Countathon statt Landslide – eine Analyse der US-Wahlen
Die Präsidentschaftswahlen in den USA enden keineswegs mit einem Erdrutschsieg und die Demoskopen müssen sich fragen lassen, was sie beruflich machen. Eine Analyse von Richard Volkmann
Natürlich sollte auch dieser Text eigentlich anders beginnen. Er sollte in New Hampshire bei einem Wähler namens Les Otten einsetzen, der anlässlich des traditionellen „Midnight Voting“ in seinem Heimatort Dixville Notch für die Kameras erklärte, warum er als lebenslanger Republikaner in diesem Jahr für Joe Biden stimmte. Ein konservativer Haudegen, der als erster Wähler am Wahltag überhaupt für die Demokraten stimmte: Schöner hätte es sich kein Spindoctor ausdenken können. Les Ottens Urnengang sollte für die Demokraten den Anfang vom Ende des fehlgeschlagenen Experiments Donald Trump markieren und den Beginn des von vielen Experten und Beobachtern erwarteten deutlichen Sieges von Joe Biden über einen historisch unpopulären und erwiesenermaßen unfähigen Präsidenten einläuten. Von Les Otten hätte eine gerade Linie zu einem Erdrutschsieg der Demokraten geführt, zu Erfolgen in Staaten wie Florida, Iowa oder Texas, zur Rückgewinnung des Senats; kurzum: zu einem umfassenden Mandat für Joe Biden.
Tatsächlich aber ist auch zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes am späten Nachmittag des 4. November noch immer nicht klar, wer vom 20. Januar an die Geschicke Amerikas führt. Sehr zurückhaltend gesprochen darf man nur so viel feststellen: Der Erdrutschsieg ist ausgeblieben. Texas, Florida und Iowa waren nie in Gefahr, der Senat dürfte für die Demokraten außer Reichweite bleiben, und die schöne Symbolik von Les Otten ist ergebnislos verpufft. Als großer Verlierer der Wahl stehen indes die Umfrageinstitute fest, die sich nach dem zweiten monumentalen Bock in Folge erneut fragen lassen müssen, was sie eigentlich beruflich machen. Aus ihren großen Vorsätzen, die Schwachstellen von 2016 zu beseitigen, ist erkennbar ebenso wenig geworden wie bei den die Demokraten selbst, die vier Jahre nach dem Überraschungssieg von Donald Trump erneut am Rande der Niederlage taumeln. Die angeblich abgestellten Fehler der Clinton-Kampagne, ihre toten Winkel und ihre bräsige Selbstgenügsamkeit, haben sich, selbst wenn es für Biden am Ende noch ganz knapp reichen sollte, offensichtlich an anderer Stelle wiederholt.
Dabei hatten die notorisch streitfreudigen Demokraten dem Ziel einer Abwahl von Donald Trump von Anfang an alles untergeordnet. Ideologische Grabenkämpfe standen schon hintan, als die Partei im November 2018 bei den Midterms mit moderaten Kandidaten zahllose republikanische Hochburgen in den Suburbs schleifte, und auch im anschließenden Vorwahlkampf für die Präsidentschaft, den Elizabeth Warren bereits am Silvestertag 2018 eröffnete, zeigte die Partei im entscheidenden Moment ein ungewohnt hohes Maß an Disziplin und Geschlossenheit. Einigermaßen geräuschlos wurde das riesige Bewerberfeld ausgesiebt, peinliche Pannen wie der App-Absturz beim Iowa Caucus blieben kurze Ausrutscher. Besonders eindrucksvoll aber: Als sich nach den ersten Vorwahlen ein revitalisierter Bernie Sanders anschickte, mit einer relativen Mehrheit der Delegierten im Rücken erst die demokratische Convention ins Chaos zu stürzen und anschließend die Wahl gegen Donald Trump zu verlieren, bewiesen die Demokraten genau das Rückgrat, das den Republikaner 2016 im Kampf gegen Trump gefehlt hatte. Um einen Linkspopulisten wie Sanders zu verhindern, zogen kurz nacheinander die wichtigsten zentristischen Widersacher von Joe Biden ihre Kandidatur zurück und machten so den Weg für eine Konsolidierung des moderaten Lagers unter Bidens Führung frei. Der konnte somit bereits im März den Hauptwahlkampf beginnen und lag zum Zeitpunkt, als die Coronakrise auch auf diesem Gebiet eine Vollbremsung erforderte, schon seit Monaten in Umfragen gegen Donald Trump klar in Führung.
Der äußerst knappe Wahlausgang heute kann leicht vergessen machen, dass Bidens Umfragevorsprung gegenüber Trump sogar zu den beständigsten und stabilsten der jüngeren Wahlgeschichte zählte. Selbst der Beginn der Pandemie, der wie fast überall auch in Amerika zunächst der Exekutive nützte, konnte Bidens Dominanz nicht brechen. Zu keinem Zeitpunkt lag er weniger als dreieinhalb Prozent vor Donald Trump. Die Wahl war schon im Frühjahr, wie die Amerikaner sagen, his race to lose.
In der Folge tat Biden klugerweise so wenig wie möglich, um das Rennen aus der Hand zu geben. Größere Fehler leistete er sich nicht, während der eben erst der Amtsenthebung von der Schippe gesprungene Donald Trump wie schon in den Jahren zuvor einen Skandal an den nächsten reihte. Die offensichtliche Inkompetenz des Amtsinhabers nahm besonders im weiteren Verlauf der Corona-Krise fast schon autoparodistische Züge an: Während Trump den Infektiologen Fauci in Briefings wegbügelte, den therapeutischen Genuss von Bleiche empfahl und das Coronavirus zum minderschweren Problem erklärte, wirkte Biden, der sich aus Sicherheitsgründen monatelang in sein Haus in Delaware zurückzog, wie ein verantwortungsbewusster Staatsmann.
Und Trump legte noch nach. Sollte die Wahl doch noch zu seinen Ungunsten ausgehen, so lässt sich der Anfang vom Ende ziemlich präzise auf Juni datieren, als Trump erst für eine bizarre Photo-Op friedliche Demonstranten mit Tränengas beschoss und wenige Wochen später in einer unironisch als „post-COVID“ angekündigten Rally in Tulsa vor halbleeren Rängen sprach. Es folgten unter anderem ein katastrophales erstes Fernsehduell Ende September und Trumps eigene COVID-Infektion wenige Tage danach. Stümperhafte Last-Minute-Schmutzkampagnen wie der October-Surprise-Rohrkrepierer „Hunter Biden’s Laptop“ rundeten das Bild eines Wahlkampfteams ab, in dem „jeder tut, was er kann“ nicht als Kompliment gemeint ist.
All das hätte eigentlich das Bild eines Wahlkampfes sein müssen, der angesichts überdeutlicher Zahlen mit einen klaren Sieg des Herausforderers endete. Schließlich wirkte Trump stets wie jemand, dem der Titel des Präsidenten nur zugefallen war, während Joe Biden von Anfang an den Eindruck erweckte, er bewerbe sich um die Wiederwahl für eine erste Amtszeit.
Dass es zu diesem deutlichen Sieg schlussendlich nicht kam, hat Gründe, die en detail zu beschreiben eine Aufgabe für die Historikern von morgen ist. Heute dagegen bleibt uns unabhängig vom Ausgang des Dramas nur die betrübliche Feststellung, dass der Trumpismus in Amerika bereits deutlich tiefere Wurzeln geschlagen hat als von vielen befürchtet. Eine auf Tribalismus und Loyalität reduzierte Politik, die politische Leistung und ihre Bewertung im öffentlichen Raum nicht mehr in einen sinnvollen Zusammenhang bringen kann oder will, stellt auf Dauer eine Gefahr für die amerikanische Demokratie dar. Das Problem Trump bleibt also – selbst wenn Biden der Lucky Punch noch glücken sollte. Für Amerika, Europa, den freien Westen, für die Zukunft der liberalen Demokratie und schließlich und endlich für unser aller Nervenkostüm bleibt uns vorerst nur die Hoffnung, dass ein Sieg der Demokraten am Ende dieser ganz und gar ungewöhnlichen Wahlkampagne stehen möge.
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