Wir sind der Zukunft nicht ausgeliefert
Ein Gespräch mit Ralf Fücks über die Herausforderungen der freien Gesellschaft und den Weg in eine ökologische Moderne
Das Interview erschien zuerst in DIE FUNZEL – Philosophische Halbjahresschrift (Ausgabe 5 – Juli 2020).
Die ergebnisoffene Diskussion ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften genuiner Teil der Erkenntnisproduktion – und unter dem Distanzgebot der Pandemie mit neuen Herausforderungen verbunden. Ralf Fücks will den Fragen der Gegenwart mit einer positiven Offenheit begegnen. Als dann endlich der Weg frei ist für ein Interview, nimmt er sich Zeit, seine Antworten sorgfältig zu formulieren. In beeindruckender Weise spricht er kraftvoll und unaufgeregt zugleich.
Herr Fücks, geben Sie uns zu Beginn die Möglichkeit, Ihre Gedankenwelt etwas kennen zu lernen: Welche Denker und Denkschulen haben Sie besonders beeindruckt und warum?
Ralf Fücks: Da ich ja schon ein etwas älteres Semester mit einer ziemlich bewegten Biographie bin, ist das ein bunter Kanon an Autoren – angefangen von Marx und Adorno über Hannah Arendt, Karl Popper und François Furet bis zu einer ganzen Reihe von Schriftstellern, von Goethes Faust bis Philip Roth. Ich lese ja nicht nur politische Literatur. Das ist eine Bildungsgeschichte mit einigen Biegungen und Wendungen: Ich habe mich damals als blutjunger Schüler und dann als Student schnurstracks in die linksradikale Bewegung Ende der 60er und Anfang der 70er gestürzt. Die ersten Jahre waren marxistische Theoretiker auch mein Lektürekanon und es brauchte eine Zeit, bis mich da ‘rausgearbeitet habe. Eine große Rolle hat da zum Beispiel die Lektüre der sogenannten Renegaten-Schriftsteller gespielt, die heute kaum jemand kennt, die aber unbedingt lesenswert sind: Arthur Koestler, Manes Sperber, Wolfgang Leonhard und andere, die in den 30er Jahren kommunistische Intellektuelle waren und dann zwischen die Mühlsteine von Nationalsozialismus und Stalinismus geraten sind; die sich dann unter großem persönlichem Ringen zu einem demokratischen, liberalen Standpunkt durchgearbeitet haben. Das hat mich enorm beeindruckt und diese Lektüre war für mich auch ein intellektuelles Sprungbrett, um mich von meiner linksradikalen Phase zu verabschieden.
Dann gab es einen zweiten Abschnitt, da hat ökologische Literatur eine große Rolle gespielt. Ich bin nach einer gewissen Inkubationszeit, einer Phase der Neuorientierung, 1982 zu den Grünen gegangen – als bewusster Neuanfang. Das war natürlich verbunden mit der Entdeckung der ökologischen Frage, mit dem berühmten Report des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums[1] – über den es viel zu sagen gibt, auch Kritisches aus heutiger Sicht – bis zu Rudolf Bahos „Die Alternative“. Und schließlich kam nochmal eine Phase der Wiederentdeckung von im weitesten Sinne liberalen Autoren wie Hannah Arendt und Karl Popper.
Dieser intellektuelle Facettenreichtum findet sich auch in Ihren Arbeiten wieder. Da ich selbst vor allem mit den liberalen Vertretern in der Geschichte des ökonomischen Denkens vertraut bin, hat es mich sehr fasziniert, dass Sie in Ihrem Buch „Freiheit verteidigen“[2] unter anderem Karl Marx anführen, um den Kapitalismus gegen vormodern geprägte Kritik zu verteidigen.
Ralf Fücks: Ja! Kaum jemand hat den Kapitalismus besser erfasst als Marx. Damit meine ich nicht seine ökonomische Theorie im engeren Sinn und seine Untergangsprognosen. Da gibt es profunde Irrtümer, dennoch hat er hat den Geist des Kapitalismus unglaublich gut verstanden: die ständige Erneuerung, permanente Umwälzung, unaufhörliche Veränderung, dieses Rastlose, das den Kapitalismus als Produktionsweise ausmacht. Schon die Rede über „den Kapitalismus“ ist problematisch, das ist eine dünne Abstraktion. Tatsächlich existieren kapitalistische Wirtschaftsformationen – im Plural! – in einer Vielfalt unterschiedlicher Ausprägungen, die alle abhängen vom politischen und kulturellen Kontext. Es ist eben nicht einfach so, wie die marxistische Orthodoxie behauptet, dass die Politik nur ein Wurmfortsatz der kapitalistischen Ökonomie, nur der Vollstrecker der Interessen des Kapitals sei, sondern umgekehrt: Politik hat einen enorm starken Einfluss auf die Ausprägung des Kapitalismus. Man muss sich nur in der Welt umschauen: Zwischen dem chinesischen Staatskapitalismus, dem amerikanischen Kapitalismus und den europäischen Wohlfahrtsstaaten, etwa dem skandinavischen Modell, bestehen himmelweite Unterschiede. Insofern bin ich ausgesprochen reserviert, wenn von „dem Kapitalismus“ gesprochen wird. Und ich finde schon gar nicht, dass man von einer deterministischen Mechanik – wie sie schon bei Marx angelegt ist – ausgehen kann, dass alles bestimmten ehernen Gesetzen folgt, die sich hinter dem Rücken der Menschen durchsetzen und zwangsläufig zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen werden. Das ist empirisch zur Genüge falsifiziert worden. Der Witz am Kapitalismus ist ja gerade, dass er sich in Krisen ständig erneuert.
Gerade im Gespräch mit Leuten, die sich nicht alltäglich mit sozioökonomischen Fragen beschäftigen, merkt man bei Containerbegriffen wie „der Kapitalismus“ auch häufig, dass deshalb ein Dissens entsteht, weil man schon von vornherein nicht über dasselbe spricht.
Ralf Fücks: Man kann natürlich versuchen, ihn auf ein paar charakteristische Grundelemente zu reduzieren – Privateigentum an Produktionsmitteln, Marktkonkurrenz, Geldwirtschaft –, aber damit hat man eigentlich noch gar nichts erklärt.
Sie haben bereits die ständige Dynamik angesprochen haben und dieses ständige Umwälzen scheint auch im Begriff „Moderne“ zu stecken, der in Ihren Schriften allgegenwärtig ist. In der Geschichtswissenschaft wird er oft mit einer Erfahrung von Beschleunigung in Verbindung gebracht.[3] Man nutzt jedoch meist nur Quellenbegriff für das Epochenverständnis historischer Akteure und meidet ihn aber als analytischen Zugang wählen, weil man in ihm kaum inhaltliche Substanz erkennt…
Ralf Fücks: Da würde ich widersprechen. Natürlich gibt es keine präzise Abgrenzung, wann die Moderne beginnt. Man kann da unterschiedlich ansetzen: mit der Renaissance, der industriellen Revolution, mit der Französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Insofern ist das ein fluktuierender Begriff. Aber ich glaube, er löst nicht von ungefähr sehr starke Assoziationen aus, weil doch die meisten zumindest eine Ahnung davon haben, was Moderne heißt. Die wissensbasierte Aufklärung ist ein konstitutives Element der Moderne: die Wissenschaft hat eine immer stärkere Bedeutung für die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung bekommen. Wir sind inzwischen eine wissensbasierte Gesellschaft und da sich das Wissen in einem ungeheuren Tempo vervielfacht, ist das auch mit eine Erklärung für den Beschleunigungseffekt, den Sie schon zitiert haben.
Das zweite Element ist die permanente Veränderung, die beschleunigte technologische, kulturelle, soziale und politische Entwicklung. Dass Veränderung eine Konstante ist, ist ein Grundgesetz moderner Gesellschaften.
Ich würde zumindest noch einen dritten Gesichtspunkt nennen und das ist die zunehmende Individualisierung, das Streben nach individueller Selbstverwirklichung, nach Selbstentfaltung, nach Selbstbestimmung. Auch das ist ein konstitutives Element, zusammen mit der zunehmenden Ausdifferenzierung unserer Gesellschaften, die Hand in Hand mit dem Individualismus geht.
Dagegen gehört die Demokratie nicht notwendigerweise zur Moderne. Das ist etwas, was wir jetzt angesichts Chinas besser verstehen, weil China eine Art autoritäre Hypermoderne verkörpert, also gerade die Trennung von Moderne und Demokratie. Deshalb heißt unser Zentrum übrigens Zentrum für die Liberale Moderne, [4] weil es uns genau um diese Verbindung von Moderne und Demokratie geht.
Sie betonen einerseits die Dynamik und die Offenheit der freien Gesellschaft als konstitutiv für die Moderne…
Ralf Fücks: Vielen Dank für das Stichwort „Offenheit“. Das ist ein wichtiges Stichwort, denn es bedeutet: Die Zukunft ist offen, sie ist nicht determiniert. Sie ist nicht Schicksal, was über uns kommt, sondern sie entsteht aus unseren Handlungen heute. Und dieses Element der Gestaltbarkeit, dass wir die Zukunft formen können und ihr nicht einfach ausgeliefert sind, auch das unterscheidet die Moderne von früheren gesellschaftlichen Ordnungen.
Aber Sie beschreiben auch, dass diese Offenheit von vielen Menschen als eine „metaphysische Leere“ wahrgenommen wird, die mit einer Sehnsucht nach dem Heroischen konkurriert und die dadurch unter Druck gerät von einer Verbindung aus tradierten marxistischen und faschistischen Homogenitätsideen mit einem neuen Heroismus. Welche Rolle spielen solche Formen des „Radical Chic“?
Ralf Fücks: Das ist eine eigenartige Melange. Einerseits hat die postmoderne Linke kontinuierlich die Entheroisierung und Pazifizierung der Gesellschaft betrieben, vor allem die Pazifizierung des Mannes – bis hin zur Karikatur des ostentativ unaggressiven Softie. Auch das Credo, dass alle Konflikte friedlich lösbar sind, per Dialog, per Kompromiss, das Sich-Einfühlen in den anderen – ist ein Element von Pazifizierung. Es zielt auf die Zivilisierung von Konflikten und den Abschied von Gewalt. Gleichzeitig gibt es aber unter der Oberfläche offenbar doch wieder ein Bedürfnis nach Radikalität und existentieller Kampfbereitschaft bis hin zur Militanz. Das ist immer wieder bemerkbar, in der Literatur und in den Feuilletons stärker als in der Politik, wo man dieses Element bei den linksradikalen und rechtsradikalen Gruppen wiederfindet. Ich erinnere nur an den nie endenden Kult um Ché Guevara oder die klammheimliche Faszination für die RAF, die wir auch im rechtsradikalen Untergrund wiederfinden. Die Sehnsucht nach dem Existenziellen in der Politik, die Lust am Risiko und einem Element des Kampfes hat Parallelen zu Strömungen vor dem Ersten Weltkrieg und dann sehr stark in den 20er und 30er Jahren, die sich sowohl in der kommunistischen Bewegung wie in der konservativen Revolution finden: Es geht um die Revolte gegen die vermeintliche Langeweile der parlamentarischen Demokratie, gegen das Unspektakuläre und Unheroische des bürgerlichen Lebens. Das ist so ein Element, mit dem man – so glaube ich – rechnen muss, und auf das man versuchen muss, zivile Antworten zu finden, also zum Beispiel im politischen Engagement, das durchaus auch mit einer gewissen Leidenschaft verbunden ist. In der Politik geht es nicht nur um rationale Argumente, sondern immer auch um Leidenschaft. Das spürt man zurzeit ein bisschen bei „Fridays for Future“ – das Gefühl: Wir sind an einem Wendepunkt – jetzt geht es entweder in die Katastrophe oder in die Rettung vor der Katastrophe. Das ist zwar überspitzt, denn am Ende braucht Politik immer Zeit und ist langwierig: man ändert die Verhältnisse nicht auf Knopfdruck. Aber liberale Politik kann nicht nur das sein, was Popper mal Stückwerk-Politik nannte – dieser pure Pragmatismus, das ist zu wenig.
Durch „Fridays for Future“ scheint sich auch ein neues generationales Gefühl des Existenziellen zu bilden. Anhand von Carl Schmitt und Martin Heidegger illustrieren Sie, dass historischen existenzialistischen Denkmustern ein Gegensatz zur Pazifizierung innewohnt, von der man vielleicht sagen könnte, dass die parlamentarische Demokratie so etwas wie die Institutionalisierung des pazifizierten Individuums ist.
Ralf Fücks: Die parlamentarische Demokratie ist die Pazifizierung der Politik in dem Sinne, dass Politik nicht als Bürgerkrieg verstanden wird. Da kommt dann Carl Schmitt, der gerade die Gegenthese vertritt, der die Politik vom Ausnahmezustand her denkt, in der es um die Frage geht: Wer besiegt wen?
Der Parlamentarismus versucht gerade das aufzulösen in Konsensbildung und Kompromisse. Das bedeutet nicht, dass es keinen politischen Kampf gibt, kein leidenschaftliches Ringen um politische Alternativen, um unterschiedliche Ziele, um unterschiedliche Wege – aber eben nicht mit dem Ziel, den anderen zu vernichten. Und das ist ein entscheidender Unterschied zwischen einem demokratischen Politikverständnis und einem politischen Radikalismus, der Politik als Bürgerkrieg versteht.
„Fridays for Future“ ist auch ein gutes Stichwort, um über die ökologische Frage zu sprechen. Sie schreiben immer wieder über „ökologische Moderne“,[5] auch eine der Unterkategorien auf dem Blog Ihres Zentrums heißt so. Dabei fällt auf, dass Sie sehr deutlichen sagen, dass sich aus den roten Linien, die das Ökosystem dem Naturverbrauch vorgibt, keine fixen Grenzen für die Entwicklung der menschlichen Zivilisation ableiten. Wie kommen Sie darauf?
Ralf Fücks: Das ist ein alter Konflikt zwischen unterschiedlichen Denkschulen, den es längst vor der modernen Ökologiebewegung gab. Man denke etwa an Thomas Malthus, einen damals sehr berühmten britischen Theologen und Ökonomen, der Anfang des 19. Jahrhunderts seine Bevölkerungstheorie aufstellte, in der er „nachwies“, dass die Erde nicht mehr als etwa eine Milliarde wird tragen können. Er ging aus von der damaligen Produktivität der Landwirtschaft und hat dann hochgerechnet: Wie viele Menschen kann der Planet ernähren? Im Grunde war das eine frühe Form der Grenzen des Wachstums – alles, was darüber hinausschießt, führt in Hungersnöte und letztlich eben in den Zusammenbruch der Zivilisation. Das ist die gleiche Denkfigur wie das auch der Bericht an den Club of Rome zu Grunde legt: Wenn das Wachstum bestimmte Grenzen überschreitet, dann bricht die Gesellschaft zusammen.
Was Malthus aber nicht gesehen hat und was auch die Autoren des Club of Rome nicht gesehen haben, war die permanente Weiterentwicklung der Produktivkräfte, die permanente technische Revolution, die immer neue Möglichkeiten eröffnet, unsere Existenz auf diesem Planeten zu erweitern. Malthus rechnete nicht mit der modernen Biologie, der Tier- und Pflanzenzucht, der Stickstoffdüngung, der landwirtschaftlichen Revolution, die es ermöglicht hat, nicht nur eine Milliarde, sondern heute siebeneinhalb Milliarden Menschen auf dem Planeten zu ernähren. Der Anteil und auch die absolute Zahl der Hungernden geht zurück, die Lebenserwartung hat sich verdoppelt gegenüber der Zeit von Malthus. Es ist das Potential, das in der menschlichen Erfindungskraft liegt, das uns ermöglicht, die Grenzen unserer natürlichen Existenz immer weiter hinauszuschieben.
Die moderne Technik ist nichts anderes als eine Erweiterung unserer natürlichen Fähigkeiten: dass wir fliegen können, oder dass wir uns in einem Zug mit 300 Stundenkilometern Geschwindigkeit durch die Landschaft bewegen, das übersteigt ja das, was die Natur uns eigentlich vorgegeben hat. Und insofern gibt es eine Dialektik zwischen den natürlichen Grenzen und der kulturellen und ökonomischen Entwicklung – sie sind nicht identisch.
Das heißt nicht, dass es keine ökologischen Grenzen gäbe, die wir tunlichst respektieren sollten, zum Beispiel, was die Akkumulation von CO2 in der Atmosphäre angeht. Wenn wir da bestimmte Grenzen überschreiten, hat das ganz fatale Folgen für das Erdklima. Oder wenn wir den Raubbau an den Böden so weit treiben, dass er die Bodenfruchtbarkeit zerstört, dann hat das fatale Wirkungen auf die Welternährung. Es gibt also bestimmte Belastungsgrenzen – das ist eigentlich das präzisere Wort – der Ökosysteme, die wir nicht überschreiten dürfen, weil wir sonst den Kollaps dieser Systeme riskieren. Aber aus diesen Belastungsgrenzen folgt eben keine fixe Grenze des Wachstums. Wenn wir Öl, Gas und Kohle, die fossilen Energien, auf denen die Industrialisierung beruht hat, ersetzen durch erneuerbare Energien, können wir unseren Energieverbrauch sogar noch steigern. Und wenn wir zu einer Recyclingökonomie übergehen, in der jeder Reststoff wiederverwertet wird, entweder in der landwirtschaftlichen oder in der industriellen Produktion, können wir auch der Knappheit von Ressourcen entkommen oder sie zumindest noch so weit hinausschieben, bis wir synthetische Ersatzstoffe für begrenzte natürliche Ressourcen gefunden haben.
Die Kritik am permanenten wirtschaftlichen Wachstum präsentieren Sie in Ihrem Buch in einer Tradition von kulturpessimistischen Kritiken an der Moderne, etwa bei Mary Shelley etwa oder auch bei Johann Wolfgang Goethe, die zurück in eine vormoderne, statische Gesellschaft streben. Dem stellen Sie programmatisch ein Zitat von Karl Popper voran: „Es gibt keine Rückkehr in einen harmonischen Naturzustand. Wenn wir uns zurückwenden, dann müssen wir den ganzen Weg zurückgehen – wir müssen wieder zu Raubtieren werden.“[6]Warum ist entschleunigtes oder begrenztes Wachstum für Sie nicht denkbar?
Ralf Fücks: In einer Welt von bald zehn Milliarden Menschen ist Nullwachstum oder gar „Degrowth“ keine realistische Option. Erst recht nicht, wenn man den Milliarden Menschen, die heute noch in Armut leben, das Recht auf ein besseres, reicheres Leben zugesteht. Wir können nicht zurück hinter die moderne Industrie und Landwirtschaft, sondern müssen sie auf eine ökologische Grundlage stellen. Mary Shelley und Goethe waren zu Beginn der Industrialisierung ungeheuer hellsichtig im Hinblick auf die destruktiven Seiten der Moderne. Sie haben die Gefahren, die die Moderne mit sich bringt im Begriff der menschlichen Hybris gefasst: Wenn der Mensch sich über die Natur erhebt, wenn er sich über Gott erhebt, dann ist er in Gefahr, sich selbst zu vernichten. Dafür hat Shelley die Figur des Frankenstein erfunden und Goethe im Faust II das Scheitern des Versuchs, die Natur zu bezwingen. Darin waren sie unglaublich hellsichtig. Aber die Konsequenz daraus ist eben nicht das Zurück in eine scheinbare Harmonie mit der Natur, die es so nie gegeben hat. Die Natur war für die große Zahl der Menschen im 16./17./18. Jahrhundert grausam und keine Idylle. Vielmehr ist die Konsequenz aus diesen Gefahren der Moderne, dass wir eine reflexive Modernisierung brauchen, eine, die sich permanent selbst kritisch reflektiert, ihre Fehlentwicklungen, ihre Risiken kritisch reflektiert und einen kontinuierlichen Lernprozess organisiert.
Auf die sozialen und ökonomischen Realitäten gewendet bedeutet dieser Lernprozess Ihren Ausführungen nach eine „Grüne Industrielle Revolution“ als Schritt in die ökologische Moderne. Ich beschäftige mich in meinen Arbeiten schwerpunktmäßig mit der Entstehung von Innovationskulturen in ländlichen Räumen am Beginn der Industrialisierung. Blickt man auf die wirtschaftshistorische Literatur zur Industriellen Revolution,[7] so fällt vor allem auf, dass dieser Prozess so unfassbar komplex und auch regional so heterogen war, dass es bis heute schwerfällt, seine Genese konkret zu erklären. Wo sehen Sie da die Möglichkeiten für uns, eine so dynamische, so schnelle Transformation gezielt herbeiführen zu können?
Ralf Fücks: Es gibt zumindest zwei Grundelemente, die zusammenkommen müssen: Das eine sind bahnbrechende Erfindungen. Die wichtigste Erfindung am Ausgangspunkt der Industriellen Revolution war die Dampfmaschine in ihren unterschiedlichen Anwendungen, sowohl für die industrielle Produktion wie für die Mobilität, für die Eisenbahn und die Dampfschifffahrt. Und das ging dann einher mit einer ganzen Serie von Erfindungen, die sich daran anknüpften. Aber technische Innovation allein, also bahnbrechende Erfindungen von etwas qualitativ Neuem, reichen nicht aus. Es braucht gesellschaftliche Systeme, die in der Lage sind, diese Erfindungen auch im großen Stil nutzbar zu machen. Da spielen dann Unternehmertum, Marktwirtschaft und auch Demokratie eine große Rolle – also gesellschaftliche Systeme, die pluralistisch sind, die ein hohes Maß an Eigeninitiative ermöglichen und die Wettbewerb mit Zusammenarbeit kombinieren. Das sind Grundelemente, die man für gelungene Transformationsprozesse implizieren kann. Es gibt ja auch gescheiterte Transformationen; Zusammenbrüche, die in Krisen enden. Und deshalb bin ich überzeugt davon, dass diese Kombination aus Marktwirtschaft und liberaler Demokratie auch die beste Form ist, den Klimawandel zu bewältigen: Sie kombiniert ein hohes Maß an Innovationsfähigkeit mit Reflexivität, mit Korrekturfähigkeit und mit gesellschaftlicher Selbststeuerung. Ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, dass diese offenen Gesellschaften auch im Hinblick auf ihre Krisenfähigkeit den autoritären Systemen überlegen sind, auch wenn China heute extrem selbstbewusst auftritt und sich als die handlungsfähige Alternative präsentiert. Eine Top-Down-Gesellschaft, die von oben gesteuert wird, ist nie so kreativ wie eine liberale, pluralistische Gesellschaftsform.
Das Gespräch führte Johannes K. Staudt. Es erschien zuerst in DIE FUNZEL – Philosophische Halbjahresschrift (Ausgabe 5 – Juli 2020).
[1] Vgl. Meadows, Dennis et. al.: The limits of growths. A report for the Club of Rome’s project on the predicament of mankind. New York 1972.
[2] Fücks, Ralf: Freiheit verteidigen. Wie wir den Kampf um die offene Gesellschaft gewinnen. München 2017.
[3] Vgl. Jung, Theo: Beschleunigung im langen 19. Jahrhundert. Einheit und Vielfalt einer Epochenkategorie. Traverse 3 (2016), S. 51 – 63.
[4] Das Zentrum Liberale Moderne ist ein 2017 von Ralf Fücks und Marieluise Beck gegründeter Think Tank, der sich der Verteidigung der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie widmet. Online hält es unter https://libmod.de neben einem umfangreichen Blog die Themenportale Gegneranalyse und Ukraine verstehen bereit.
[5] Vgl. u. a. Fücks, Ralf: Intelligent wachsen. Die grüne Revolution. München 2013.
[6] Popper, Karl zit. n. Fücks, Ralf: Freiheit verteidigen, S. 163.
[7] Vgl. u. a. Vries, Peer: Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums. England, China und die Welt in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2013. Brüggemeier, Franz-Josef: Schranken der Natur. Umwelt, Gesellschaft, Experimente 1750 bis heute. Essen 2014. Mokyr, Joel: The Enlightened Economy. Britain and the Industrial Revolution 1700 – 1850. New Haven 2010.