Die CDU braucht kein Programm! Sie braucht Personen mit Prinzipien.

Foto: CDU/​Laurence Chaperon

Die CDU gilt oft als bloßer Kanzler- und Wahl­verein, zusam­men­ge­halten durch den Willen zur Macht. Für Markus Schubert greift das zu kurz. Er steigt auf den Dachboden und entstaubt das normative Erbe der Union: Christ­liche Sozi­al­lehre und christ­li­ches Menschen­bild, Soli­dar­prinzip und Subsi­dia­rität. Wir werden sehen, ob der CDU nicht nur eine perso­nelle, sondern auch eine ideelle Erneue­rung gelingt. Ein „must read“ nicht nur für Anhänger der Union.

In Windes­eile hat die Bundes­kanz­lerin und CDU-Vorsit­zende, deren baldiger Untergang als einsame Staats­frau ohne Gespür für die emotio­nalen Bedürf­nisse ihrer Partei bereits abschlie­ßend herbei­kom­men­tiert worden war, die perso­nellen Weichen neu gestellt: Horst Seehofer dürfte im Hobby­keller bei der Rekon­struk­tion des Merkel‘schen Schalt­plans mit der Zunge schnalzen.

Das Kabinett ist nun zumindest auf CDU-Seite weib­li­cher und jünger angelegt. Der zum Merkel-Heraus­for­derer hoch­ge­jazzte Jens Spahn ist als Fach­mi­nister auf einem verminten Poli­tik­feld zu umsich­tigen Schritten gezwungen. Er hat damit weniger Gele­gen­heit, sich als frei­schaf­fender Polit­künstler zu profi­lieren – und zugleich mit Julia Klöckner und den CSU-Youngs­tern im Kabinett Konkur­renten um Aufmerk­sam­keit und Zuneigung der Unions­basis um sich. Wie er muss auch Horst Seehofer nun „liefern“, aber nicht mehr aus der Position des Zaun­kö­nigs in der Provinz, sondern in 24/​7‑Zuständigkeit.  Seehofer muss sich ab sofort an seinen Drohungen, Ankün­di­gungen und Verspre­chen in der Zuwan­de­rungs- und Inte­gra­ti­ons­po­litik messen lassen.

Das Kabinett war aber für Angela Merkel die kleinere Baustelle. Die entschei­dende Neuerung nahm sie als CDU-Vorsit­zende vor: Sie eröffnete ihrer Wunsch­nach­fol­gerin eine veritable Plattform in der Bundes­po­litik und instal­lierte Annegret Kramp-Karren­bauer quasi als geschäfts­füh­rende CDU-Bundes­vor­sit­zende. Der Parteitag spielte dabei die ihm zuge­dachte Rolle bei Applaus und Wahl­er­gebnis perfekt. Innerhalb von zwei Jahren wird die Saar­län­derin nun einer­seits die CDU als Partei nach außen wahr­nehm­barer und erkenn­barer machen und zugleich ihre Mitglieder und Gremien in einer ausgrei­fenden Debatte über ein neues Grund­satz­pro­gramm zu produk­tiver Stil­l­ar­beit animieren.

Merkel hat mit dieser Perso­nal­ent­schei­dung den Fokus in der Nach­fol­ge­de­batte in die Partei verschoben. Offen­kundig will sie den Übergang bei Partei­vor­sitz und Kanz­ler­schaft selbst gestalten und ihrer Wunsch­nach­fol­gerin dabei einen risi­ko­armen Weg eröffnen: Wenn Angela Merkel zu einem selbst­ge­wählten Zeitpunkt einen Wahl­par­teitag einberuft, ihre Nicht-Wieder­kan­di­datur ankündigt und den Wunsch ausdrückt, dass Regie­rungs- und Parteiamt im Sinne der Schlag­kraft der CDU weiter in einer Hand bleiben sollen, wird sich keine Mehrheit gegen Kramp-Karren­bauer formieren. Nicht auf jenem Parteitag, und danach auch nicht mehr in der CDU/CSU-Bundes­tags­frak­tion, die bei der Kanzlerin-Wahl in der laufenden Legis­la­tur­pe­riode formal am Zug ist. Um in diese Entwick­lung eingreifen zu können, hätte Jens Spahn entweder – so wie Andrea Nahles in der SPD – in der Schock­phase direkt im Anschluss an die Bundes­tags­wahl nach dem CDU/CSU-Frak­ti­ons­vor­sitz greifen oder sich dies durch Verzicht auf einen Kabi­netts­posten für die turnus­mä­ßige Neuwahl der Frak­ti­ons­spitze 2019 offen­halten müssen. Aber hier hätte sich das Wuchern mit der Reser­ve­kanz­ler­schaft eben auch rasch als Luft­bu­chung erweisen können.

Der Rechts­ruck der CDU – also eine Orba­ni­sie­rung oder Verkur­zung – auf den SPD, FDP und CSU hoffen, weil er allen dreien Wähler­zu­wächse bescheren könnte, fällt damit aus. Für eine Partei, die im Viel­par­tei­en­system einer plura­lis­ti­schen Gesell­schaft stabil 15 Prozent­punkte Vorsprung vor der zweit­stärksten Kraft hat und mit vier der sechs anderen Parla­ments­par­teien koali­ti­ons­fähig ist, wäre das auch überaus riskant, ohne viel­ver­spre­chend zu sein. Und damit ist noch nichts über die program­ma­ti­sche Substanz der CDU gesagt, die Schaden nehmen würde.

Damit sind wir bei der zweiten lauten Beschwerde der letzten Wochen: Die Merkel-CDU hat sich sinn­ent­leert, sie weiß selbst nicht mehr, wofür sie steht, hat sich sozi­al­de­mo­kra­ti­siert, braucht wieder Profil, muss sich inhalt­lich erneuern, konser­va­tiver werden usf. – Nun, was Konser­va­tismus in einer liberalen Demo­kratie bedeutet, die erfolg­reich Wert­schöp­fung mit globa­li­siertem Handel betreibt und dabei univer­sellen Werten verpflichtet ist, bleibt eine offene Frage. Die anste­hende Programm­de­batte wird es an den Tag bringen, oder den Gedanken eben rasch verwerfen.

Aber braucht die CDU eine Programm­de­batte? Oder, frecher gefragt: Braucht sie überhaupt ein Programm? Was soll ein früher auf Jahr­zehn­te­lange Gültig­keit ange­legtes Grund­satz­pro­gramm in unserer digital beschleu­nigten Zeit leisten, was über die kurz- und mittel­fris­tige Agenda eines Wahl­pro­gramms hinaus­ginge? Das vorige CDU-Grund­satz­pro­gramm stammte von 1994 und „verar­bei­tete“ die deutsche Einheit. Zuvor gab es nur einziges CDU-Grund­satz­pro­gramm aus dem Jahr 1978, das aller­dings unver­min­derte Tragweite hat. Denn in seinem Kern werden das christ­liche Menschen­bild und die daraus erwach­senden sozialen Prin­zi­pien dekli­niert, die die Halte­stangen im gesell­schaft­li­chen Wandel sind.

Die CDU braucht kein Programm, sie hat Prin­zi­pien. Sie braucht Personen, die diese Prin­zi­pien kennen, verstehen, anwenden und sie dabei erkennbar werden lassen. Diese Prin­zi­pien entstammen der fort­lau­fend erneu­erten katho­li­schen Sozi­al­lehre. In den großen Sozi­al­enzy­kliken des 19. und 20. Jahr­hun­derts syste­ma­tisch durch­de­kli­niert, geht es um ein (theo­lo­gisch fundiertes, aber auch außerhalb der Glau­bens­sphäre anschluss­fä­higes) philo­so­phi­sches Denk­ge­bäude, das zugleich einen poli­ti­schen Bauplan liefert.

Ausgangs­punkt ist das immer noch recht häufig erwähnte „christ­liche Menschen­bild“. Es betrachtet den Menschen als „Person“– ein Wesen mit zwei Naturen: Neben die Indi­vi­du­al­natur (als Resultat seiner je einzig­ar­tigen Geschöpf­lich­keit, aus der sich seine Menschen­würde ableitet) tritt die Sozi­al­natur des Menschen, der auf den Austausch und Zusam­men­schluss mit anderen Menschen wesent­lich ange­wiesen ist, auch weil er zu jedem anderen Menschen ein geschwis­ter­li­ches Verhältnis hat (wir sind alle „Kinder“ Gottes). Während sich das Indi­vi­du­al­prinzip in der verti­kalen persön­li­chen Beziehung zwischen Gott und Geschöpf ausdrückt, wird die Sozi­al­natur – Liebe ist dabei das Kommu­ni­ka­ti­ons­mittel – auf der hori­zon­talen Ebene zwischen den Menschen nachgebildet.

Dabei stehen beide Prin­zi­pien natürlich nicht nur ergänzend, sondern auch konkur­rie­rend zuein­ander. In der darauf fußenden Gesell­schafts­ord­nung unter­liegen dann das Soli­dar­prinzip und das Subsi­dia­ri­täts­prinzip einem ähnlichen Span­nungs­ver­hältnis. Die Soli­da­rität baut natürlich auf die Sozi­al­natur des Menschen; er ist in der Lage, seine persön­li­chen Inter­essen und Bedürf­nisse zu über­schreiten und für andere einzu­stehen, auch weil er das Gemein­wohl als Ziel verfolgt, was für staat­li­ches Handeln tunlichst ebenso gilt. Das Subsi­dia­ri­täts­prinzip schützt kleinere gesell­schaft­liche Einheiten – und letztlich auch die Person in ihrer Indi­vi­du­al­natur –vor staat­li­cher Über­grif­fig­keit. Es beinhaltet aber (das wird oft ausge­blendet) über diesen dem Libe­ra­lismus verwandten anti-staat­li­chen Reflex hinaus umgekehrt die Pflicht zum Eingriff, wo soli­da­ri­sche gesell­schaft­liche Gruppen, Familien oder eben Einzelne ansonsten über­for­dert sind.

Das System aufein­ander bezogener, in bewusster Abwägung anzu­wen­dender Prin­zi­pien ist erkennbar kein stati­sches. Es hat eine innere Dynamik, es ist anschluss­fähig an Poli­tik­ent­würfe von Liberalen, Konser­va­tiven und Sozi­al­de­mo­kraten – und eben auch und gerade von Ökologen. Zugleich liefert es eine Imprä­gnie­rung gegen Libe­ra­lismus, Sozia­lismus und Natio­na­lismus – gegenüber allen Ideo­lo­gien, die entweder das Indi­vi­duum oder eine Spielart von Kollek­ti­vismus verab­so­lu­tieren. Die soziale Markt­wirt­schaft, die Europa-Idee und das Anstreben eines globalen Gemein­wohls sind logische poli­ti­sche Projekte einer Politik, die Soli­da­rität immer als sich in konzen­tri­schen Kreisen ausbrei­tend versteht und geradezu motorisch darauf hinwirkt. Natio­na­lismus ist eine Gegenthese.

Die im 19. Jahr­hun­dert begrün­dete katho­li­sche Sozi­al­lehre hatte zwei entschei­dende Defizite, die sich aller­dings als heilbar erwiesen: Sie beachtete erstaun­li­cher­weise nicht den Platz des Menschen in der Gesamt­schöp­fung, war mithin ökolo­gisch blind. Und sie übersah (auch wenn der Kirchen­staat gewiss in der Forst­wirt­schaft tätig und kundig war) das Prinzip der Nach­hal­tig­keit, also die maßvolle Anwendung aller anderen Prin­zi­pien mit Blick auf die über die Gene­ra­tionen hinaus­wir­kende Dauer­haf­tig­keit des Erwirkten. Das ist umso erstaun­li­cher, als doch sowohl die Mitge­schöpf­lich­keit von Tieren und Pflanzen in der Bibel explizit ausge­führt ist und das Denken der Kirche in Ewig­keiten verläuft. In christ­de­mo­kra­ti­schen Parteien hat die Umwelt­be­we­gung dennoch oder gerade deswegen im ausge­henden 20. Jahr­hun­dert einen frühen und frucht­baren Boden gefunden. Bis aber die öster­rei­chi­sche ÖVP 1989 in einem Programm erstmals von der „ökoso­zialen Markt­wirt­schaft“ sprach, hatten sich längst ökolo­gi­sche, „grüne“ Parteien der Sache ange­nommen. Für diese „Ergän­zungs­lie­fe­rung“ ange­sichts der verschleppten Aktua­li­sie­rung der eigenen Sozi­al­lehre bedankte sich Papst Benedikt XVI. bei seiner Rede im Bundestag 2011: „[…] Das Auftreten der ökolo­gi­schen Bewegung in der deutschen Politik seit den 70er Jahren […] ist und bleibt ein Schrei nach frischer Luft. […] Die Bedeutung der Ökologie ist inzwi­schen unbestritten.“

Man darf begründet annehmen, dass die Katho­likin Annegret Kramp-Karren­bauer auf diesem Ohr musi­ka­lisch ist. Das „christ­liche Menschen­bild“ plat­zierte sie als Reiz­vo­kabel bereits in ihre sonst bewusst theo­rie­arme Bewer­bungs­rede – nach dem viel­sa­genden Hinweis im Vorfeld, sie sei einst wegen Heiner Geißler in die CDU eingetreten.

Eine ‚konser­va­tive Revo­lu­tion‘ ist das nicht, eine über­fäl­lige Renais­sance aber schon. Wenn die CDU schon eine Programm­de­batte führt, und sich dabei hoffent­lich nicht in Symbol­de­batten über musli­mi­sche Klei­dungs­stücke, Fahne und Hymne oder den Umfang des Budgets der Eurozone erschöpfen will, dann muss sie auf den Dachboden gehen und das ererbte Silber polieren. Es taugt auch als Vintage-Geschirr im modernen Alltag.

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