Krieg in der Ukraine: Das Ungeheu­er­liche nicht hinnehmen

Foto: Anne Hufnagl

Russlands Vernich­tungs­feldzug gegen die Ukraine zwingt uns zu entschie­denem Handeln – doch die deutsche „Zeiten­wende“ ist auf halbem Weg stecken­ge­blieben.  Die deutsche Russland- und Ukraine-Politik muss ihre strate­gische Zweideu­tigkeit aufgeben. Ein Gastbeitrag von Ralf Fücks für den SPIEGEL.

An Weihnachten währte Russlands Krieg gegen die Ukraine bereits zehn Monate. Tausende Männer und Frauen haben ihr Leben im Kampf für die Unabhän­gigkeit und Freiheit ihres Landes verloren, Tausende wurden verwundet, mehr als sechs­tausend Zivilisten wurden nach Angaben der UN getötet, an die Zehntausend verletzt. Ganze Städte liegen in Trümmern. Die Wirtschafts­leistung der Ukraine ist nach Einschätzung der Weltbank fast um die Hälfte geschrumpft. Ihre Infra­struktur wird syste­ma­tisch zerstört, zeitweise waren an die zehn Millionen Menschen ohne Strom, Heizung und Wasser. Auch Kliniken, Schulen, Univer­si­täten, Theater und andere kultu­relle Einrich­tungen werden gezielt bombar­diert. Mehr als ein Drittel der Bevöl­kerung – ca. 14 Millionen – ist auf der Flucht, etwa die Hälfte im Ausland. Das Ungeheu­er­liche – ein Vernich­tungs­krieg mitten in Europa – droht zu einem Hinter­grund­rau­schen im alltäg­lichen Nachrich­ten­strom zu werden.

Statt „Sicherheit nur mit Russland“ ist jetzt Sicherheit gegen die neoim­pe­rialen Ambitionen Moskaus angesagt

Gemessen an ihrem bishe­rigen Koordi­na­ten­system hat sich die deutsche Politik seit dem 24. Februar 2022 drama­tisch gewandelt. Ein Tabu nach dem anderen ist gefallen. Wir liefern Panzer­hau­bitzen und moderne Flugabwehr an die Ukraine und konver­tierten zum Befür­worter ihres Beitritts zur Europäi­schen Union. Die jahrzehn­te­lange Vernach­läs­sigung der Bundeswehr soll innerhalb weniger Jahre wettge­macht, ihre Einsatz­fä­higkeit im Bündnis wieder­her­ge­stellt werden. Die gegen alle Kritik unserer Verbün­deten gepflegte Energie­part­ner­schaft mit Russland ist abgesagt. Wir lösen uns im Eiltempo aus der Abhän­gigkeit von russi­schem Öl und Gas. Das schön­ge­färbte Russland-Bild zerfällt angesichts der Gräuel in der Ukraine. Statt „Sicherheit nur mit Russland“ ist jetzt Sicherheit gegen die neoim­pe­rialen Ambitionen Moskaus angesagt.

Olaf Scholz spricht nicht Klartext – seine Botschaften hinter­lassen den Eindruck gewollter Mehrdeutigkeit

Lektion gelernt, Deutschland auf Kurs? Aus der Sicht vieler Partner ergibt sich ein anderes Bild. Für sie ist die „Zeiten­wende“ auf halbem Wege stecken­ge­blieben. Die Haltung der Bundes­re­gierung – speziell des Kanzlers – gegenüber dem Ukraine-Krieg ist ihnen ein Rätsel. Welches Ziel verfolgt Deutschland mit Blick auf den Ausgang dieses Krieges? Weshalb die Zöger­lichkeit bei der Lieferung von Waffen­sys­temen, die das Kräfte­ver­hältnis an der Front zugunsten der Ukraine wenden könnten? Weshalb das sture Nein bei „Marder“ und „Leopard“, die für die Befreiung der von Russland besetzten Gebiete gebraucht werden? Und weshalb immer neue Appelle an den notori­schen Kriegs­ver­brecher Putin, er möge doch ein Einsehen haben, dass es so nicht weiter­gehen kann?

Die Irrita­tionen kommen nicht von ungefähr. Olaf Scholz spricht nicht Klartext. Seine Botschaften hinter­lassen den Eindruck gewollter Mehrdeu­tigkeit. Dabei liegen die Wider­sprüche in der Koalition offen zutage. Außen­mi­nis­terin Baerbock postu­liert, Russland müssen diesen Krieg „strate­gisch verlieren.“ Vizekanzler Habeck fordert, die Ukraine so zu unter­stützen, „dass sie ihn gewinnen kann.“ Der Kanzler bleibt stoisch bei seiner Formel „Russland darf nicht gewinnen, die Ukraine nicht verlieren.“ Das lässt viel Spielraum für den möglichen Ausgang des Krieges.

Wer auf Putins Einsicht hofft, hofft vergebens

Olaf Scholz spricht mittler­weile vom „russi­schen Neoim­pe­ria­lismus“ als Gefahr für Europa. Gleich­zeitig redet er von „großen Meinungs­ver­schie­den­heiten“ und appel­liert an Putin, „seine Truppen zurück­zu­ziehen und so die Möglichkeit für eine gegen­seitige Verstän­digung zu schaffen.“ Was gilt nun? Die Einsicht, dass wir es mit einem Regime zu tun haben, das nicht nur der Ukraine, sondern dem Westen den Krieg erklärt hat – oder die Hoffnung, Putin möge einsehen, dass er sich verrannt hat? Wer auf Putins Einsicht hofft, hofft vergebens. Solche Illusionen stärken nur seine Absicht, den Krieg so lange fortzu­setzen, bis der Westen müde wird. Solange er hoffen kann, seine Kriegs­ziele zu erreichen, sind Verhand­lungen für den Kreml nur ein takti­scher Kniff, Zeit für die nächste Offensive zu gewinnen und den Westen zu spalten.

Nur eine Niederlage kann die Ausnüch­terung von der Wahnidee eines großrus­si­schen Reichs in Gang bringen

Angesichts des Frontal­an­griffs auf die europäische Friedens­ordnung und der Fülle russi­scher Kriegs­ver­brechen von „Meinungs­ver­schie­den­heiten“ zu sprechen, ist ebenso irritierend wie vielsagend. Dahinter steckt immer noch der Wunsch, Europa könne zu einem Arran­gement mit Putin finden. Das ignoriert nicht nur die Schärfe des Konflikts. Es blockiert auch jede Aussicht auf einen Wandel zum Besseren in Russland. Ausnahmslos alle relevanten Stimmen der russi­schen Opposition, von Navalny bis zu Memorial, setzen auf eine Niederlage des Kriegszugs gegen die Ukraine. Nur sie kann die Ausnüch­terung von der Wahnidee eines großrus­si­schen Reichs in Gang bringen. Solange Russland seiner imperialen Obsession folgt, gibt es weder einen stabilen Frieden in Europa noch die Chance auf eine demokra­tische Wende im Land.

Wer seine Politik von der Furcht vor Eskalation diktieren lässt, überlässt Putin die Eskalationsdominanz

Ein wieder­keh­rendes Motiv in den Äußerungen des Kanzlers ist die Sorge vor einer Eskalation des Krieges. Dem entspricht die Zurück­haltung bei der Lieferung von Waffen, die das Blatt zugunsten der Ukraine wenden könnten. Das Ergebnis dieser Selbst­be­schränkung ist aller­dings, dass Putin die Gewalt gegen die Ukraine immer mehr steigert, ohne eine adäquate Reaktion des Westens fürchten zu müssen. Wer seine Politik von der Furcht vor Eskalation diktieren lässt, überlässt Putin die Eskala­ti­ons­do­minanz. Wir zwingen die Ukraine zu einer asymme­tri­schen Krieg­führung, in der Russland seine Angriffe immer noch steigern kann, ohne Gegen­schläge fürchten zu müssen.

USA und NATO haben gezeigt: Abschre­ckung wirkt

Es gibt eine Schlüs­sel­erfahrung, die zeigt, dass es auch anders geht. Als der Kreml mit dem Einsatz von Atomwaffen drohte, stieß er auf eine entschiedene Gegen­re­aktion des Westens. USA und NATO ließen keine Zweifel, dass dieser Schritt katastro­phale Folgen für Russland haben würde, ohne dabei allzu konkret zu werden. Seither ist diese Option faktisch vom Tisch.

Abschre­ckung wirkt. Die Frage bleibt, weshalb sie nicht auch angesichts der Zerstörung der Lebens­grund­lagen der Ukraine mit konven­tio­nellen Waffen angewandt wird. Weshalb kein Ultimatum an Moskau, die Angriffe auf die ukrai­nische Zivil­be­völ­kerung und die Infra­struktur umgehend zu beenden – andern­falls werde die NATO ihre Zurück­haltung bei der Lieferung offen­siver Waffen fallen­lassen und die ökono­mi­schen Sanktionen massiv verschärfen?

Das Muster hinter den wider­sprüch­lichen Signalen aus dem Kanzleramt

Versucht man die wider­sprüch­lichen Signale aus dem Kanzleramt zu entschlüsseln, zeichnet sich ein unaus­ge­spro­chenes Muster ab:

  • Der Krieg in der Ukraine soll eingehegt werden und keines­falls in einen Konflikt zwischen Russland und der NATO eskalieren.
  • Keine Seite soll militä­risch siegen. Wir bewaffnen die Ukraine nur so weit, dass sie sich unter großen Opfern vertei­digen, aber nicht zum Gegen­an­griff übergehen kann.
  • Wir setzen darauf, dass die Kontra­henten irgendwann so erschöpft sind, dass der Krieg einfriert und ein Waffen­still­stand vereinbart wird.
  • Dann springen wir mit Wieder­auf­bau­hilfe für die Restukraine ein und verhandeln parallel mit dem Kreml über eine gemeinsame europäische Sicherheitsordnung.
  • Wir verzichten darauf, die russische Führung für die Kriegs­ver­brechen in der Ukraine zur Verant­wortung zu ziehen – das würde ja einem diplo­ma­ti­schen Arran­gement im Wege stehen.

Eine solche Strategie wäre mehrfach fatal. Sie würde den Krieg weiter in die Länge ziehen – mit ungewissem Ausgang, aber steigenden Opfer­zahlen und wachsenden Zerstö­rungen in der Ukraine. Gleich­zeitig würde sie Putin ermutigen und die demokra­ti­schen Kräfte Russlands entmu­tigen. Schließlich würde sie die Spaltungs­linien innerhalb der EU und der NATO vertiefen und die Zweifel an der deutschen Rolle verstärken. Nicht zuletzt wäre es ein letaler Schlag gegen das Völker­recht, wenn die Verant­wort­lichen für einen flagranten Aggres­si­ons­krieg und schlimmste Kriegs­ver­brechen wieder in den Status von diplo­ma­ti­schen Partnern erhoben würden.

Die Ukraine ist – neben dem Iran – der zentrale Schau­platz der globalen Ausein­an­der­setzung zwischen Demokratie und Autoritarismus

Putins Gegner ist der demokra­tische Westen. Nicht nur aus geopo­li­ti­schen Gründen, sondern weil er die liberale Demokratie zugleich verachtet und fürchtet. Die Ukraine will Teil dieser Werte­ge­mein­schaft werden. Auch deshalb will er sie entweder unter­werfen oder vernichten. Die Ukraine ist – neben dem Iran – der zentrale Schau­platz der globalen Ausein­an­der­setzung zwischen Demokratie und Autori­ta­rismus. Der Ausgang dieses Krieges zählt weit über Europa hinaus.

Es wird höchste Zeit, die strate­gische Zweideu­tigkeit zu beenden

Es ist keine kühle realpo­li­tische Vernunft, wenn Deutschland und andere westeu­ro­päische Staaten zusehen, wie ein Land verwüstet wird, das wie kein anderes für die Vertei­digung der Grund­werte Europas kämpft. Den Preis würde nicht nur die Ukraine zahlen. Auch das europäische Projekt wäre irrepa­rabel beschädigt. Unsere Politik hat mit der Eskalation des russi­schen Vernich­tungs­kriegs nicht Schritt gehalten. Es wird höchste Zeit, die strate­gische Zweideu­tigkeit zu beenden. Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, damit die Ukraine ihre Freiheit und Einheit erfolg­reich vertei­digen kann. Das ist die zentrale Heraus­for­derung für das neue Jahr.

 

Der Beitrag wurde am 02.01.2023 im SPIEGEL veröffentlicht.

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