Alles ist eins: Schwächen und Einsei­tig­keiten des Amnesty-Berichts zu Israel

Foto: Shai Pal, Unsplash

Amnesty bezich­tigt Israel der „Apartheid“ im gesamten Gebiet zwischen Mittel­meer und Jordan.

Der gerade veröf­fent­lichte Bericht von Amnesty Inter­na­tional UK enthält im Kern der Sache keine Über­ra­schung. Die Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion wirft Israel im Umgang mit den Paläs­ti­nen­sern „Apartheid“ vor. Zwei andere Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen, die israe­li­sche „B’tselem“ und „Human Rights Watch“, haben schon im letzten Jahr Israel der Apartheid bezich­tigt. Die Vorwürfe damals kamen auf, wurden kurz wahr­ge­nommen und wurden wieder vergessen, zumindest in der großen Politik. Wird das nun anders sein?

Mögli­cher­weise. Zunächst einmal, weil Amnesty eine ganz andere Repu­ta­tion und einen wich­ti­geren Stel­len­wert als die erwähnten Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen hat, aber auch, weil die aktuelle israe­li­sche Regierung bereits vor Erscheinen des Berichts lauthals „Anti­se­mi­tismus“ geschrien hat. Damit hat die Regierung Bennett dem Bericht schon mal auto­ma­tisch mehr Aufmerk­sam­keit garan­tiert als wenn Israel seine „Hasbara“, seine PR-Kampagne, low-key gefahren hätte. Ange­sichts des drohenden Ukraine-Krieges und der Corona-Pandemie hat die Welt gerade andere Sorgen als Israel und die Paläs­ti­nenser und hätte den Bericht viel­leicht nicht weiter beachtet.

Die Vorwürfe von Amnesty sind massiv, erinnern aber stark an die Vorwürfe der BDS-Bewegung, die in Teilen offen anti­se­mi­tisch ist: Israel betreibe eine Politik der Rassen­tren­nung, Enteig­nung und Ausgren­zung gegenüber den Paläs­ti­nen­sern. Das aber sei nichts anderes als Apartheid. Darum fordert Amnesty alle Staaten auf, insbe­son­dere Groß­bri­tan­nien unter der Regierung von Boris Johnson auf, Israel mit einem Waffen­em­bargo zu belegen.

Zunächst einmal: Viele Vorwürfe, die Amnesty macht, sind, wenn man auf das West­jor­dan­land blickt, nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Israel verstößt gegen Menschen­rechte, es verstößt auch nach gängigem Recht gegen die Auflagen, die der Staat als Besat­zungs­macht zu befolgen hätte, etwa die verbotene Besied­lung „besetzter Gebiete“. Land von Paläs­ti­nen­sern wird enteignet, sie können selbst in bestimmten Gegenden nicht bauen, müssen Gebiete verlassen, die will­kür­lich zu „mili­tä­ri­schen Sperr­zonen“ dekla­riert werden. Die Schikanen sind seit Jahr­zehnten doku­men­tiert. Es gibt also genug anzu­pran­gern und Israel wird sich all dieser Vergehen eines Tages stellen müssen. Ob vor einem inter­na­tio­nalen Gericht oder in einer inner­is­rae­li­schen Ausein­an­der­set­zung, wird sich zeigen.

Als die soge­nannten „post­zio­nis­ti­schen Histo­riker“ in den 1980er Jahren die wahre Geschichte des Unab­hän­gig­keits­krieges 1948 aufdecken konnten, weil die Archive endlich geöffnet wurden, war es für die israe­li­sche Gesell­schaft damals ein Schock zu erfahren, dass der alte zionis­ti­sche Mythos, die arabi­schen Staaten hätten die Bewohner von Palästina aufge­for­dert zu fliehen, nur die halbe Wahrheit war. Denn es gab auch Vertrei­bungen und Massaker, manche sprechen auch von ethni­schen Säube­rungs­ak­tionen. Israel hat diesen Makel viel­leicht noch nicht inter­na­li­siert. Aber die Wahrheit über diesen Krieg ist offen­ge­legt und kann nicht mehr geleugnet werden.

Viele Israelis inter­es­sieren sich nicht für die besetzten Gebiete und bekommen nicht mit, was dort täglich geschieht. Die Sied­ler­ge­walt gegen Paläs­ti­nenser hat allein 2021 um 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr zuge­nommen. Militär und Regierung tun wenig, um solche Auswüchse wirkungs­voll zu unter­binden. Der Staat selbst unter­stützt und fördert das Sied­lungs­pro­gramm mit all seinen Impli­ka­tionen für die paläs­ti­nen­si­sche Bevöl­ke­rung. Ja, Israel müsste sich viel mehr mit diesen Entwick­lungen ausein­an­der­setzen, die Scheu­klappen absetzen und sich der brutalen Realität der Besatzung stellen. Das geschieht so gut wie gar nicht. Oder nicht in ausrei­chendem Maße.

Aber ist das Apartheid?

Das Inter­es­sante an dem Bericht von Amnesty Inter­na­tional ist das Terri­to­rium, in dem – laut der Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion – Apartheid ausgeübt wird. Es handelt sich um das West­jor­dan­land und Ostje­ru­salem. Aber auch um Gaza und – um das Kernland Israel selbst. Mit anderen Worten: jüdische Israelis betreiben in der gesamten Region zwischen Mittel­meer und Jordan Apartheid. Es ist alles eins.

Einer der Vorwürfe von „Apartheid“ lautet auch „Frag­men­tie­rung“. Das aber bedeutet, dass ganz egal, wohin sich Israel zurück­ziehen würde, ganz egal auf welche Grenzen man sich einigen würde, die Tatsache, dass Israel überhaupt existiert, ist eine «Frag­men­tie­rung» Paläs­tinas. Und die könnte nur gelöst werden, in dem sich der jüdische Staat komplett auflöst.

Die große Schwäche und die Einsei­tig­keit des Berichts beginnt genau da. Oder soll man sagen: die Ideo­lo­gi­sie­rung der Vorwürfe? Früher bezogen sich solche Berichte auf die besetzten Gebiete. Und hatten damit stets eine wichtige Funktion, um auf Unrecht aufmerksam zu machen. Doch jetzt? Dass Gaza nach wie vor als Gebiet angesehen wird, das Israel zuge­ordnet wird, verwun­dert nicht. Nach inter­na­tio­nalem Recht ist Israel, obwohl es sich gänzlich aus dem Küsten­streifen zurück­ge­zogen hat, immer noch als Besat­zungs­macht verant­wort­lich. Dass aber die „Einschrän­kung der Bewe­gungs­frei­heit“, dass die „Blocka­de­po­litik“ auch eine Reaktion auf die poli­ti­schen Aktionen der isla­mis­ti­schen Hamas sind, wird tunlichst unter­schlagen. Ebenso wie in dem Bericht der letzte Gaza-Krieg, die Raketen auf die israe­li­sche Zivil­be­völ­ke­rung, nur am Rande erwähnt werden.

So unter­scheidet Amnesty nirgends zwischen Unrecht und Entschei­dungen, die der Sicher­heits­po­litik geschuldet sind. Die Lage in den besetzten Gebieten, ganz unab­hängig von der zu Recht verur­teilten Sied­lungs­po­litik, ist wesent­lich komplexer als der Bericht dies insi­nu­iert. Ist das Gebiet, über das offiziell die Paläs­ti­nen­si­sche Auto­no­mie­be­hörde (PA) herrscht, auch unter der Knute Israels? Gewiss – wenn es um das Makro geht. Israel kontrol­liert und marschiert manchmal auch in die soge­nannte „Area A“ ein, wenn es der Sicher­heit der Staates oder dem, was man als Sicher­heit des Staates dekla­riert, angeblich dient. Dass die PA im West­jor­dan­land, dass die Hamas in Gaza dennoch das Sagen über die eigene Bevöl­ke­rung haben, dass Israels Handeln nicht nur, aber eben auch eine Reaktion auf paläs­ti­nen­si­sche Politik und Terror ist, das inter­es­siert nicht. Ebenso wenig, dass PA und Israel in vielen Bereichen zusam­men­ar­beiten. Im Kampf gegen den Terro­rismus. Und auch im Kampf gegen den Einfluss der Hamas im Westjordanland.

Ganz zu schweigen vom Kernland Israel. Es ist völlig über­flüssig, den Leuten von Amnesty klar­ma­chen zu wollen, dass Araber mit israe­li­schem Pass nicht in einem Apartheid-Staat leben. Sie leben ganz sicher in einem Staat, in dem es Rassismus gegen Araber gibt, auch tägliche Benach­tei­li­gung, keine Frage. Der Staat hat eine riesige Aufgabe, all diese Unge­rech­tig­keiten zu beheben. Aber allein die Tatsache, dass in der aktuellen Regierung eine arabische Partei sitzt, dass am Obersten Gericht auch ein arabi­scher Richter Recht spricht, dass Araber in Israel Rechte und Frei­heiten haben wie jüdische Israelis, Möglich­keiten also, die der Apart­heid­staat Südafrika seinen schwarzen Bewohnern nie und nimmer zubil­ligte, sollte den Menschen­recht­lern zu denken geben. Und dass Israel eine Demo­kratie (natürlich mit Schwächen) ist, kommt in dem Bericht auch nicht zur Geltung.

Doch darum ging es den Verfas­sern nicht. Denn wenn die „Frag­men­tie­rung“ der paläs­ti­nen­si­schen Bevöl­ke­rung und des Terri­to­riums kriti­siert wird, wenn davon die Rede ist, dass die jüdische Bevöl­ke­rung Privi­le­gien auf Kosten der Paläs­ti­nenser erhält, dann wird, mindes­tens für das Kernland Israel, den Juden das Recht auf nationale Unab­hän­gig­keit und damit auch das Recht auf einen jüdischen Staat abgesprochen.

Der Bericht setzt die israe­li­sche Sied­lungs­po­litik beispiels­weise mit der Nicht­an­er­ken­nung bedui­ni­scher Städte und Dörfer im Negev gleich. Auch hier ginge es um Enteig­nung. Das ist richtig. Zum Teil. Doch Amnesty miss­achtet, dass es hier um zwei unter­schied­liche Rechts­sys­teme handelt: in einem Fall – das Mili­tär­recht der Besat­zungs­macht. Im anderen Fall: das Recht eines souve­ränen Staates, innerhalb seiner Grenzen Entschei­dungen zu treffen, die Amnesty nicht gefallen mögen, die jedoch einen anderen Stel­len­wert haben als in besetztem Gebiet.

Der Bericht schüttet das Kind mit dem Bade aus. Berech­tige Kritik an Israels Politik wird so unglaub­würdig gemacht. Der Amnesty-Bericht geht sozusagen auf die Zeit vor 1947 zurück, wider­spricht dem UN-Teilungs­plan jenes Jahres. Als es noch keinen Staat Israel gab. Und als es auch noch keine Zwei-Staaten-Lösung gab, zumindest als Idee und als immer noch erklärtes Frie­dens­ziel der inter­na­tio­nalen Staatengemeinschaft.

Der Bericht wird allen Feinden Israels als will­kom­mene Bestä­ti­gung dienen, den Hass gegen Israel weiter zu schüren. Er wird aber das tatsäch­lich exis­tie­rende Unrecht, das Paläs­ti­nenser erleiden müssen, nicht ändern. Denn eine Unter­su­chung, die keinen Unter­schied mehr macht zwischen Gaza, dem West­jor­dan­land und dem Kernland Israel, wird in Israel selbst nicht weiter ernst genommen. Auch nicht da, wo er wahre und wichtige Dinge anspricht.

Amnesty hofft, dass es nun zu einer Anklage Israels wegen Menschen­rechts­ver­bre­chen vor dem Inter­na­tio­nalen Gerichtshof in Den Haag kommen wird. Man wird wohl davon ausgehen können, dass dies nicht geschehen wird. Die Welt inter­es­siert sich nicht mehr für diesen Konflikt, viele Staaten, selbst arabische, haben kein Interesse an einer Verur­tei­lung Israels und sogar die Richter des Inter­na­tio­nale Straf­ge­richts­hofs dürften verstehen, dass die Sachlage vor Ort komplexer ist und mit „Apartheid“-Rufen allein nicht vernünftig darge­stellt ist.

Für die Paläs­ti­nenser selbst wird sich also auch nach diesem Bericht nicht viel verändern, das kann man mit großer Wahr­schein­lich­keit vorher­sagen. Dass das Image Israels aber immer weiter beschä­digt wird, ist ebenso klar. Das aber inter­es­siert die meisten Israelis sowieso nicht. Sie halten die Welt da draußen grund­sätz­lich für juden­feind­lich. Der Bericht ist für die meisten von ihnen nur eine weitere Bestä­ti­gung dafür. So ganz unrecht scheinen sie nicht zu haben.

Textende

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