Ein dringender Appell aus der Ukraine: Das Land braucht jetzt die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands
Ausschuss-Vorsitzende aus der Ukrainischen Rada appellieren an den Deutschen Bundestag, der Ukraine angesichts der russischen Kriegsdrohungen beizustehen.
Wir dokumentieren den Brief von Oleksandr Merezhko und Ivanna Klympush-Tsintsadze, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses der Rada und der Vorsitzenden des Ausschusses für die europäische Integration der Ukraine, an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags.
Sie appellieren an ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen, der Ukraine angesichts der russischen Kriegsdrohungen beizustehen. Dazu gehört ein klares Signal an den Kreml, dass im Fall eines erneuten Angriffs auf die Ukraine massive ökonomische Sanktionen erfolgen werden. Nord Stream 2 und der Ausschluss Russlands vom internationalen Zahlungssystem SWIFT dürfen davon nicht ausgeschlossen werden. Dazu gehört aber auch eine Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der Ukraine, um die Schwelle für einen russischen Angriff zu erhöhen. Die Lieferung defensiver Waffensysteme ist durch das in der UN-Charta verankerte Recht auf Selbstverteidigung gedeckt.
Das Zentrum Liberale Moderne arbeitet seit zwei Jahren als Mentoring-Partner für die Abgeordneten der Werchowna Rada. Die beiden Ausschussvorsitzenden des ukrainischen Parlaments haben uns gebeten, den beigefügten Brief an die Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages weiterzuleiten. Deutschland kommt in der aktuellen Krisensituation eine Schlüsselrolle zu. Unsere Verantwortung reicht weit über die Ukraine hinaus. Es geht um die Zukunft der europäischen Friedensordnung.
Marieluise Beck & Ralf Fücks
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Sehr geehrte Damen und Herren,
vor kurzem haben wir 30 Jahre seit der Wiederaufnahme der offiziellen zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Ukraine gefeiert. Sie waren von unterschiedlichen Perioden geprägt, haben sich aber in den letzten Jahren, seit 2014, deutlich vertieft.
Die interparlamentarische Ebene unserer Zusammenarbeit hat eine besondere Rolle bei der Stärkung unserer Beziehungen gespielt, nämlich den Aufbau von Vertrauen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Nationen. Wir freuen uns auf die Gründung und den Beginn der Arbeit der deutsch-ukrainischen Freundschaftsgruppe im Bundestag.
Wir nutzen diese Gelegenheit, um unsere Dankbarkeit für all die politische und wirtschaftliche Unterstützung auszudrücken, die die Ukraine in diesen Jahren von Deutschland in verschiedenen Formen und Formaten erhalten hat.
Die Herausforderungen und Bedrohungen, mit denen wir gemeinsam konfrontiert sind, haben jedoch in den letzten Monaten immens zugenommen.
Der jüngste massive russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine, intensive russisch-belarussische Militärausbildungen, die zunehmend aggressive Rhetorik der russischen Führung, das russische Sicherheitsultimatum – all dies erfordert eine akute und gemeinsame Reaktion.
Es besteht die reale Gefahr, dass Putin einen neuen Angriff auf die Ukraine starten könnte und zwar über verschiedene Szenarien: massive Militärschläge aus dem Osten, Norden und/oder Süden von der besetzten Krim aus; lokale Militäroperationen; Destabilisierung der Lage im Land durch hybride Instrumente (von psychologischem Druck, Cyberangriffen, subversiven Aktivitäten bis hin zu anderen Mitteln, einschließlich eines Komplotts zur Einsetzung einer kremlfreundlichen Führung in Kiew).
Mit diesen Maßnahmen will der Kreml nicht nur die Ukraine, sondern die gesamte zivilisierte Welt einschüchtern und angreifen. Mit der Spirale einer neuen Eskalation im Zentrum Europas erwartet Moskau Zugeständnisse in Bezug auf seine unbegründeten Ultimatum-Forderungen an den Westen, zu denen die Bereitstellung von Garantien für die Nichterweiterung der NATO und „Sicherheitsgarantien“ für Russland gehören.
Das Merkwürdigste an all diesen Worten und Taten ist, dass das Land, das eklatant gegen internationales Recht und internationale Verpflichtungen, einschließlich des Budapester Memorandums, verstoßen hat, das seine Nachbarn angriff, einen Teil ihrer Gebiete besetzte, Tausende von Zivilisten und Militärangehörigen tötete, um ihr Land zu schützen, das Land, das den Bürgern in den besetzten Gebieten seine eigenen Pässe aufzwang, das einen Informations- und Propagandakrieg gegen den Westen und seine direkten Nachbarn geführt hat, das Energie als Waffe eingesetzt hat, das Angriffe auf die freie Welt durch Cyberangriffe, Einmischung in Wahlprozesse, Anschläge und Attentate auf dem Territorium westlicher Länder verübt hat, es wagt, „Sicherheitsgarantien“ für sich zu verlangen.
Die Ukraine wehrt sich nun schon seit acht Jahren gegen die russische Aggression. Zehntausende Tote und Verwundete, etwa 1,5 Millionen Binnenvertriebene, die illegal annektierte und besetzte Krim, Feindseligkeiten im besetzten Ostteil der Ukraine – das ist der Preis, den wir seit 2014 für unseren Wunsch nach Freiheit, nach Demokratie, nach Transformation und nach der Wahl unseres eigenen Weges, der die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der NATO anstrebt, zahlen.
Wir wollen keinen Krieg. Wir wissen aus eigener tragischer Erfahrung, dass nichts schädlicher und beängstigender ist, als wenn die Militärmaschinerie zu kämpfen beginnt. Wir verstehen, dass auch Deutschland der Kriegsopfer gedenkt. Dieses Verständnis des Bösen eint uns. Wir erinnern uns an die Nazi-Besatzung mit ihren vielen Opfern und an den Völkermord an unserer jüdischen Bevölkerung. Wir erinnern uns auch an die Zeiten, in denen Stalins Terror über unser Volk herrschte, und an die Große Hungersnot – den von ihm bewusst herbeigeführten Völkermord an den Ukrainern, dem Millionen unserer Vorfahren zum Opfer fielen.
Wir wollen mit allen unseren Nachbarn in Frieden leben. Wir wollen in Frieden mit Russland leben. Wir wollen, dass dies auf der Grundlage des Völkerrechts und der vollständigen Wiederherstellung unserer territorialen Integrität, Souveränität und Unabhängigkeit geschieht.
Aber heute sehen wir, dass Putin sich anschickt, seine Truppen zu einem massiven Angriffs auf uns aufmarschieren zu lassen. Sollen wir keine Chance haben, das russische Militär davon abzuhalten, unser Land zu besetzen?
Sie sagen „Nie wieder Krieg“ und ziehen diese Schlussfolgerung aus Ihrer Geschichte.
Was sagen Sie aber den Menschen, die angegriffen werden und die Kämpfe nicht begonnen haben?
Kriegsverhinderung bedeutet, dass der Angreifer das Risiko eingeht, dass er nicht gewinnt. Vorbeugung könnte funktionieren, wenn Sie vorbeugende Sanktionen einführen und wenn wir so gut ausgerüstet und ausgebildet sind, dass das Risiko für Russland zu hoch ist, um einen Krieg zu beginnen.
Ihre Regierung hat leider beschlossen, uns nicht bei der Ausrüstung zu helfen, obwohl sie genau weiß, wie sehr das russische Militär in den letzten Jahren modernisiert wurde.
Wir appellieren an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen Parlamentarier, diese Haltung nicht zu teilen. Wollen Sie uns wirklich schlecht ausgerüstet lassen? Halten Sie es wirklich für gerecht und verantwortungsvoll, andere davon abzuhalten, uns auszurüsten? Was antworten Sie uns, den Ukrainern, die wir uns der Tatsache stellen müssen, dass der Krieg schon da ist und eine neue Aggression verhindert werden muss? Was sagen Sie uns, die wir bereit sind, unser Land zu verteidigen, aber Ihr Engagement und Ihre Maßnahmen brauchen, um den Aggressor abzuschrecken und uns zu helfen, vollständig auf den Kampf vorbereitet zu sein?
Wir haben gehört, dass Sie uns ein mobiles Militärkrankenhaus schicken wollen. Da wir für jede Unterstützung aufrichtig dankbar sind, würden wir gerne verstehen – bedeutet das, dass Sie einen Krieg erwarten und dass Sie die Lieferung eines Lazaretts als effiziente Unterstützung für diejenigen definieren, die höchstwahrscheinlich angegriffen werden?
Das Völkerrecht erlaubt das Recht, sich zu verteidigen. Wir sind dazu bereit, sehen aber das Vorgehen Ihrer Regierung, die uns militärisch unterausgerüstet lässt, nicht als wirkliche Solidaritäts- und Unterstützungsleistung an.
Sie könnten argumentieren, dass Sie einen russischen Angriff mit anderen Mitteln als dem militärischen Kampf verhindern wollen. Diesen Wunsch teilen wir voll und ganz.
Aber wir haben gesehen, wie Sie eine North Stream-2-Gasleitung von Russland aus begrüßt und gebaut haben, die Gaslieferungen durch die Ukraine überflüssig macht und uns damit verwundbarer.Außerdem gefährdet dieser Schritt auch die europäische und deutsche Energiesicherheit.
Wir haben gehört, dass sowohl Regierungsbeamte als auch führende Vertreter der Oppositionsparteien in Deutschland bezweifeln, dass die Sperrung von SWIFT für Russland eine wirksame Sanktion ist, oder dass sie befürchten, dass diese Sanktion der deutschen Wirtschaft schaden würde.
Wir erinnern uns, dass viele von Ihnen uns zujubelten, als wir auf dem Maidan für unsere Freiheit kämpften. Können Sie es wirklich ertragen, uns allein zu lassen, wenn die Freiheit als Grundrecht der Menschen und Nationen auf dem Spiel steht?
Es ist von entscheidender Bedeutung zu verstehen, dass die russische Aggression nicht nur eine Bedrohung für die Sicherheit der Ukraine darstellt, sondern eine reale Bedrohung für die Sicherheit Europas als Ganzes. Ihr weiterer Wohlstand und Ihre Sicherheit hängen unmittelbar vom Überleben der freien, unabhängigen, demokratischen Ukraine ab.
Die Gefahr eines Krieges kann nur durch gemeinsame Anstrengungen abgewendet werden, einschließlich präventiver Maßnahmen gegenüber dem Aggressor und direkter und umfassender Unterstützung für das potenzielle Opfer, einschließlich der Bereitstellung von Verteidigungswaffen. Nur ein solches kohärentes Vorgehen kann den Aggressor von rücksichtslosen Handlungen abhalten.
Ihnen steht eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung, die im Falle einer neuen Angriffswelle Russlands gegen die Ukraine die Ernsthaftigkeit der Folgen verdeutlichen könnten. Sie reichen von der internationalen Isolierung und dem Ausschluss Russlands aus allen internationalen Institutionen über die Beendigung der wirtschaftlichen, investiven und finanziellen Zusammenarbeit, einschließlich des Ausschlusses von SWIFT, die Verweigerung der Einfuhr russischer Kohlenwasserstoffe und Rohstoffe bis hin zum Einfrieren russischer Vermögenswerte und der Verhängung persönlicher Sanktionen gegen Putins engsten Kreis.
Eine weitere Präventivmaßnahme ist die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der ukrainischen Armee. Die Ukraine braucht militärisch-technische Unterstützung von Partnern, auch von Deutschland. In dieser Hinsicht können die Parlamentarier eine Schlüsselrolle spielen.
Die Ukrainer stehen seit acht Jahren mit großer Entschlossenheit, Würde und Hingabe an der Spitze des Westens. Daher ist es für uns bedauerlich, seltsame Äußerungen einiger deutscher Beamter über die Zukunft der illegal besetzten Krim oder die Aussicht auf eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO zu hören, oder die Weigerung, mit Waffen zu helfen oder sogar andere von der Hilfe auszuschließen. All dies spielt der russischen Propaganda in die Hände, die darauf abzielt, die europäische und euro-atlantische Staatengemeinschaft zu spalten und die bilateralen Beziehungen zwischen unseren Ländern zu untergraben.
Wir hoffen, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, als Bundestagsabgeordnete bereit sind, die Situation noch einmal politisch neu zu bewerten und mögliche negative Folgen in Zukunft zu verhindern.
Bei dieser Gelegenheit möchten wir Sie bitten, die Führung zu übernehmen und die deutsche Position, Politik und Vorgehensweise entsprechend anzupassen, um der geopolitischen Herausforderung, Solidarität und Verantwortung gerecht zu werden.
Martin Luther King Jr. hat einmal gesagt: „Am Ende werden wir uns nicht an die Worte unserer Feinde erinnern, sondern an das Schweigen unserer Freunde“. Wir hoffen, dass wir uns an die Taten unserer Freunde, einschließlich Deutschlands, erinnern und sie wertschätzen werden.
Es ist unmöglich, Frieden zu erreichen, indem man den Aggressor beschwichtigt. Noch ist es nicht zu spät, den Ansatz zu ändern. Wir hoffen auf Ihre Solidarität und Unterstützung.
Wir bringen unsere volle Bereitschaft zum Ausdruck, die bilaterale interparlamentarische Zusammenarbeit weiter zu vertiefen und freuen uns auf die Fortsetzung des direkten Dialogs mit Ihnen.
Mit freundlichen Grüßen,
Im Namen der Mitglieder des Ausschusses für Außenpolitik und interparlamentarische Zusammenarbeit
Oleksandr Merezhko
Vorsitzender des Ausschusses für Außenpolitik und interparlamentarische Zusammenarbeit,
Partei „Diener des Volkes“
Im Namen der Mitglieder des Ausschusses für die Integration der Ukraine in die EU
Ivanna Klympush-Tsintsadze
Vorsitzende des Ausschusses für die Integration der Ukraine in die EU,
„Partei“ Europäische Solidarität