Wie vermisst man Freiheit?
Unsere liberale Gesellschaft ist in Gefahr. Aber woran erkennt man eigentlich Freiheit und deren Bedrohungen? Und kann uns Kant heute noch dabei helfen, diesen Gefährdungen zu begegnen? Diesen Fragen widmet sich der Kommunikationsberater und liberale Unternehmer Hans F. Bellstedt in seinem neuen Buch „Die Vermessung der Freiheit“.
Dass die Freiheit bedroht ist, gehört zu den großen Allgemeinplätzen der politischen Debatte. Aber wie vermisst man eigentlich Freiheit und ihre Bedrohungen? Dieser Frage widmet sich der Kommunikationsberater und liberale Unternehmer Hans F. Bellstedt in seinem neuen Buch „Die Vermessung der Freiheit“.
Er nähert sich dem Freiheitsbegriff auf zweierlei Weise. Zum einen zeichnet er ihren langen Weg als Ideengeschichte nach – bis die Freiheit schließlich zu einem zentralen Wert moderner Demokratien wurde. Anders als in jüngeren Werken zum Liberalismus bezieht er sich dabei nicht auf Judith Shklars „Liberalismus der Furcht“ oder John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“.
Bellstedt bezieht sich zentral und immer wieder auf Immanuel Kant. Warum Kant? Weil für Bellstedt das mündige Individuum zentral ist: als Unternehmer:in, als gebildetes Subjekt, als Teilnehmer:in an Debatten und vieles mehr. Damit rücken die Kontextbedingungen des modernen Lebens in den Fokus: Was brauchen Menschen, um befähigt zu werden, sich ihres eigenen Verstandes zu bemächtigen? Was hindert sie daran?
Die offene Gesellschaft ist in Gefahr
Zum anderen vermisst er Freiheit anhand ihrer Gefährdungen. Und diese sind zahlreich. Die äußeren Bedrohungen von China über den Iran und Russland bis hin nach Ungarn und zu den gespaltenen USA. Er macht klar, dass sie unterschiedliche Formen annehmen können: Theokratische Regime neben Mafiastaaten, eine sich politisch äußernde Spaltung der Gesellschaft oder „illiberale“ Regime, die die Demokratie mit ihren ganz eigenen Mitteln aushöhlen.
Im Innern sieht er überbordende Bürokratie, eine Vollkaskoabsicherung durch den Staat oder die Beschränkungen während der Pandemie als Prüffälle unserer liberalen Ordnung und kleiner werdende Diskursräume als Bedrohungen der Freiheit an – schränken sie doch alle die Mündigkeit von Individuen ein. Mehr als genug Gründe also, sich Sorgen zu machen, ob es unsere offene Gesellschaft auch noch in zehn oder zwanzig Jahren geben wird.
Freiheit in der Transformation
Zwei naheliegende Fragen stellt das Buch nicht: Warum wenden sich so viele von der freiheitlichen Demokratie ab? Global, aber auch in Europa und in Deutschland. Hat die freiheitliche Demokratie nicht geliefert? Sind, ist man vor die Entscheidung gestellt, Wohlstand und/oder Sicherheit in einer unübersichtlichen Welt erstrebenswerter, oder ist die Unterdrückung durch machthungrige Autokraten einfach stärker? Haben Autokraten gerade ein Momentum, an das sich Menschen klammern? Sind es die Verfehlungen liberaler Demokratien, die nun auf sie zurückfallen – etwa der Versuch der Verbreitung von Demokratie im Irak oder Afghanistan oder die sehr ungleiche Handelsbedingungen mit vielen Staaten? Ist es das nicht eingelöste Aufstiegsversprechen? Oder ist es die geringe Ausbreitung der Aufklärung jenseits westlicher Gesellschaften, wie der Autor selbst nahelegt?
Zweitens fehlt eine zentrale Gefährdung der Freiheit – der Klimawandel – fast vollständig im Buch. Wie verändert sich Freiheit inmitten einer riesigen Transformation? Welche Spielräume, die wir heute noch haben, stehen in zehn, in 20 Jahren vielleicht nicht mehr zur Verfügung? Welche Freiheiten werden zukünftige Generationen haben? Freiheit ist dynamisch, sie wird 2050 nicht dieselbe sein wie heute, sie ist heute nicht dieselbe wie 1950. Es braucht deshalb Überlegungen, die heute schon die Zukunft mitreflektieren.
Um die richtigen Antworten auszuloten, wollen beide Aspekte – die Gründe für die Abwendung von der Freiheit und die zukünftigen Bedrohungen der Freiheit durch den Klimawandel – bedacht werden.
Ideen für die Zukunft der Freiheit
Was also tun, wollen wir Idee und Praxis der Freiheit nicht bald schmerzlich vermissen? Das Buch enthält einige überraschende Ideen – etwa eine Verlegung des Europaparlaments nach Danzig, um den mittelosteuropäischen Staaten mehr Gewicht in der EU zu geben oder eine zentrale europäische Planung und Organisation von Verteidigungsindustrie sowie Verkehrs‑, Digital- und Energieinfrastrukturen. Bellstedt plädiert auch für ein soziales Pflichtjahr für alle Bürger:innen und ein starkes, gut ausgestattetes staatliches Bildungssystem anstatt Privatschulen.
Natürlich gehören auch einige liberale Klassiker zu den Lösungsvorschlägen. So sollte Freihandel ebenso gestärkt werden wie Unternehmergeist und Selbstständigkeit, die Altersvorsorge sich nicht nur auf der staatlichen Rentenversicherung beschränken und Bürokratie abgebaut werden. Interessant dabei ist, dass Bellstedt dem Staat oder der EU in bestimmten Bereichen mehr Kompetenzen geben möchte – was man von einem Liberalen erst einmal nicht erwarten würde. Die Forderungen enthalten Zündstoff fürs liberale Publikum und es ist wohltuend, dass ein Liberaler sie ernsthaft zur Debatte stellt.
Ist Foucault schuld?
Zwei Darstellungen überraschen im Buch. Linke Identitätspolitik und Cancel Culture gelten für Bellstedt als Gift für den offenen Diskurs. Foucaults Machtanalysen, so Bellstedt, seien schuld – und überall würden Auftritte von Menschen wegen Protesten gegen deren vermeintlich diskriminierende Positionen abgesagt. Natürlich: Diese Absagen gibt es.
Aber Cancel Culture gibt es auch von rechts. Veranstaltungen demokratischer Parteien werden abgesagt, weil Bauern protestieren, es gibt – vor allem von rechts – Mord- und Vergewaltigungsdrohungen gegen Personen, die sich öffentlich äußern. Auch durch diese zum Teil massiven Drohungen werden Menschen zum Rückzug gezwungen, aus der Öffentlichkeit gedrängt. Und diese Anfeindungen sind ebenso eine Gefahr für die offene Gesellschaft wie die Proteste in universitären Milieus, die der Autor beschreibt. Eine ausgewogenere Darstellung der Bedrohung offener Diskurse hätte gutgetan, vor allem, weil die Gefahr für Leib und Leben – siehe Walter Lübcke und andere – vor allem von rechts kommt.
Zivilgesellschaft und Staat
Auch Bellstedts Auffassung von Bürgergesellschaft ist diskussionswürdig. Er geht aus vom Ideal der Bürgergesellschaft, in der die, die mehr leisten können, sich stärker einbringen. Kritisch sieht er die staatliche Bezuschussung zivilgesellschaftlichen Engagements – das könnten freie Bürger:innen besser lösen.
Ein paternalistischer Staat, der der Zivilgesellschaft die Themen diktiert oder staatliche Aufgaben – etwa an Schulen – an zivilgesellschaftliche Akteur:inne für wenig Geld delegiert, ist ein Problem. Aber es gibt durchaus vielversprechende Ansätze, etwa in der Arbeit der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt, bedarfsorientiert und staatlich finanziert mit der Zivilgesellschaft zu arbeiten – statt diese nur nach Gutdünken zu alimentieren.
Breite Förderprogramme sind wichtig, denn: Überlässt man das Engagement nur den Bessergestellten, werden sie sich auch nur um Themen kümmern, die sie für wichtig erachten. Weniger privilegierte Gruppen finden sich weniger wieder in der Zivilgesellschaft, ihre Stimmen werden weniger gehört. Und sind Zuwendungsempfänger, die jahrelang ehrenamtlich Projekte verfolgen und mit innovativen Ideen die Gesellschaft gestalten, wirklich nur Geldempfänger des Staates? Tragen sie nicht vielmehr dazu bei, auf Probleme aufmerksam zu machen – und probieren Lösungen gleich aus?
Man kann die Zivilgesellschaft auch als lebendigen Ausdruck liberaler Demokratien sehen, als ihr Rückgrat – egal ob Unternehmerin oder Aktivist, NGO-Mitarbeiterin oder ehrenamtlicher Naturschützer. Staatliche Förderprogramme sind auch deshalb wichtig, weil sie viel stärker kontrolliert, diskutiert und umkämpft sind als solche von Stiftungen und Philanthropen. Es kommt aber – da muss man Bellstedt zustimmen – darauf an, wie sie ausgestaltet sind.
Eine Philosophie des Allgemeinen
„Die Vermessung der Freiheit“ liefert eine über weite Strecken differenzierte Auseinandersetzung mit den Gefährdungen der Freiheit. Bellstedt zeichnet Argumente für und gegen verschiedene Politiken nach, bevor er sich selbst positioniert. Diese Differenzierung ist wohltuend, kontrastiert sie doch stark mit den auf „hot takes“ beruhenden Auseinandersetzungen in sozialen, aber auch in einigen Printmedien.
Das Buch zeigt, wie die zentrale Tugend der Aufklärung – die Vernunft – genutzt werden kann. Bellstedt beweist, dass mit dem Werkzeugkoffer liberalen Denkens eben nicht nur den Besserverdienenden, Wohlhabenden und Unternehmer:innen gedient ist, sondern vielmehr eine Philosophie des Allgemeinen dahintersteckt. Denn Liberalismus ist mehr als die ihn auf Marktradikalismus verkürzende Kritik am „Neoliberalismus“.
Liberalismus als Grundlage moderner Demokratien
Das Buch fügt sich gut ein in eine Reihe neuerer Veröffentlichungen, die den Liberalismus als Grundlage unserer modernen Demokratien wieder ins Zentrum rücken. Im Gegensatz zu den stärker philosophisch ausgerichteten Büchern, etwa von Jan-Werner Müller oder Elif Özmen, präsentiert Bellstedt eine Reihe konkreter Politikvorschläge, um die Freiheit zu verteidigen. Und wie Müller, Özmen aber auch der von Fücks und Manthe herausgegebene Band „Liberalismus neu denken“ zeigt er: Vielleicht ist der Liberalismus, trotz aller Fehler, Übertreibungen und Unterlassungen, doch eine wichtige Grundlage der freien Welt, die auch die meisten seiner Kritiker:innen verteidigen wollen.
Hans F. Bellstedt (2023): Die Vermessung der Freiheit. Was unsere offene Gesellschaft bedroht – und wie wir sie stärken können. Otto Meißner Verlag. 19,90 €
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