Urwahl, Doppelspitzen und andere Führungsschwächen
Eigenartig: In einer Zeit, in der der Autoritarismus und mit ihm der „starke Mann“ von Moskau und Washington bis Istanbul oder Brasilia eine unselige Renaissance erleben, scheuen sich demokratische Parteien in Deutschland, auch nur ihre Vorsitzenden oder Spitzenkandidaten in Gremien und durch Delegierte zu bestimmen und flüchten sich in Mitgliederentscheide und Doppelspitzen: Bloß keine Verantwortung übernehmen! Und niemand die Verantwortung überlassen!
I. Ein absurder Vorstoß
Wird sich die CDU anstecken lassen? Wohl nicht. Aber alleine, dass etliche Christdemokraten, die sich mit der Wahl der Vorsitzenden vor bald einem Jahr nie abfinden wollten, sich von deren Pannen, die nicht nur linke sondern vor allem konservative Medien genüsslich sezierten, zum Ruf nach Urwahl des Kanzlerkandidaten hinreißen lassen, ist bemerkenswert. Man darf nicht annehmen, die Junge Union habe das hinreichend reflektiert: Aber mit ihrem plumpen Mobbing gegen die Vorsitzende legt sie die Axt an das Erfolgsmodell einer Partei, die ihren Vorsitzenden selten das politische Leben schwer machte, weil sie wusste, dass der CDU-Wähler innerparteilichen (=überflüssigen) Streit nicht mag.
Was soll eine Urwahl bewirken? Im günstigen Fall eine teure Bestätigung des logischen Rechts der/des Vorsitzenden, zu sagen „Ich will!“, wenn es um die Kanzlerkandidatur geht. Im schlechtesten Fall der unausweichliche Sturz der Vorsitzenden, was wiederum einen weiteren Bundesparteitag zur Vorsitzendenwahl nach sich zöge.
Im Fall Kramp-Karrenbauer ist der Vorstoß zu Urwahl besonders absurd, weil die Umstände ihrer Wahl als Nachfolgerin von Angela Merkel ja von Freund und Feind als Nachfolgeregelung in doppelter Hinsicht verstanden wurde. Am klarsten übrigens von ihrem Konkurrenten Friedrich Merz, der ja gleich nach der Niederlage die Propeller seiner Maschine anwerfen ließ, weil er wusste, dass ihn ein leicht erringbarer Vizeposten nur noch weiter von seinem Ziel entfernt hätte, nach gut zwei Jahrzehnten endlich Kanzlerkandidat der Union zu werden.
II. Fehler der Urwahl
An schlechten Beispielen für die CDU mangelt es nicht: Die SPD hat auf zwei Bundesparteitagen in kurzem Abstand Martin Schulz (mit 100 Prozent Begeisterung) und – aus besseren Gründen – Andrea Nahles (mit Zwei-Drittel-Mehrheit) zu Vorsitzenden gewählt, um sie jeweils nach rund einem Jahr als unbrauchbar zu schreddern. Verständlich (wenngleich satzungsrechtlich halsbrecherisch), dass die Parteispitze diesen Delegierten nicht noch einmal das Schicksal der Sozialdemokratie in die Hände legen wollte. Also griff man zum vermeintlich bewährten Mittel des Mitgliederentscheids, der den Parteitagsdelegierten ja schon die Verantwortung abnahm, über den Wiedereintritt in eine Koalition zu entscheiden.
Die mit der Breite des Bewerberfelds einhergehende Beliebigkeit, dazu die Unmöglichkeit, echte Richtungsdebatten in den Minuten-Impulsen des notgedrungen kurzatmigen Casting-Formats auszutragen, oder auch nur Führungsqualitäten der Bewerber zu verifizieren, führten zu einer peinlich niedrigen Wahlbeteiligung von 53 Prozent.
Warum die Delegierten der CDU, die vor einem Jahr ziemlich mustergültig vorgeführt haben, wie man aus drei Kandidaten zwei und aus diesen eine Vorsitzende macht, ohne dass der Parteitag oder gar die ganze Partei auseinanderfliegen, sich ein Beispiel an der SPD nehmen sollen, die schon jetzt amtlich hat, dass ihr künftiges dream team im ersten Wahlgang nicht viel mehr als ein Fünftel der Hälfte der Mitglieder hinter sich versammelte, ist völlig schleierhaft.
III. Doppelspitze ist auch nicht besser
An dieser Stelle lohnt ein Blick auf die für Deutschland immer typischere zweite Flucht aus der Verantwortung: Die Doppelspitze.
Man könnte sie leicht als cleveres Marketingtool missverstehen, um die Bandbreite einer Partei besser zu veranschaulichen und mit einer breiteren Spitze aus zwei profilierten Persönlichkeiten verschiedene Zielgruppen der Partei in der Wählerschaft anzusprechen. Tatsächlich ist die Doppelspitze sowohl bei den Grünen, die sie erfanden, als auch aktuell bei der Linken und der AfD eher der Tatsache geschuldet, dass unterschiedlich ausgerichtete Flügel einer Partei sich nie dauerhaft auf eine/n Vorsitzende/n einigen könnten. Weil damit zugleich die Geschlechterquotierung umstandslos gelingen kann, ist die weiblich-männliche Doppelspitze bei den Grünen seit Jahrzehnten das beliebte Mittel der Wahl. Die Fälle sind selten, in denen daraus ein harmonischer Paarlauf wurde; das gilt für Partei und Bundestagsfraktion. Die beiden Sprecher misstrauten sich oft genug, machten daraus ein bewusst schlecht gehütetes Geheimnis. Neben Flügel‑, Geschlechter‑, Ost-West- und anderen Konflikten hat vor allem die Tatsache, dass sowohl Realos als auch Fundis bewusst die Wahl schwächerer Exponenten des Gegenflügels mit herbeiführten, für eine Stumpfheit der Doppelspitze gesorgt.
Ein Problem, das die SPD mit der tanzteeartigen Bildung fixer Pärchen versucht hat zu vermeiden. Natürlich wurde in allen Teams versucht, einen Binnenpluralismus abzubilden (der auch die Wahlchancen erhöhen sollte), allerdings – verbunden mit der durch Urwahl einhergehenden Binnenfixierung des Wahlkampfes – um den Preis der mangelnden Ausstrahlung der Duos nach außen.
Die Doppelspitzen der Linken an der Spitze von Partei und Fraktion und die Rivalität beider politischer Ebenen (typisch für Oppositionsparteien) sorgen wiederum für Flügelkampf in Permanenz, immer auch mit persönlichen Abneigungen durchtränkt, der den Niedergang der Partei nach dem Abgang des über viele Jahre De-facto-Chefs Gregor Gysi beschleunigt hat.
Auch bei der AfD kann die Doppelspitze nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Machtzentren in der Partei subkutan massiv verschieben und auf Parteitagen für einen abrupten Rechtsschub an der Spitze sorgen.
Während die FDP am vor und nach Genscher stets gescheiterten Modell des charismatischen Vorsitzenden festhält, stehen die Grünen demnächst (und dringender als SPD) vor dem Problem, aus einer funktionierenden Doppelspitze eine Bewerberin oder einen Bewerber um die Kanzlerschaft herauszuheben. Wer hier nach einer neuen Urwahl ruft, sei daran erinnert, dass die umjubelte Paarung Baerbock/Habeck gerade nicht aus einer solchen hervorging, sondern das Produkt einer Bundesdelegiertenversammlung war – im Gegenteil: die Urwahl der Spitzenkandidaten hatte zuvor den jetzigen Hoffnungsträger Habeck eliminiert.
IV. CDU könnte sich zerlegen
An dieser Stelle wird jede Leserin und jeder Leser einwerfen, dass die CDU ja die letzte Partei ist, die sich auf eine Doppelspitze einließe, und in der Tat gab es zu keinem Zeitpunkt die Überlegung, die abtretende Parteichefin Merkel zum Beispiel durch ein Duo Kramp-Karrenbauer/Spahn abzulösen, was ja nicht nur Friedrich Merz an den Rand des dadurch praktisch abgesagten Wettbewerbs gedrängt hätte, sondern für den Gesundheitsminister auch annehmbarer gewesen wäre, als sich den von AKK abgelegten Posten des Generalsekretärs anbieten zu lassen.
Der Gedanke scheint aber wesensfremd: Die CDU ist eine Partei, die zum Regieren der Bundesrepublik gegründet wurde und daher Kanzler und Kanzlerinnen hervorzubringen als ihre – bislang stets erledigte – Hauptaufgabe ansah. Sie weiß, dass ihre Führungsfigur nicht dazu da ist, die Partei zu pflegen und sie durch gesellschaftlichen Wandel und politische Debatten zu führen, sondern den Zugang ins Kanzleramt zu sichern, was wiederum Ministern, Landesvorsitzenden, Abgeordneten und ihrer Fraktionsführung und vielen anderen einen beachtlichen Anteil an der Macht sichert. Um die Partei zusammen und bei Laune zu halten, drei Jahre still zu beschäftigen und ein Jahr auf Marktplätze und an Haustüren zu schicken, gibt es ja den Generalsekretär, wie Merkel und Kramp-Karrenbauer aus eigener Anschauung wissen.
Dennoch kennt natürlich auch die Union die Doppelspitze, hat sie tatsächlich weit vor den Grünen praktiziert und mal mit Erfolg, oft mit Reibungsverlusten, bisweilen mit Spaltungsgefahr praktiziert.
CDU und CSU sind zwei Parteien mit zwei Vorsitzenden. Sie besuchen sich auf Parteitagen und sind froh, dort nicht kandidieren zu müssen. Sie streiten sich mitunter erbitterter als mit SPD oder Grünen, sie begegnen sich auf Augenhöhe, und sie wirken gerne und herzhaft auf die jeweilige Basis der Schwesterpartei ein, jedenfalls unternimmt die CSU diesen Versuch des Öfteren.
Das sieht mal nach heimlich kicherndem Einvernehmen zwischen unzertrennlichen Schwester aus und mal nach zerrütteter Familie, aber es ist natürlich (bis hinein in den Koalitionsausschuss) eine Doppelspitze, wie sie im Buche steht, und es würde nicht wundern, wenn Markus Söder den Begriff „Doppelspitze“ im Vorfeld des nahenden CDU-Bundesparteitags wie beiläufig in die Debatte einspeisen würde, um seine Rolle an der Seite der CDU-Vorsitzenden zu umschreiben.
Diese Doppelspitze der durch einen Schrägstrich sowohl verbundenen wie getrennten Unionsparteien CDU/CSU macht eine Urwahl vollends zum Absurdum, und gerade die Junge Union als einzige Vereinigung, die nicht dupliziert sondern für beide Mutterorganisationen vereint auftritt, hätte das wissen können.
Findet die Urwahl nur in der CDU statt, soll die CSU dann zuschauen und applaudieren wie ein Landesverband, der den Meldeschluss verschusselt hat? Findet sie aber in beiden Parteien statt, wie kommt die weit kleinere CSU dann auf Augenhöhe?
Dass das alles andere als eine theoretische Frage ist, zeigen die beiden Beispiele, als geschwächte und zumindest nicht sattelfeste CDU-Vorsitzende die Kanzlerkandidatur an den CSU-Chef abgaben, vielleicht abgeben mussten (1980 Kohl an Strauß, 2002 Merkel an Stoiber), um nach deren Scheitern eine Bundestagswahl später Kanzler/in zu werden.
Eine CDU, die sich in einer Urwahl zerlegt, dann ja wahrscheinlich mit vier Kandidaten (Kramp-Karrenbauer, Merz, Spahn und Laschet) und zwei Wahlgängen, hätte wenig Handhabe, CSU-Chef Söder und einer geschlossenen CSU den Zugriff zu verweigern. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung hat Söder nicht alle Zeit der Welt, sondern kann nur noch diesmal das Alleinstellungsmerkmal vorweisen, nicht auf Schwarz-Grüne, Große oder Dreier-Koalitionen angewiesen zu sein.
V. “ Viel Vergnügen beim Beseitigen der Trümmer!“
Die Urwahl mag im 5- oder 6‑Parteiensystem allgemein kein sinnvolles Mittel sein, Regierungspersonal auszuwählen, weil sie binnenfixiert ist und Wechselwähler und Koalitionspartner aus den Augen verliert, für die CDU ist sie mit Sicherheit Satzungsgift.
Wer also die vor kaum einem Jahr gewählte Parteivorsitzende aus den Angeln heben will, muss eben bis zum nächsten Wahlparteitag in einem Jahr warten, der wiederum so ausreichend vor der Bundestagswahl liegt, dass man hier mit Pomp eine/n Kanzlerkandidaten/in ausrufen kann, der sogleich der CSU-Chef in seiner Grußadresse Unterstützung zusichert.
Wer Annegret Kramp-Karrenbauer stürzen will, sollte es nicht durch einen situativen Satzungstrick, sondern durch eine erneute (Merz, Spahn) oder neue (Laschet) Kandidatur um den Parteivorsitz bewerkstelligen. Wenn alle drei NRW-Musketiere antreten: Viel Vergnügen beim Beseitigen der Trümmer! Wenn alle für Einen kämpfen: Chapeau. Dann wird es aber Spahn sein müssen, der zuletzt nicht nur seine Ambitionen am parteidienlichsten zurückgestellt hat, sondern wie nebenbei auch seinen – von Merkel zugewiesenen Regierungsjob – am zuverlässigsten erledigt hat.
Wenn der jetzt anstehende Parteitag und seine Akteure nichts als ein verheerendes Abstimmungsergebnis für die Vorsitzende zustandebringen (der Antrag auf Urwahl ist dann ja nichts als ein verkappter „Wahlgang“), können sie die Kanzlerkandidatur gleich in Franken abliefern. Ohne Urwahl. Und ohne Doppelspitze.
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