Welche Folgen hat das Normalisierungsabkommen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten?
Das politisch-tektonische Gefüge im Nahen Osten hat sich durch das Normalisierungsabkommen grundlegend geändert. Die „palästinensische Sache“ interessiert immer weniger. Die Palästinenser müssten ihre Strategie ändern und den Israelis entgegenkommen.
Es geht wirklich schnell. Schon sind die Telefonleitungen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) offen, schon hat man einen Kooperationsvertrag unterzeichnet, um gemeinsam an einem Impfstoff gegen Covid-19 zu arbeiten. Der Normalisierungsprozess zwischen den beiden Ländern, vor einer Woche erst verkündet, hat rasant an Fahrt aufgenommen. Und er verändert voraussichtlich die gesamte tektonische Strategie des israelisch-palästinensischen Konflikts.
Seit Jahrzehnten galt es wie ein Dogma: Israel kann erst dann einen vollständigen Frieden mit den arabischen Staaten bekommen, wenn die Palästinenser einen eigenen Staat haben. Alle haben daran geglaubt. Vor allem außerhalb des Nahen Ostens war man sich darüber stets einig. Politiker in Berlin, London, Paris und Washington verdrehten die Augen, wenn ausgerechnet Benjamin Netanyahu, Israels Premier, sagte, es gehe auch andersrum. Er behauptete das seit Jahren, nein, Jahrzehnten. Keiner glaubte ihm, jeder hielt ihn für arrogant, jeder sah dies nur als einen Versuch, die Besatzung des Westjordanlands nicht aufgeben zu müssen, ja, in jüngster Zeit sogar, Teile des besetzten Gebietes vielleicht endgültig zu annektieren.
Und nun das: wieder einmal hat Netanyahu Recht behalten, wie schon so oft in der Vergangenheit. Nein, das Abkommen zwischen den VAE und Israel hat nicht denselben Stellenwert wie die Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien. Mit beiden Nachbarstaaten hatte Israel über Jahrzehnte Krieg geführt, auf beiden Seiten gab es Opfer. Und in beiden Friedensverträgen war die Lösung des Palästinenserproblems mit impliziert – auch wenn sich niemand später daran gehalten hat. Ägypten konnte so aber immerhin zum Makler zwischen Ramallah/Gaza und Jerusalem werden. Der jordanische König musste sowieso stets eine Balance halten zwischen dem Frieden mit dem jüdischen Staat und den Interessen seiner Bürger, denn rund 50% der Jordanier sind Palästinenser. In beiden Fällen ist es ein zwar funktionierender, aber doch „kalter Frieden“, die Bevölkerungen sind sich nicht nähergekommen. Man arbeitet politisch, geheimdienstlich und militärisch eng zusammen, aber das war’s dann auch.
Mit den VAE dürfte sich vieles ändern. Denn es geht nicht nur um Politik und Sicherheit, es geht um Handel, High-Tech und Tourismus. Die Emirate wollen, dass ihre Bevölkerung in diesen Prozess mit involviert wird, sie soll das Abkommen gut finden, nach Israel reisen. Und Israelis wollen mit Sicherheit im fernen Land, mit dem man nie Krieg geführt hatte, Urlaub machen.
Das Abkommen ist eigentlich nur noch die Folge einer Entwicklung, die man schon lange beobachten konnte. Die Nahost-Politik des früheren US-Präsidenten Barack Obama hatte es möglich gemacht. Obamas massive Aufwertung des Iran durch das JCPOA-Abkommen, vor allem jedoch durch die Freigabe von eingefrorenen iranischen Konten, deren Gelder den vielen schiitischen Milizen in sunnitischen Staaten zugute kamen, ebenso wie das Zulassen der Entwicklung und des Ausbaus des iranischen Raketenpotentials, führten dazu, dass sich die sunnitischen Staaten schnell vom schiitischen Iran immer bedrohter fühlten. Ebenso wie Israel. Also lag es nahe, sich mit dem militärisch und technologisch stärksten Land der Region zu verbünden. Auch Bahrain und Oman haben ihre Kontakte zu Israel ausgeweitet, die Saudis arbeiten längst mit Israel zusammen, Sudans Führer hat sich mit Netanyahu getroffen. All das geschieht vor den Augen der Öffentlichkeit und wird schon lange nicht mehr verheimlicht.
Das politisch-tektonische Gefüge im Nahen Osten verändert sich also grundlegend. Die „palästinensische Sache“ interessiert immer weniger. Die geostrategische Entwicklung in der Region hat das Anliegen der Palästinenser zur Nebensache gemacht. Nicht nur der Iran, sondern auch die Türkei strebt nach Vorherrschaft in der Region, und die Islamisten, wie etwa die Muslimbrüder, sind eine Bedrohung für alle, die das Rad der Zeit nicht mehr zurückdrehen wollen. Katar spielt da eine wichtige Rolle als reicher Gegenspieler zu den Saudis und den Golfstaaten. Und so ist es kein Wunder, dass die neuen „Schutzherren“ und Geldgeber der Palästinenser, insbesondere der Hamas und des Islamischen Jihad, der Iran, die Türkei, Katar und die Muslimbrüder sind.
Natürlich haben die VAE erklärt, dass dieses Abkommen auch dazu gedient habe, die geplante Annexion der besetzten Gebiete im Westjordanland zu verhindern. Das Aufgeben der Annexionspläne sei sozusagen die Bedingung für die offizielle Normalisierung gewesen. Aber jeder weiß, dass dies nur diplomatisches Blech ist. Netanyahu war froh, so elegant von seiner Annexionsankündigung wieder wegzukommen, er hatte den Stichtag, den 1. Juli, einfach verstreichen lassen, es gab keine echten Pläne. Washington gab kein Grünes Licht. Und Bibi, wie Netanyahu in Israel genannt wird, ist Realpolitiker genug, um echte Beziehungen mit einem arabischen Staat jeder Form von unseliger Annexion vorzuziehen. Das gilt übrigens auch für die israelische Bevölkerung. Der israelische Fernsehsender Channel 12 führte soeben eine Umfrage durch, der zufolge 77% der Israelis eine Normalisierung mit den Emiraten einer Annexion der Westbank vorziehen. Unter rechten Wählern waren es immerhin auch 64%, die für Frieden mit den VAE die Annexion gerne aufgeben.
Die Leidtragenden der Entwicklung sind natürlich die Palästinenser, vor allem, da es so ausschaut, als ob weitere arabische Staaten dem Beispiel der VAE folgen werden. Bahrain und Oman sind sehr interessiert an offiziellen Beziehungen mit Israel, aber auch Sudan und Marokko sind zwei Anwärter für Normalisierungsverträge. Die Reaktionen auf die Ankündigung der VAE letzte Woche haben diese Staaten genau beobachtet. Außer Iran, Türkei und die Palästinenser, gab es entweder keine Reaktion (wie etwa von den Saudis – was einer Zustimmung gleichkommt) oder aber Lob und Zuspruch und Unterstützung von allen Seiten. Der Weg ist also frei für die anderen. Und sie dürften wohl nach und nach folgen. Israel ist viel zu wichtig und zu verlockend als Wirtschafts‑, Hightech- und Security-Partner, als dass man sich da noch lange von der palästinensischen Sache abhalten wird lassen.
Die Palästinenser müssen sich also nun gut überlegen, wie es weitergehen soll. Ihre totale Verweigerungshaltung ist kontraproduktiv geworden. Sie tut ihnen selbst weh – aber nicht Israel. Und die Geschichte droht sich über sie hinwegzusetzen, wenn sie sich nicht eine neue Strategie einfallen lassen. Vor allem die totalen Vernichtungsphantasien der Islamisten werden nirgendwohin führen. Israel wird nicht verschwinden. Und mit der ewigen Drohung wird man nichts erreichen. Aus israelischer Sicht ist jeder territoriale Rückzug mit Raketen und Selbstmordattentaten „belohnt“ worden – ob nach dem Oslo-Abkommen in den Neunziger Jahren, beim Rückzug aus Südlibanon im Jahr 2000 oder nach dem Rückzug aus Gaza 2005. Und die tausenden israelischen Toten und Verletzten während der Zweiten Intifada mögen in der westlichen Welt vergessen sein, weil diese lieber nur auf die Opferzahlen auf palästinensischer Seite schaut. In Israel aber hat man sie noch gut in Erinnerung, die explodierten Busse mit den zerfetzten Leibern, die Diskotheken und Hotels, die in die Luft gingen. Niemand in Israel ist heute bereit, ein unkalkulierbares Risiko einzugehen. Ein Rückzug aus Gebieten ohne Sicherheitsgarantien? Er wird nicht kommen.
Die Palästinenser müssten also ihre Strategie ändern und den Israelis entgegenkommen – was angesichts ihrer schwächeren Position wie Hohn klingt, aber so sieht die Realität aus. Oder aber sie werden sich immer mehr in die Hände der Feinde Israels und der meisten sunnitischen Staaten begeben. Selbst die Palästinensische Autonomiebehörde könnte sich dazu entschließen. Und damit ebenso wenig erreichen wie bisher. Es wird die Israelis nicht interessieren. Und immer mehr arabische Staaten auch nicht. Für die Palästinenser eine Tragödie. Für Israel, insbesondere für Netanyahu, möglicherweise ein Glücksfall in diesen Corona-Zeiten. Denn Israels Wirtschaft ist angeschlagen. Neue Handelspartner sind heute willkommener denn je.