Aktuelle Innenansichten aus dem Iran – Israels führender Iran-Experte Raz Zimmt im Interview
Der führende Iran-Experte Israels über Entwicklungen im politischen System, Nuklearverhandlungen und die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Rolle des Iran im Nahen Osten.
Till Schmidt: Kürzlich haben Sie ihr Buch „Iran From Within: State and Society in the Islamic Republic“ veröffentlicht. Was charakterisiert die iranische Politik aktuell?
Raz Zimmt: In der iranischen Politik der letzten Jahre lässt sich eine Autokratisierung beobachten. Die Islamische Republik war natürlich nie eine Demokratie und beabsichtigte auch nie, eine zu sein. In der Vergangenheit hat sie sich allerdings dargestellt als ein System, das die Theokratie mit dem Prinzip der Volkssouveränität verbindet. Als Reaktion auf die Präsidentschaft von Mohammad Chatami von 1997 bis 2005 haben die Konservativen und Hardliner die Reformer mit legalen Mitteln aus dem politischen System gedrängt und sind mit politischer Repression gegen die pro-Reform Presse und die Zivilgesellschaft vorgegangen.
Selbst bei den sogenannten pragmatischen Konservativen wurde nicht Halt gemacht. So etwa bei Ali Laridschani, langjähriger Parlamentssprecher und gewiss ein Mann des Systems. Als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2021 wurde er aber nicht zugelassen, weil die politischen Entscheidungsträger den Hardliner Ebrahim Raisi im Amt sehen wollten. Die heutigen Konflikte in der iranischen Politik sind daher Kämpfe innerhalb des Lagers der Hardliner und Konservativen.
In welchem Verhältnis steht diese Entwicklung zu den Dynamiken innerhalb der iranischen Gesellschaft?
Die Wahlbeteiligung ist inzwischen sehr niedrig, da es für die Bevölkerung derzeit nichts zu wählen gibt. Interessanterweise lässt sich für die iranische Gesellschaft eine ganz andere Dynamik als in der Politik beobachten: Sie wird offener, was sich etwa in einer stärkeren Säkularisierung, Verwestlichung und Modernisierung zeigt. Natürlich ist die iranische Gesellschaft kein monolithischer Block, das ist unmöglich in einem Land von fast 85 Millionen Einwohner:innen – aber dennoch lässt sich zum Beispiel eine wachsende Kluft feststellen zwischen den Klerikern und dem Regime sowie den jungen Generationen, die weniger eine religiöse, sondern eine nationale oder kulturelle Komponente ihres Selbstverständnisses als Iraner:innen in den Vordergrund rücken.
Dr. Raz Zimmt, ist führender Iran-Experte in Israel und arbeitet als Research Associate am Alliance Center for Iranian Studies, Tel Aviv University, sowie am Institute for National Security Studies (INSS) in Tel Aviv. Er hat jüngst sein neues Buch „Iran From Within: State and Society in the Islamic Republic“ veröffentlicht (bislang nur auf Hebräisch verfügbar). Spannende Einblicke in das Buch gab es kürzlich im englischsprachigen Podcast der Haaretz.
Wer sind die zentralen politischen Entscheidungsträger im Iran?
An der Spitze steht Ali Chamenei, der Oberste Führer, der die zentralen strategischen Entscheidungen zur Außenpolitik, zum Atomprogramm oder auch zu innenpolitischen Fragen trifft. Dazu kommt der Oberste Nationale Sicherheitsrat. Dieses 12-köpfige Organ wird von Präsident Raisi geleitet. Seine Entscheidungen aber setzen die Zustimmung von Chamenei über den Weg seiner Repräsentanten im Rat voraus.
Was sind aktuell die wichtigsten Themen für Chamenei und den Obersten Nationalen Sicherheitsrat?
Oberste Priorität hat die wirtschaftliche Lage. Hier hat der Präsident mehr Entscheidungsfreiheiten, wie etwa kürzlich bei der Erhöhung der Preise für staatlich subventionierte Produkte. Aktuell geht es darum, die iranische Ökonomie an die Sanktionen wegen des Atomprogramms anzupassen. Chamenei, aber auch die Regierung vertreten die Haltung, dass der Iran nicht vorschnell zum JCPOA oder einem anderen Abkommen mit dem Westen zurückkehren – sondern über eine „Widerstandsökonomie“ mit den Auswirkungen der Sanktionen kreativ umgehen sollte.
Was bedeutet das konkret?
Diese Strategie umfasst zum Beispiel den Ausbau der Abhängigkeit von China durch Ölexporte zur Umgehung der Sanktionen. Daneben die Diversifizierung der eigenen Wirtschaft in Bezug auf Absatzmärke wie auch Produkte. So werden nicht nur verstärkt eigene Produkte in Nachbarländer wie Irak oder Afghanistan exportiert, die als weniger verwundbar durch US-Sanktionen gelten. Dazu kommt der Versuch, sich weniger abhängig vom Ölexport zu machen sowie Importe zu reduzieren, etwa über die eigene Produktion von Zulieferteilen in der Automobilindustrie. In alldem konnte der Iran zwar deutliche Fortschritte erzielen. Insgesamt aber stellen diese Entwicklungen und Bestrebungen lediglich sicher, dass iranische Volkswirtschaft die Sanktionen irgendwie überlebt. Wirtschaftswachstum gibt es kaum.
Wie hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die Position des Iran im Nahen Osten beeinflusst?
Der Krieg hat die iranische Haltung in zwei Aspekten bekräftigt. Erstens in Bezug auf die Wahrnehmung einer nun herrschenden, multipolaren Weltordnung, die geprägt ist von einem massiven Bedeutungsverlust der USA und einer wichtigeren Rolle von anderen Mächten wie China, Russland, dem Iran und Indien; zweitens, dass die Aufgabe der eigenen strategischen Fähigkeiten – wie die Ukraine es mit ihren Nuklearwaffen gemacht hat –, einen um die eigenen Abschreckungskapazitäten bringt. Beim Iran umfasst das nicht nur das Atomprogramm, sondern auch seine Langstreckenraketen.
Man hört immer wieder, Russland zöge sich aus Syrien zurück. Stimmt das?
Dass Russland seine Streitkräfte aus Syrien in die Ukraine abzieht oder seine strategische Präsenz in Form seiner Militärbasen aufgibt, halte ich für sehr unwahrscheinlich. In manchen weniger wichtigen Gegenden aber könnten iranische oder pro-iranische Streitkräfte die russischen tatsächlich ersetzen. Aber das bleibt abzuwarten. Eine weitere wichtige Implikation des Ukraine-Krieges ist der Engpass an Weizen. In den letzten Tagen kam es im Iran vor diesem Hintergrund zu Protesten gegen die hohen Preise für Brot, Eier und Hühnchen.
Unter Donald Trump hatten sich die USA 2018 aus der „Wiener Nuklearvereinbarung über das iranische Atomprogramm” (dem Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA) zurückgezogen. Sein Nachfolger Joe Biden beabsichtigt, das 2015 zusammen mit China, Frankreich, Deutschland, Russland, Großbritannien, Europäischen Union und dem Iran ausgehandelte Abkommen wiederzubeleben. Wie ist der Stand der Dinge bei den Verhandlungen?
Seit nach Joe Bidens Amtsantritt Anfang 2021 gab es mehrere Verzögerungen. Zunächst brauchte Biden selbst mehrere Monate, um eine Strategie zu entwickeln und die Gespräche zu starten. Darüber hinaus wollte Chamenei vor den iranischen Präsidentschaftswahlen im Juni 2021 Raisis scheidenden Vorgänger Rohani nicht aufgewertet sehen durch eine Rücknahme der Sanktionen infolge eines möglichen neuen Abkommens. Und schließlich dauerte es noch etwas, bis der Iran unter Raisi bereit für Verhandlungen war. Ihre vorletzte, siebte Runde gestaltete sich sehr schwierig, weil die Iraner neue Hardliner-Positionen vertreten haben und sogar in einigen unter Rohani bereits ausgehandelten Punkten wie etwa ihre Forderungen nach US-Garantien wieder zurückgerudert sind. In der letzten Runde war der Iran aber wieder etwas flexibler.
Was sind aktuell die zentralen Streitpunkte?
Nach dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine kündigte der russische Außenminister Sergej Lawrow an, sich einer Rückkehr zum JCPOA zu widersetzen, solange russische-iranische Interaktionen nicht von zukünftigen Sanktionen gegen Russland ausgenommen sind. Dieser Streitpunkt wurde in meinen Augen aber nach Gesprächen zwischen Russland und dem Iran gelöst. Die wohl schwierigste Angelegenheit betrifft die iranischen Revolutionsgarden. Die US-Administration wird sie höchstwahrscheinlich nicht, wie vom Iran gefordert, von ihrer Liste für ausländische Terrororganisationen nehmen. Das liegt vor allem am innenpolitischen Druck. Die Iraner wiederum werden bei diesem Streitpunkt wohl nicht so leicht klein beigeben. Denn die Revolutionsgarden haben eine immense Bedeutung im politischen System wie auch in der Wirtschaft des Iran.
Wollen die Iraner dennoch zurück zum JCPOA?
Die Iraner realisieren, dass trotz ihrer „Widerstandsökonomie“ die Beendigung der Sanktionen sehr wichtig für sie ist. Ich denke, sie wollen daher zurück zum JCPOA – aber nicht zu jedem Preis. Sie wissen etwa um die Möglichkeit, eines republikanischen US-Präsidenten nach Biden und sind sich bewusst, dass die meisten europäischen Unternehmen wegen politischer und ökonomischer Unsicherheiten ihre Geschäfte ohnehin nicht wiederaufnehmen werden. Zudem sind die Iraner nicht gerade erpicht darauf, den beträchtlichen Fortschritt in ihrem Atomprogramm wieder aufzugeben.
Wie bewerten Sie selbst das JCPOA?
So problematisch das Abkommen in verschiedener Sicht auch war – falls es nicht wiederbelebt wird, haben wir eine viel schlechtere und sehr gefährliche Alternative: nämlich, dass der nukleare Fortschritt des Iran weitergeht.
Welche Position zum JCPOA vertritt die israelische Regierung unter Premierminister Naftali Bennett?
Im Gegensatz zu Netanyahu vermeidet Bennett die öffentliche Konfrontation mit der US-Administration. Inhaltlich aber gibt es keine wirklichen Unterschiede, die israelische Position ist klar: kein Zurück zum JCPOA, und das nicht nur weil das alte Abkommen ein fehlerhafter Deal war, sondern ein neues Abkommen wohl noch schlechter sein würde. Wir sind ja schon sehr nah dran an den Sunset Clauses (die Auslaufklauseln des JCPOA sehen vor, dass 2023 die ersten Beschränkungen automatisch wegfallen werden, Anm. d. Red.). Zudem bleibt der Iran inzwischen nicht mehr zwölf, sondern nur noch 6 bis 8 Monate vom Break Out entfernt, selbst wenn es ein Abkommen geschlossen wird (dt. „Durchbruch“, der Zeitpunkt, an dem der Iran das für eine Atombombe nötige Spaltmaterial herstellen kann, Anm. d. Red.). Insofern kann die Position der israelischen Regierungen sehr gut verstehen. Nur: der aktuelle Status Quo ohne jegliches Abkommen ist noch schlechter.
Was tut die israelische Regierung, um den nuklearen Fortschritt des Iran zu stoppen?
Israel unterstützt den ökonomischen Druck auf den Iran. In anderen Worten: es geht um die Sicherstellung einer besseren Durchsetzung der US-Sanktionen. Dazu kommen die sogenannten „verdeckten Aktivitäten“, die darauf abzielen, das Nuklearprogramm zu verzögern. Als allerletztes Mittel bleibt natürlich die militärische Option. Die will niemand in Israel. Aber wenn der Iran den Break Out erreicht haben oder sehr nah dran an einer Nuklearwaffe sein sollte, dann wird man in Israel die militärische Option in Betracht ziehen und dürfte auch von ihr Gebrauch machen.
Wie blickt man in der israelischen Politik und Bevölkerung auf einen möglichen Präventivschlag?
Im militärischen und politischen Establishment, aber auch in der israelischen Bevölkerung ist man sich bewusst, dass ein israelischer Präventivschlag auf die Nuklearanlagen im Iran unmittelbare Konsequenzen haben würde. Vergeltungsschläge würden dann entweder direkt vom Iran oder über die Hisbollah aus dem Libanon kommen. Dennoch sieht die Mehrheit der Israelis einen nuklearen Iran – dessen Staatideologie bekanntermaßen die Zerstörung Israels beinhaltet – als eine schlechtere Option. Die Chance, dass der Iran seine Nuklearwaffen gegen Israel tatsächlich einsetzt, ist zwar gering, aber die Bedrohung durch einen nuklearen Iran ist grundlegend und existentiell. Massiver Raketenbeschuss aus dem Norden hingegen wäre schlimm, aber im Vergleich „bloß“ ein extrem großes Risiko.
Die wohlwollende Berichterstattung über Proteste im Iran scheint immer wieder von Wunschdenken geprägt zu sein, so als würden die Protestierenden, nicht nur ihre Stimme gegen ihre elendige wirtschaftliche Lage zu erheben, sondern wären drauf und dran, gleich das gesamte Regime zu stürzen. Wie bewerten Sie diese Einschätzung?
Tatsächlich ist da auch in meinen Augen meist Wunschdenken am Werk. Das lässt sich auch für die USA und Israel beobachten lässt. Zwar gibt es die bereits erwähnte Divergenz zwischen dem autokratischen Regime und der sich modernisierenden und verwestlichenden iranischen Gesellschaft. Doch wir sollten uns das nicht zu schematisch vorstellen. Zudem bezogen sich die Proteste der letzten Jahre im Kern vor allem auf die ökonomische Situation.
Es gab zwar auch politische Slogans gegen Chamenei, Raisi oder die Regierung als solche, aber die Protestierenden forderten in der Regel keinen Regime Change. Ich befürchte, dass das brutale und vor nichts zurückschreckende Regime ohnehin stärker sein würde als Proteste. Das liegt auch an seiner Unterstützung durch die loyalen Revolutionsgarden, die im Gegensatz zum ägyptischen Militär etwa, bei einem Fall des Regimes gleich mit ihm untergehen würden.
Kann man dann überhaupt von einer Protestbewegung sprechen?
Das ist ein guter Punkt, denn die Proteste finden ja nur vereinzelt, vor allem in der Peripherie, über das Land verteilt und ohne die Beteiligung der eigentlich sehr wichtigen Mittelklasse statt. Es existiert keine Koalition zwischen den verschiedenen Kräften und Sektoren der Gesellschaft, so wie etwa 1979 beim Sturz des Shah. Zwar schließen sich immer mehr Iraner:innen Protesten an, doch scheint es mir gleichzeitig ein Gespür dafür zu geben, dass eine Alternative zum Regime vielleicht sogar noch schlimmer sein könnten – wie die Entwicklungen in der arabischen Welt und die Erfahrungen mit der Islamischen Revolution im Iran selbst zeigen. Insgesamt würde eine Verbesserung der ökonomischen Situation die Proteste wohl kleinhalten.
Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie als Israeli zum Iran-Experten wurden?
Meinen ersten Studienabschuss habe ich Ende der 1980er, Anfang der 90er in Middle Eastern History in Jerusalem gemacht. Schon damals konnte ich mich für die iranische Geschichte und Kultur begeistern und lernte neben Arabisch auch Farsi. Später habe ich dann beim israelischen Militär zum Thema Iran gearbeitet, meinen Masterabschluss und einen PhD in Middle Eastern History gemacht. Seit meiner Pensionierung vor sieben Jahren arbeite ich nun als Iranexperte am Alliance Center for Iranian Studies an Tel Aviv University sowie am Institute for National Security Studies (INSS) in Tel Aviv.
Gibt es denn viele „Iranologen“ in Israel?
Israel ist ein kleines Land, da gibt es auch wenige Experten für Syrien, Ägypten oder sogar für die Palästinenser:innen. Das Interesse am Iran ist wegen des Atomprogramms und seinen Aktivitäten in der gesamten Region in den letzten Jahren aber gewachsen. Die meisten Israelis – ausgenommen diejenigen mit persischen Wurzeln natürlich – blicken auf den Iran vor allem aus einer von den Themen Sicherheit, Atomprogramm und Terrorismus geprägten Perspektive. Das iranische Kino, hebräische Übersetzungen von persischer Literatur, die bekannten israelisch-persischen Sängerinnen Rita und Liraz Charhi oder sogar die Apple-TV-Serie „Teheran“ haben jedoch zu einem größeren Interesse an der iranischen Gesellschaft und Kultur geführt.
Und was genau fasziniert Sie am Iran?
Seine Komplexität. Bei jedem Blick in iranische Zeitungen oder soziale Medien merke ich, wie wenig der Iran dem stereotypen Bild eines unter der totalitären Kontrolle der Ayatollahs stehenden, monolithisches Staates entspricht. Es fasziniert mich, wie selbst zu gesellschaftlich sensiblen Themen wie etwa der Säkularisierung, dem Status von Klerikern und Frauen oder den Hinrichtungen lebhafte Diskussionen geführt werden. In den letzten Jahren gab es sogar Artikel, die ein Ende des iranischen Boykotts von israelischen Athleten bei internationalen Sportwettkämpfen forderten. Für mich, der in einer noch immer liberalen Demokratie im Nahen Osten lebt, ist es beeindruckend, dass auch ein über vierzig Jahre herrschendes, islamistisches Regime, lebhafte Debatten innerhalb der Gesellschaft nicht komplett unterdrücken kann.
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