Countathon statt Landslide – eine Analyse der US-Wahlen

Donald Trump und Joe Biden beim TV-Duell im Präsi­dent­schafts­wahl­kampf am 22. Oktober 2020, Foto: Devi Bones/​Shutterstock

Die Präsi­dent­schafts­wahlen in den USA enden keineswegs mit einem Erdrutschsieg und die Demoskopen müssen sich fragen lassen, was sie beruflich machen. Eine Analyse von Richard Volkmann

Natürlich sollte auch dieser Text eigentlich anders beginnen. Er sollte in New Hampshire bei einem Wähler namens Les Otten einsetzen, der anlässlich des tradi­tio­nellen „Midnight Voting“ in seinem Heimatort Dixville Notch für die Kameras erklärte, warum er als lebens­langer Republi­kaner in diesem Jahr für Joe Biden stimmte. Ein konser­va­tiver Haudegen, der als erster Wähler am Wahltag überhaupt für die Demokraten stimmte: Schöner hätte es sich kein Spindoctor ausdenken können. Les Ottens Urnengang sollte für die Demokraten den Anfang vom Ende des fehlge­schla­genen Experi­ments Donald Trump markieren und den Beginn des von vielen Experten und Beobachtern erwar­teten deutlichen Sieges von Joe Biden über einen histo­risch unpopu­lären und erwie­se­ner­maßen unfähigen Präsi­denten einläuten. Von Les Otten hätte eine gerade Linie zu einem Erdrutschsieg der Demokraten geführt, zu Erfolgen in Staaten wie Florida, Iowa oder Texas, zur Rückge­winnung des Senats; kurzum: zu einem umfas­senden Mandat für Joe Biden.

Tatsächlich aber ist auch zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes am späten Nachmittag des 4. November noch immer nicht klar, wer vom 20. Januar an die Geschicke Amerikas führt. Sehr zurück­haltend gesprochen darf man nur so viel feststellen: Der Erdrutschsieg ist ausge­blieben. Texas, Florida und Iowa waren nie in Gefahr, der Senat dürfte für die Demokraten außer Reich­weite bleiben, und die schöne Symbolik von Les Otten ist ergeb­nislos verpufft. Als großer Verlierer der Wahl stehen indes die Umfra­ge­institute fest, die sich nach dem zweiten monumen­talen Bock in Folge erneut fragen lassen müssen, was sie eigentlich beruflich machen. Aus ihren großen Vorsätzen, die Schwach­stellen von 2016 zu besei­tigen, ist erkennbar ebenso wenig geworden wie bei den die Demokraten selbst, die vier Jahre nach dem Überra­schungssieg von Donald Trump erneut am Rande der Niederlage taumeln. Die angeblich abgestellten Fehler der Clinton-Kampagne, ihre toten Winkel und ihre bräsige Selbst­ge­nüg­samkeit, haben sich, selbst wenn es für Biden am Ende noch ganz knapp reichen sollte, offen­sichtlich an anderer Stelle wiederholt.

Dabei hatten die notorisch streit­freu­digen Demokraten dem Ziel einer Abwahl von Donald Trump von Anfang an alles unter­ge­ordnet. Ideolo­gische Graben­kämpfe standen schon hintan, als die Partei im November 2018 bei den Midterms mit moderaten Kandi­daten zahllose republi­ka­nische Hochburgen in den Suburbs schleifte, und auch im anschlie­ßenden Vorwahl­kampf für die Präsi­dent­schaft, den Elizabeth Warren bereits am Silves­tertag 2018 eröffnete, zeigte die Partei im entschei­denden Moment ein ungewohnt hohes Maß an Disziplin und Geschlos­senheit. Einiger­maßen geräuschlos wurde das riesige Bewer­berfeld ausge­siebt, peinliche Pannen wie der App-Absturz beim Iowa Caucus blieben kurze Ausrut­scher. Besonders eindrucksvoll aber: Als sich nach den ersten Vorwahlen ein revita­li­sierter Bernie Sanders anschickte, mit einer relativen Mehrheit der Delegierten im Rücken erst die demokra­tische Convention ins Chaos zu stürzen und anschließend die Wahl gegen Donald Trump zu verlieren, bewiesen die Demokraten genau das Rückgrat, das den Republi­kaner 2016 im Kampf gegen Trump gefehlt hatte. Um einen Links­po­pu­listen wie Sanders zu verhindern, zogen kurz nachein­ander die wichtigsten zentris­ti­schen Wider­sacher von Joe Biden ihre Kandi­datur zurück und machten so den Weg für eine Konso­li­dierung des moderaten Lagers unter Bidens Führung frei. Der konnte somit bereits im März den Haupt­wahl­kampf beginnen und lag zum Zeitpunkt, als die Corona­krise auch auf diesem Gebiet eine Vollbremsung erfor­derte, schon seit Monaten in Umfragen gegen Donald Trump klar in Führung.

Der äußerst knappe Wahlausgang heute kann leicht vergessen machen, dass Bidens Umfra­ge­vor­sprung gegenüber Trump sogar zu den bestän­digsten und stabilsten der jüngeren Wahlge­schichte zählte. Selbst der Beginn der Pandemie, der wie fast überall auch in Amerika zunächst der Exekutive nützte, konnte Bidens Dominanz nicht brechen. Zu keinem Zeitpunkt lag er weniger als dreieinhalb Prozent vor Donald Trump. Die Wahl war schon im Frühjahr, wie die Ameri­kaner sagen, his race to lose.

In der Folge tat Biden kluger­weise so wenig wie möglich, um das Rennen aus der Hand zu geben. Größere Fehler leistete er sich nicht, während der eben erst der Amtsent­hebung von der Schippe gesprungene Donald Trump wie schon in den Jahren zuvor einen Skandal an den nächsten reihte. Die offen­sicht­liche Inkom­petenz des Amtsin­habers nahm besonders im weiteren Verlauf der Corona-Krise fast schon autopar­odis­tische Züge an: Während Trump den Infek­tio­logen Fauci in Briefings wegbü­gelte, den thera­peu­ti­schen Genuss von Bleiche empfahl und das Corona­virus zum minder­schweren Problem erklärte, wirkte Biden, der sich aus Sicher­heits­gründen monatelang in sein Haus in Delaware zurückzog, wie ein verant­wor­tungs­be­wusster Staatsmann.

Und Trump legte noch nach. Sollte die Wahl doch noch zu seinen Ungunsten ausgehen, so lässt sich der Anfang vom Ende ziemlich präzise auf Juni datieren, als Trump erst für eine bizarre Photo-Op fried­liche Demons­tranten mit Tränengas beschoss und wenige Wochen später in einer uniro­nisch als „post-COVID“ angekün­digten Rally in Tulsa vor halbleeren Rängen sprach. Es folgten unter anderem ein katastro­phales erstes Fernseh­duell Ende September und Trumps eigene COVID-Infektion wenige Tage danach. Stümper­hafte Last-Minute-Schmutz­kam­pagnen wie der October-Surprise-Rohrkre­pierer „Hunter Biden’s Laptop“ rundeten das Bild eines Wahlkampf­teams ab, in dem „jeder tut, was er kann“ nicht als Kompliment gemeint ist.

All das hätte eigentlich das Bild eines Wahlkampfes sein müssen, der angesichts überdeut­licher Zahlen mit einen klaren Sieg des Heraus­for­derers endete. Schließlich wirkte Trump stets wie jemand, dem der Titel des Präsi­denten nur zugefallen war, während Joe Biden von Anfang an den Eindruck erweckte, er bewerbe sich um die Wiederwahl für eine erste Amtszeit.

Dass es zu diesem deutlichen Sieg schluss­endlich nicht kam, hat Gründe, die en detail zu beschreiben eine Aufgabe für die Histo­rikern von morgen ist. Heute dagegen bleibt uns unabhängig vom Ausgang des Dramas nur die betrüb­liche Feststellung, dass der Trumpismus in Amerika bereits deutlich tiefere Wurzeln geschlagen hat als von vielen befürchtet. Eine auf Triba­lismus und Loyalität reduzierte Politik, die politische Leistung und ihre Bewertung im öffent­lichen Raum nicht mehr in einen sinnvollen Zusam­menhang bringen kann oder will, stellt auf Dauer eine Gefahr für die ameri­ka­nische Demokratie dar. Das Problem Trump bleibt also – selbst wenn Biden der Lucky Punch noch glücken sollte. Für Amerika, Europa, den freien Westen, für die Zukunft der liberalen Demokratie und schließlich und endlich für unser aller Nerven­kostüm bleibt uns vorerst nur die Hoffnung, dass ein Sieg der Demokraten am Ende dieser ganz und gar ungewöhn­lichen Wahlkam­pagne stehen möge.

Textende

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