicht in die politi­schen Grund­festen des Staates Israel eingebaut. Sowohl Theodor Herzl als auch die israe­lische Unabhän­gig­keits­er­klärung von 1948 weisen klar auf eine Gleich­be­rech­tigung aller Bürger im Land hin. Das Gesetz ist da unzwei­deutig. Mit dem sogenannten „Nationalstaat“-Gesetz von 2018, das von der Rechten unter dem damaligen Premier Netanyahu verab­schiedet wurde, trat jedoch zum ersten Mal ein Gedanke in die Gesetz­gebung ein, der Tür und Tor für Araberhass öffnet. Das Gesetz besagt eindeutig, dass der Staat nur jüdisches Leben weiter­ent­wi­ckeln und fördern soll (ein bisschen verein­facht gesagt), richtet sich aber offiziell nicht gegen die paläs­ti­nen­si­schen Bürger, da die Basis­ge­setze Israels dies gar nicht zuließen. Es ist eine fragile Situation, die, auch das darf man nicht außer Acht lassen, von der arabi­schen Bevöl­kerung Israels mitge­schaffen wird. Viele sind ambivalent in ihrer Haltung zum Staat, sie genießen die Vorteile als israe­lische Bürger, ihre Rechte, die in keinem musli­mi­schen Land so groß sind wie in Israel, doch gleich­zeitig tun sie sich zum Beispiel schwer, die israe­li­schen Sicher­heits­kräfte zu unter­stützen, wenn diese rund um Al-Aksa für Ruhe bei Zusam­men­stößen sorgen müssen. Die Ra’am-Partei, die erste arabische Partei, die in einer israe­li­schen Regierung sitzt, hat ihre Teilhabe an der Koalition während des Ramadan ausge­setzt, um diesen Zwiespalt während der Unruhen nicht in die eine oder andere Richtung auflösen zu müssen.

Die Situation zwischen Juden und Arabern in Israel ist komplex. Der Rassismus wächst und der Staat hat die Pflicht und die Verant­wortung, dagegen etwas zu tun. Deutsche Beobachter, die gern mit dem Finger auf Israel zeigen oder gar „Apartheid“ rufen, sollten sich lieber an die eigene Nase fassen. Denn die Lage in Deutschland ist – bei weitaus weniger außen- und innen­po­li­ti­schen Problemen – auch nicht rosig. Offiziell geht der Staat gegen Rassismus vor, aber wenn man die Dinge bis ins Detail verfolgt, dann muss man auch in Deutschland erkennen, dass der Staat mehr verspricht und ankündigt, als er dann wirklich tut. Und die eigent­liche Bekämpfung von Rassismus in der Gesell­schaft, die im Bildungs­wesen anfängt, lässt einiges zu wünschen übrig. Wie auch in Israel.

Israel muss sein Rassismus-Problem in den Griff bekommen. Aber es ist zu befürchten, dass bei einem Regie­rungs­wechsel zurück zu einer ultra­rechten Koalition dies nicht zu erwarten ist. Dass die israe­lische Demokratie dadurch auch massiv gefährdet ist, steht außer Zweifel. Und es gibt Israelis, die so ihre Sorgen haben, was aus ihrem Land wird. Denn Israels Problem ist auch dadurch so komplex, dass sein Umgang mit den arabi­schen Staats­bürgern, mit den Paläs­ti­nensern im Westjor­danland und in Gaza, sehr unter­schiedlich ist, aber dieser die Lage dennoch wechsel­seitig beein­flusst. Die Rechts­si­tuation innerhalb Israels, im Westjor­danland und in Gaza, ist jeweils grund­sätzlich anders. Da einfach nur „Apartheid“ zu rufen, fällt auf den Beobachter selbst zurück. Er zeigt damit lediglich, dass er von den aktuellen Problemen und der realen Situation „on the ground“ nur wenig Ahnung hat.

Textende


Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.