NARRATIV-CHECK

Was hinter radika­li­sie­renden Botschaften steckt.

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NARRATIV-CHECK

Was hinter radikalisierenden
Botschaften steckt.

Was Esoterik Macht
Sonderfall
Anthro­po­sophie

von Ansgar Martins

Anthro­po­so­phische Produkte und Angebote sind im deutsch­spra­chigen Raum weit verbreitet. Bekannte Droge­rie­märkte und Natur­kost­läden bis hin zu Waldorf­schulen fußen direkt oder indirekt auf der Weltan­schauung Rudolf Steiners. Diese steht aber nicht nur für Humanismus und Biomarken, sondern bietet auch Anknüp­fungs­punkte zu Antise­mi­tismus, Rassismus und Verschwörungsdenken.

Anthro­po­sophie (griechisch: „Menschen­weisheit“) ist die präsen­teste Form von Esoterik im deutsch­spra­chigen Raum und in ganz Europa sehr populär. Ihre Reform­pro­jekte finden sich inzwi­schen weltweit, obwohl die „Anthro­po­so­phische Gesell­schaft“ nur wenige zehntausend Mitglieder hat. Während hierzu­lande bekannte Drogerie- und Natur­kost­un­ter­nehmen promi­nente anthro­po­so­phische Gründer hatten, sind andere, wie die > Waldorf­schulen, die „biolo­gisch-dynamische“ Landwirt­schaft (Demeter), die anthro­po­so­phisch „erwei­terte“ Medizin (Wala, Weleda) und die religiöse Bewegung „Chris­ten­ge­mein­schaft“ zutiefst den Vorschriften Rudolf Steiners (1861–1925) verpflichtet.

Rudolf Steiners esote­rische „Wissen­schaft“

Der Begründer der Anthro­po­sophie, Steiner, verband die Philo­sophie des deutschen Idealismus mit der okkulten Evolu­ti­ons­lehre der > Theoso­phi­schen Gesell­schaft. Im Fokus steht „der Mensch“ als Ziel und Zentrum des Kosmos, der Evolution und des Göttlichen. Begleitet von höheren Wesen befindet sich die Menschheit in einer steten Höher­ent­wicklung, an der die Individuen durch Wieder­geburt teilnehmen. Steiner ging davon aus, dass die Menschen dabei immer mehr Freiheit und Autonomie entwi­ckelten. Gott, Engel und Schicksal: Was in alten Zeiten noch religiös geglaubt und mystisch erlebt werden musste, erklärt die Anthro­po­sophie zur „Wissen­schaft“.

Aus seiner „wissen­schaft­lichen“ Erkenntnis des Übersinn­lichen teilte Steiner bis in Einzel­heiten mit, wie etwa auf einem Bauernhof alter­nativ gedüngt werden könne, oder wie Ärzt:innen die natur­wis­sen­schaft­liche Medizin um Heilmittel mit spiri­tu­eller Ableitung „erweitern“ könnten: Durch im Winter in Kuhhörnern vergrabene „Präparate“, die schließlich homöo­pa­thisch verdünnt auf dem Feld verteilt werden, sollen dem Acker die Kräfte des Sternen­himmels zugute­kommen. Die Mistel soll gegen Krebs wirken, weil sie aus einem vergan­genen Zustand des Kosmos stamme, in dem die Welt weicher war, weshalb die Pflanze Verhär­tungen auflösen könne.

Nach Steiners Vorträgen werden bis heute anthro­po­so­phische Heilmittel etwa von Weleda oder Gemüse von Demeter herge­stellt. Die wenigsten Konsument:innen dürften sich mit den Details seiner „übersinn­lichen Welten“ auskennen. Dies gilt vermutlich auch für die meisten Eltern und viele Lehrkräfte an den inzwi­schen mehr als tausend Waldorf­schulen weltweit. Dennoch ist Steiners Weltan­schauung nach wie vor das Zentrum der Ausbildung für Waldorflehrer:innen.

Rechte Anknüp­fungs­punkte

Die Etablierung der anthro­po­so­phi­schen Reform­pro­jekte in Deutschland fiel mit der ökolo­gi­schen Bewegung der 1980er zusammen. Mit der zuneh­menden Verbreitung wurde auch immer öfter Kritik laut – an Steiners Ideen, an autori­tären Struk­turen in bestimmten anthro­po­so­phi­schen Einrich­tungen, vor allem aber daran, dass die anthro­po­so­phische Reform­kultur immer wieder rechte bis rechts­extreme Sympathisant:innen anzieht. Die Gründe hierfür können vielschichtig sein, doch festzu­halten bleibt: Antise­mi­tismus, Rassismus und Verschwö­rungs­denken sind schon in Steiners Vorstellung von der „Weltent­wi­ckelung“ verankert. „Rassen“ sind bei Steiner Gefäße der kosmi­schen Evolution.

Der Fortschritt von All, Erde und Mensch soll zwar zur Freiheit führen, aber in einem geome­tri­schen Modell von immer wieder sieben­stu­figen Abläufen: Planeten, Runden, Globen, „Rassen“ und Kulturen gehen in festge­legter Weise ausein­ander hervor und stehen für bestimmte Existenz- und Bewusst­seins­formen, die die Menschheit durchläuft.

Aus der scheinbar komplexen theoso­phisch-anthro­po­so­phi­schen „Rassen­lehre“ leitete Steiner altbe­kannte Stereotype ab: Den licht­erfüllten „Weißen“ obliege es, das freie Denken auszu­bilden, oder: Das „Wesen des Judentums“ neige zu Intel­lek­tua­lismus und Materia­lismus. Im Ersten Weltkrieg mischte sich zu diesen antise­mi­ti­schen und rassis­ti­schen Stereo­typen noch ein resoluter Deutsch­na­tio­na­lismus und eine verschwö­rungs­ideo­lo­gische Tendenz.

Steiner beharrte in der Tradition der Theosophie zugleich darauf, die spiri­tuelle Seite des Menschen reiche über die von ihm postu­lierten „Rassen“ hinaus: „In den geistigen Welten gibt es nicht Rassen und nicht Nationen, sondern andere Zusam­men­hänge“, das heißt etwa die Seele, die sich über die „Rassen­ordnung“ erhebe. Von der völkisch-natio­na­lis­ti­schen Esoterik der 1920er Jahre grenzte Steiner sich im Namen des „Allgemein-Mensch­lichen“ ab. Unter Berufung auf solche Passagen versuchten viele Anthroposoph:innen die Kritik an Steiners eigenem Rassismus lange abzuwehren. Inzwi­schen gibt es aber auch von anthro­po­so­phi­scher Seite immer öfter einen differenzierteren

Umgang mit dem Tradi­ti­ons­be­stand. Insbe­sondere die Waldorf­schulen grenzen sich von rechts­extremen Sympathisant:innen und Verschwörungsideolog:innen ab – derartige Verbin­dungen treten aber vor allem seit der Corona-Pandemie wieder einmal besonders in Erscheinung.

Dr. Ansgar Martins arbeitet als wissen­schaft­licher Mitar­beiter am Franz Rosen­zweig Minerva-Zentrum der Hebräi­schen Univer­sität Jerusalem. Er forscht zum Verhältnis von Religion und Politik, besonders im Judentum und in der modernen Esoterik.

GLOSSAR

Theoso­phische Gesellschaft

Die Theoso­phische Gesell­schaft wurde 1875 von Helena P. Blavatsky (1831–1891) mitbe­gründet. Ihre okkulte anglo-indische Theosophie gilt als einfluss­reichste neuzeit­liche Esote­rik­be­wegung des 19. und frühen 20. Jahrhun­derts und ist von der gleich­na­migen mystisch-religiösen Theosophie zu unter­scheiden. Blava­tskys esote­rische „Geheim­lehre“ ist von spiri­tis­ti­schem Denken sowie hindu­is­ti­schen und buddhis­ti­schen Vorstel­lungen beein­flusst. Sie vermittelt eine übersinnlich erfahrbare Weltan­schauung, die die Essenz aller großen Religionen und Philo­so­phien in sich vereine. Elemente, wie die Vorstellung kosmi­scher „Menschen­rassen“ (Wurzel­rassen) wurden von anderen Strömungen wie > Anthro­po­sophie und > Ariosophie übernommen und weiterentwickelt.

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Waldorf­schulen

sind staatlich anerkannte Privat­schulen, in denen nach > anthro­po­so­phi­schen Prinzipien und einer daraus folgenden Didaktik und Methodik unter­richtet wird. In der Vergan­genheit wurden immer wieder Verbin­dungen von einzelnen Waldorf-Lehrkräften, ‑Angestellten oder Eltern­teilen zu rechts­extremen Netzwerken sowie völki­schen und verschwörungs­ideologischen Szenen bekannt. Der „Bund der Freien Waldorf­schulen“ distan­ziert sich in Stellung­nahmen von jeder Form des Rechts­extre­mismus, Rassismus und Natio­na­lismus. In Deutschland gibt es ca. 250 Waldorf­schulen, weltweit sind es über 1.000.

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