Welche Folgen hat das Norma­li­sie­rungs­ab­kommen zwischen Israel und den Verei­nigten Arabi­schen Emiraten?

Foto: Aritra Deb

Das politisch-tekto­nische Gefüge im Nahen Osten hat sich durch das Norma­li­sie­rungs­ab­kommen grund­legend geändert. Die „paläs­ti­nen­sische Sache“ inter­es­siert immer weniger. Die Paläs­ti­nenser müssten ihre Strategie ändern und den Israelis entgegenkommen. 

Es geht wirklich schnell. Schon sind die Telefon­lei­tungen zwischen Israel und den Verei­nigten Arabi­schen Emiraten (VAE) offen, schon hat man einen Koope­ra­ti­ons­vertrag unter­zeichnet, um gemeinsam an einem Impfstoff gegen Covid-19 zu arbeiten. Der Norma­li­sie­rungs­prozess zwischen den beiden Ländern, vor einer Woche erst verkündet, hat rasant an Fahrt aufge­nommen. Und er verändert voraus­sichtlich die gesamte tekto­nische Strategie des israe­lisch-paläs­ti­nen­si­schen Konflikts.

Seit Jahrzehnten galt es wie ein Dogma: Israel kann erst dann einen vollstän­digen Frieden mit den arabi­schen Staaten bekommen, wenn die Paläs­ti­nenser einen eigenen Staat haben. Alle haben daran geglaubt. Vor allem außerhalb des Nahen Ostens war man sich darüber stets einig. Politiker in Berlin, London, Paris und Washington verdrehten die Augen, wenn ausge­rechnet Benjamin Netanyahu, Israels Premier, sagte, es gehe auch andersrum. Er behauptete das seit Jahren, nein, Jahrzehnten. Keiner glaubte ihm, jeder hielt ihn für arrogant, jeder sah dies nur als einen Versuch, die Besatzung des Westjor­dan­lands nicht aufgeben zu müssen, ja, in jüngster Zeit sogar, Teile des besetzten Gebietes vielleicht endgültig zu annektieren. 

Portrait von Richard C. Schneider

Richard C. Schneider ist Buchautor und Dokumen­tar­filmer. Er war Leiter der ARD-Studios in Rom und in Tel Aviv, und bis Ende 2022 Editor-at-Large beim BR/​ARD. Er schreibt heute als freier Korre­spondent für den SPIEGEL aus Israel und den Paläs­ti­nen­si­schen Gebieten..

Und nun das: wieder einmal hat Netanyahu Recht behalten, wie schon so oft in der Vergan­genheit. Nein, das Abkommen zwischen den VAE und Israel hat nicht denselben Stellenwert wie die Friedens­ver­träge mit Ägypten und Jordanien. Mit beiden Nachbar­staaten hatte Israel über Jahrzehnte Krieg geführt, auf beiden Seiten gab es Opfer. Und in beiden Friedens­ver­trägen war die Lösung des Paläs­ti­nen­ser­pro­blems mit impli­ziert – auch wenn sich niemand später daran gehalten hat. Ägypten konnte so aber immerhin zum Makler zwischen Ramallah/​Gaza und Jerusalem werden. Der jorda­nische König musste sowieso stets eine Balance halten zwischen dem Frieden mit dem jüdischen Staat und den Inter­essen seiner Bürger, denn rund 50% der Jordanier sind Paläs­ti­nenser. In beiden Fällen ist es ein zwar funktio­nie­render, aber doch „kalter Frieden“, die Bevöl­ke­rungen sind sich nicht näher­ge­kommen. Man arbeitet politisch, geheim­dienstlich und militä­risch eng zusammen, aber das war’s dann auch.

Mit den VAE dürfte sich vieles ändern. Denn es geht nicht nur um Politik und Sicherheit, es geht um Handel, High-Tech und Tourismus. Die Emirate wollen, dass ihre Bevöl­kerung in diesen Prozess mit invol­viert wird, sie soll das Abkommen gut finden, nach Israel reisen. Und Israelis wollen mit Sicherheit im fernen Land, mit dem man nie Krieg geführt hatte, Urlaub machen.

Das Abkommen ist eigentlich nur noch die Folge einer Entwicklung, die man schon lange beobachten konnte. Die Nahost-Politik des früheren US-Präsi­denten Barack Obama hatte es möglich gemacht. Obamas massive Aufwertung des Iran durch das JCPOA-Abkommen, vor allem jedoch durch die Freigabe von einge­fro­renen irani­schen Konten, deren Gelder den vielen schii­ti­schen Milizen in sunni­ti­schen Staaten zugute kamen, ebenso wie das Zulassen der Entwicklung und des Ausbaus des irani­schen Raketen­po­ten­tials, führten dazu, dass sich die sunni­ti­schen Staaten schnell vom schii­ti­schen Iran immer bedrohter fühlten. Ebenso wie Israel. Also lag es nahe, sich mit dem militä­risch und techno­lo­gisch stärksten Land der Region zu verbünden. Auch Bahrain und Oman haben ihre Kontakte zu Israel ausge­weitet, die Saudis arbeiten längst mit Israel zusammen, Sudans Führer hat sich mit Netanyahu getroffen. All das geschieht vor den Augen der Öffent­lichkeit und wird schon lange nicht mehr verheimlicht.

Das politisch-tekto­nische Gefüge im Nahen Osten verändert sich also grund­legend. Die „paläs­ti­nen­sische Sache“ inter­es­siert immer weniger. Die geostra­te­gische Entwicklung in der Region hat das Anliegen der Paläs­ti­nenser zur Neben­sache gemacht. Nicht nur der Iran, sondern auch die Türkei strebt nach Vorherr­schaft in der Region, und die Islamisten, wie etwa die Muslim­brüder, sind eine Bedrohung für alle, die das Rad der Zeit nicht mehr zurück­drehen wollen. Katar spielt da eine wichtige Rolle als reicher Gegen­spieler zu den Saudis und den Golfstaaten. Und so ist es kein Wunder, dass die neuen „Schutz­herren“ und Geldgeber der Paläs­ti­nenser, insbe­sondere der Hamas und des Islami­schen Jihad, der Iran, die Türkei, Katar und die Muslim­brüder sind.

Natürlich haben die VAE erklärt, dass dieses Abkommen auch dazu gedient habe, die geplante Annexion der besetzten Gebiete im Westjor­danland zu verhindern. Das Aufgeben der Annexi­ons­pläne sei sozusagen die Bedingung für die offizielle Norma­li­sierung gewesen. Aber jeder weiß, dass dies nur diplo­ma­ti­sches Blech ist. Netanyahu war froh, so elegant von seiner Annexi­ons­an­kün­digung wieder wegzu­kommen, er hatte den Stichtag, den 1. Juli, einfach verstreichen lassen, es gab keine echten Pläne. Washington gab kein Grünes Licht. Und Bibi, wie Netanyahu in Israel genannt wird, ist Realpo­li­tiker genug, um echte Bezie­hungen mit einem arabi­schen Staat jeder Form von unseliger Annexion vorzu­ziehen. Das gilt übrigens auch für die israe­lische Bevöl­kerung. Der israe­lische Fernseh­sender Channel 12 führte soeben eine Umfrage durch, der zufolge 77% der Israelis eine Norma­li­sierung mit den Emiraten einer Annexion der Westbank vorziehen. Unter rechten Wählern waren es immerhin auch 64%, die für Frieden mit den VAE die Annexion gerne aufgeben.

Die Leidtra­genden der Entwicklung sind natürlich die Paläs­ti­nenser, vor allem, da es so ausschaut, als ob weitere arabische Staaten dem Beispiel der VAE folgen werden. Bahrain und Oman sind sehr inter­es­siert an offizi­ellen Bezie­hungen mit Israel, aber auch Sudan und Marokko sind zwei Anwärter für Norma­li­sie­rungs­ver­träge. Die Reaktionen auf die Ankün­digung der VAE letzte Woche haben diese Staaten genau beobachtet. Außer Iran, Türkei und die Paläs­ti­nenser, gab es entweder keine Reaktion (wie etwa von den Saudis – was einer Zustimmung gleich­kommt) oder aber Lob und Zuspruch und Unter­stützung von allen Seiten. Der Weg ist also frei für die anderen. Und sie dürften wohl nach und nach folgen. Israel ist viel zu wichtig und zu verlo­ckend als Wirtschafts‑, Hightech- und Security-Partner, als dass man sich da noch lange von der paläs­ti­nen­si­schen Sache abhalten wird lassen.

Die Paläs­ti­nenser müssen sich also nun gut überlegen, wie es weiter­gehen soll. Ihre totale Verwei­ge­rungs­haltung ist kontra­pro­duktiv geworden. Sie tut ihnen selbst weh – aber nicht Israel. Und die Geschichte droht sich über sie hinweg­zu­setzen, wenn sie sich nicht eine neue Strategie einfallen lassen. Vor allem die totalen Vernich­tungs­phan­tasien der Islamisten werden nirgend­wohin führen. Israel wird nicht verschwinden. Und mit der ewigen Drohung wird man nichts erreichen. Aus israe­li­scher Sicht ist jeder terri­to­riale Rückzug mit Raketen und Selbst­mord­at­ten­taten „belohnt“ worden – ob nach dem Oslo-Abkommen in den Neunziger Jahren, beim Rückzug aus Südli­banon im Jahr 2000 oder nach dem Rückzug aus Gaza 2005. Und die tausenden israe­li­schen Toten und Verletzten während der Zweiten Intifada mögen in der westlichen Welt vergessen sein, weil diese lieber nur auf die Opfer­zahlen auf paläs­ti­nen­si­scher Seite schaut. In Israel aber hat man sie noch gut in Erinnerung, die explo­dierten Busse mit den zerfetzten Leibern, die Disko­theken und Hotels, die in die Luft gingen. Niemand in Israel ist heute bereit, ein unkal­ku­lier­bares Risiko einzu­gehen. Ein Rückzug aus Gebieten ohne Sicher­heits­ga­rantien? Er wird nicht kommen.

Die Paläs­ti­nenser müssten also ihre Strategie ändern und den Israelis entge­gen­kommen – was angesichts ihrer schwä­cheren Position wie Hohn klingt, aber so sieht die Realität aus. Oder aber sie werden sich immer mehr in die Hände der Feinde Israels und der meisten sunni­ti­schen Staaten begeben. Selbst die Paläs­ti­nen­sische Autono­mie­be­hörde könnte sich dazu entschließen. Und damit ebenso wenig erreichen wie bisher. Es wird die Israelis nicht inter­es­sieren. Und immer mehr arabische Staaten auch nicht. Für die Paläs­ti­nenser eine Tragödie. Für Israel, insbe­sondere für Netanyahu, mögli­cher­weise ein Glücksfall in diesen Corona-Zeiten. Denn Israels Wirtschaft ist angeschlagen. Neue Handels­partner sind heute willkom­mener denn je.