Wir sind der Zukunft nicht ausgeliefert

Ein Gespräch mit Ralf Fücks über die Heraus­for­de­rungen der freien Gesell­schaft und den Weg in eine ökolo­gische Moderne 

Das Interview erschien zuerst in DIE FUNZEL – Philo­so­phische Halbjah­res­schrift (Ausgabe 5 – Juli 2020).

Die ergeb­nis­offene Diskussion ist in den Geistes- und Sozial­wis­sen­schaften genuiner Teil der Erkennt­nis­pro­duktion – und unter dem Distanz­gebot der Pandemie mit neuen Heraus­for­de­rungen verbunden. Ralf Fücks will den Fragen der Gegenwart mit einer positiven Offenheit begegnen. Als dann endlich der Weg frei ist für ein Interview, nimmt er sich Zeit, seine Antworten sorgfältig zu formu­lieren. In beein­dru­ckender Weise spricht er kraftvoll und unauf­geregt zugleich. 

Herr Fücks, geben Sie uns zu Beginn die Möglichkeit, Ihre Gedan­kenwelt etwas kennen zu lernen: Welche Denker und Denkschulen haben Sie besonders beein­druckt und warum? 

Ralf Fücks: Da ich ja schon ein etwas älteres Semester mit einer ziemlich bewegten Biographie bin, ist das ein bunter Kanon an Autoren – angefangen von Marx und Adorno über Hannah Arendt, Karl Popper und François Furet bis zu einer ganzen Reihe von Schrift­stellern, von Goethes Faust bis Philip Roth. Ich lese ja nicht nur politische Literatur. Das ist eine Bildungs­ge­schichte mit einigen Biegungen und Wendungen: Ich habe mich damals als blutjunger Schüler und dann als Student schnur­stracks in die links­ra­dikale Bewegung Ende der 60er und Anfang der 70er gestürzt. Die ersten Jahre waren marxis­tische Theore­tiker auch mein Lektü­re­kanon und es brauchte eine Zeit, bis mich da ‘rausge­ar­beitet habe. Eine große Rolle hat da zum Beispiel die Lektüre der sogenannten Renegaten-Schrift­steller gespielt, die heute kaum jemand kennt, die aber unbedingt lesenswert sind: Arthur Koestler, Manes Sperber, Wolfgang Leonhard und andere, die in den 30er Jahren kommu­nis­tische Intel­lek­tuelle waren und dann zwischen die Mühlsteine von Natio­nal­so­zia­lismus und Stali­nismus geraten sind; die sich dann unter großem persön­lichem Ringen zu einem demokra­ti­schen, liberalen Stand­punkt durch­ge­ar­beitet haben. Das hat mich enorm beein­druckt und diese Lektüre war für mich auch ein intel­lek­tu­elles Sprung­brett, um mich von meiner links­ra­di­kalen Phase zu verabschieden.

Dann gab es einen zweiten Abschnitt, da hat ökolo­gische Literatur eine große Rolle gespielt. Ich bin nach einer gewissen Inkuba­ti­onszeit, einer Phase der Neuori­en­tierung, 1982 zu den Grünen gegangen – als bewusster Neuanfang. Das war natürlich verbunden mit der Entde­ckung der ökolo­gi­schen Frage, mit dem berühmten Report des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums[1] – über den es viel zu sagen gibt, auch Kriti­sches aus heutiger Sicht – bis zu Rudolf Bahos „Die Alter­native“. Und schließlich kam nochmal eine Phase der Wieder­ent­de­ckung von im weitesten Sinne liberalen Autoren wie Hannah Arendt und Karl Popper.

Dieser intel­lek­tuelle Facet­ten­reichtum findet sich auch in Ihren Arbeiten wieder. Da ich selbst vor allem mit den liberalen Vertretern in der Geschichte des ökono­mi­schen Denkens vertraut bin, hat es mich sehr faszi­niert, dass Sie in Ihrem Buch Freiheit vertei­digen“[2] unter anderem Karl Marx anführen, um den Kapita­lismus gegen vormodern geprägte Kritik zu verteidigen.

Ralf Fücks: Ja! Kaum jemand hat den Kapita­lismus besser erfasst als Marx. Damit meine ich nicht seine ökono­mische Theorie im engeren Sinn und seine Unter­gangs­pro­gnosen. Da gibt es profunde Irrtümer, dennoch hat er hat den Geist des Kapita­lismus unglaublich gut verstanden: die ständige Erneuerung, perma­nente Umwälzung, unauf­hör­liche Verän­derung, dieses Rastlose, das den Kapita­lismus als Produk­ti­ons­weise ausmacht. Schon die Rede über „den Kapita­lismus“ ist proble­ma­tisch, das ist eine dünne Abstraktion. Tatsächlich existieren kapita­lis­tische Wirtschafts­for­ma­tionen – im Plural! – in einer Vielfalt unter­schied­licher Ausprä­gungen, die alle abhängen vom politi­schen und kultu­rellen Kontext. Es ist eben nicht einfach so, wie die marxis­tische Ortho­doxie behauptet, dass die Politik nur ein Wurmfortsatz der kapita­lis­ti­schen Ökonomie, nur der Vollstrecker der Inter­essen des Kapitals sei, sondern umgekehrt: Politik hat einen enorm starken Einfluss auf die Ausprägung des Kapita­lismus. Man muss sich nur in der Welt umschauen: Zwischen dem chine­si­schen Staats­ka­pi­ta­lismus, dem ameri­ka­ni­schen Kapita­lismus und den europäi­schen Wohlfahrts­staaten, etwa dem skandi­na­vi­schen Modell, bestehen himmel­weite Unter­schiede. Insofern bin ich ausge­sprochen reser­viert, wenn von „dem Kapita­lismus“ gesprochen wird. Und ich finde schon gar nicht, dass man von einer deter­mi­nis­ti­schen Mechanik – wie sie schon bei Marx angelegt ist – ausgehen kann, dass alles bestimmten ehernen Gesetzen folgt, die sich hinter dem Rücken der Menschen durch­setzen und zwangs­läufig zum Zusam­men­bruch des Kapita­lismus führen werden. Das ist empirisch zur Genüge falsi­fi­ziert worden. Der Witz am Kapita­lismus ist ja gerade, dass er sich in Krisen ständig erneuert.

Gerade im Gespräch mit Leuten, die sich nicht alltäglich mit sozio­öko­no­mi­schen Fragen beschäf­tigen, merkt man bei Contai­ner­be­griffen wie „der Kapita­lismus“ auch häufig, dass deshalb ein Dissens entsteht, weil man schon von vornherein nicht über dasselbe spricht.

Ralf Fücks: Man kann natürlich versuchen, ihn auf ein paar charak­te­ris­tische Grund­ele­mente zu reduzieren – Privat­ei­gentum an Produk­ti­ons­mitteln, Markt­kon­kurrenz, Geldwirt­schaft –, aber damit hat man eigentlich noch gar nichts erklärt.

Sie haben bereits die ständige Dynamik angesprochen haben und dieses ständige Umwälzen scheint auch im Begriff „Moderne“ zu stecken, der in Ihren Schriften allge­gen­wärtig ist. In der Geschichts­wis­sen­schaft wird er oft mit einer Erfahrung von Beschleu­nigung in Verbindung gebracht.[3] Man nutzt jedoch meist nur Quellen­be­griff für das Epochen­ver­ständnis histo­ri­scher Akteure und meidet ihn aber als analy­ti­schen Zugang wählen, weil man in ihm kaum inhalt­liche Substanz erkennt… 

Ralf Fücks: Da würde ich wider­sprechen. Natürlich gibt es keine präzise Abgrenzung, wann die Moderne beginnt. Man kann da unter­schiedlich ansetzen: mit der Renais­sance, der indus­tri­ellen Revolution, mit der Franzö­si­schen Revolution und der ameri­ka­ni­schen Unabhän­gig­keits­er­klärung. Insofern ist das ein fluktu­ie­render Begriff. Aber ich glaube, er löst nicht von ungefähr sehr starke Assozia­tionen aus, weil doch die meisten zumindest eine Ahnung davon haben, was Moderne heißt. Die wissens­ba­sierte Aufklärung ist ein konsti­tu­tives Element der Moderne: die Wissen­schaft hat eine immer stärkere Bedeutung für die ökono­mische und gesell­schaft­liche Entwicklung bekommen. Wir sind inzwi­schen eine wissens­ba­sierte Gesell­schaft und da sich das Wissen in einem ungeheuren Tempo verviel­facht, ist das auch mit eine Erklärung für den Beschleu­ni­gungs­effekt, den Sie schon zitiert haben.

Das zweite Element ist die perma­nente Verän­derung, die beschleu­nigte techno­lo­gische, kultu­relle, soziale und politische Entwicklung. Dass Verän­derung eine Konstante ist, ist ein Grund­gesetz moderner Gesellschaften.

Ich würde zumindest noch einen dritten Gesichts­punkt nennen und das ist die zuneh­mende Indivi­dua­li­sierung, das Streben nach indivi­du­eller Selbst­ver­wirk­li­chung, nach Selbst­ent­faltung, nach Selbst­be­stimmung. Auch das ist ein konsti­tu­tives Element, zusammen mit der zuneh­menden Ausdif­fe­ren­zierung unserer Gesell­schaften, die Hand in Hand mit dem Indivi­dua­lismus geht.

Dagegen gehört die Demokratie nicht notwen­di­ger­weise zur Moderne. Das ist etwas, was wir jetzt angesichts Chinas besser verstehen, weil China eine Art autoritäre Hyper­mo­derne verkörpert, also gerade die Trennung von Moderne und Demokratie. Deshalb heißt unser Zentrum übrigens Zentrum für die Liberale Moderne, [4] weil es uns genau um diese Verbindung von Moderne und Demokratie geht.

Sie betonen einer­seits die Dynamik und die Offenheit der freien Gesell­schaft als konsti­tutiv für die Moderne…

Ralf Fücks: Vielen Dank für das Stichwort „Offenheit“. Das ist ein wichtiges Stichwort, denn es bedeutet: Die Zukunft ist offen, sie ist nicht deter­mi­niert. Sie ist nicht Schicksal, was über uns kommt, sondern sie entsteht aus unseren Handlungen heute. Und dieses Element der Gestalt­barkeit, dass wir die Zukunft formen können und ihr nicht einfach ausge­liefert sind, auch das unter­scheidet die Moderne von früheren gesell­schaft­lichen Ordnungen.

Aber Sie beschreiben auch, dass diese Offenheit von vielen Menschen als eine „metaphy­sische Leere“ wahrge­nommen wird, die mit einer Sehnsucht nach dem Heroi­schen konkur­riert und die dadurch unter Druck gerät von einer Verbindung aus tradierten marxis­ti­schen und faschis­ti­schen Homoge­ni­täts­ideen mit einem neuen Heroismus. Welche Rolle spielen solche Formen des „Radical Chic“?

Ralf Fücks: Das ist eine eigen­artige Melange. Einer­seits hat die postmo­derne Linke konti­nu­ierlich die Enthe­roi­sierung und Pazifi­zierung der Gesell­schaft betrieben, vor allem die Pazifi­zierung des Mannes – bis hin zur Karikatur des osten­tativ unaggres­siven Softie. Auch das Credo, dass alle Konflikte friedlich lösbar sind, per Dialog, per Kompromiss, das Sich-Einfühlen in den anderen – ist ein Element von Pazifi­zierung. Es zielt auf die Zivili­sierung von Konflikten und den Abschied von Gewalt. Gleich­zeitig gibt es aber unter der Oberfläche offenbar doch wieder ein Bedürfnis nach Radika­lität und existen­ti­eller Kampf­be­reit­schaft bis hin zur Militanz. Das ist immer wieder bemerkbar, in der Literatur und in den Feuil­letons stärker als in der Politik, wo man dieses Element bei den links­ra­di­kalen und rechts­ra­di­kalen Gruppen wieder­findet. Ich erinnere nur an den nie endenden Kult um Ché Guevara oder die klamm­heim­liche Faszi­nation für die RAF, die wir auch im rechts­ra­di­kalen Unter­grund wieder­finden. Die Sehnsucht nach dem Existen­zi­ellen in der Politik, die Lust am Risiko und einem Element des Kampfes hat Paral­lelen zu Strömungen vor dem Ersten Weltkrieg und dann sehr stark in den 20er und 30er Jahren, die sich sowohl in der kommu­nis­ti­schen Bewegung wie in der konser­va­tiven Revolution finden: Es geht um die Revolte gegen die vermeint­liche Lange­weile der parla­men­ta­ri­schen Demokratie, gegen das Unspek­ta­kuläre  und Unheroische des bürger­lichen Lebens. Das ist so ein Element, mit dem man – so glaube ich – rechnen muss, und auf das man versuchen muss, zivile Antworten zu finden, also zum Beispiel im politi­schen Engagement, das durchaus auch mit einer gewissen Leiden­schaft verbunden ist. In der Politik geht es nicht nur um rationale Argumente, sondern immer auch um Leiden­schaft. Das spürt man zurzeit ein bisschen bei „Fridays for Future“ – das Gefühl: Wir sind an einem Wende­punkt – jetzt geht es entweder in die Katastrophe oder in die Rettung vor der Katastrophe. Das ist zwar überspitzt, denn am Ende braucht Politik immer Zeit und ist langwierig: man ändert die Verhält­nisse nicht auf Knopf­druck. Aber liberale Politik kann nicht nur das sein, was Popper mal Stückwerk-Politik nannte – dieser pure Pragma­tismus, das ist zu wenig.

Durch „Fridays for Future“ scheint sich auch ein neues genera­tio­nales Gefühl des Existen­zi­ellen zu bilden. Anhand von Carl Schmitt und Martin Heidegger illus­trieren Sie, dass histo­ri­schen existen­zia­lis­ti­schen Denkmustern ein Gegensatz zur Pazifi­zierung innewohnt, von der man vielleicht sagen könnte, dass die parla­men­ta­rische Demokratie so etwas wie die Insti­tu­tio­na­li­sierung des pazifi­zierten Indivi­duums ist. 

Ralf Fücks: Die parla­men­ta­rische Demokratie ist die Pazifi­zierung der Politik in dem Sinne, dass Politik nicht als Bürger­krieg verstanden wird. Da kommt dann Carl Schmitt, der gerade die Gegen­these vertritt, der die Politik vom Ausnah­me­zu­stand her denkt, in der es um die Frage geht: Wer besiegt wen?

Der Parla­men­ta­rismus versucht gerade das aufzu­lösen in Konsens­bildung und Kompro­misse. Das bedeutet nicht, dass es keinen politi­schen Kampf gibt, kein leiden­schaft­liches Ringen um politische Alter­na­tiven, um unter­schied­liche Ziele, um unter­schied­liche Wege – aber eben nicht mit dem Ziel, den anderen zu vernichten. Und das ist ein entschei­dender Unter­schied zwischen einem demokra­ti­schen Politik­ver­ständnis und einem politi­schen Radika­lismus, der Politik als Bürger­krieg versteht.

„Fridays for Future“ ist auch ein gutes Stichwort, um über die ökolo­gische Frage zu sprechen. Sie schreiben immer wieder über „ökolo­gische Moderne“,[5] auch eine der Unter­ka­te­gorien auf dem Blog Ihres Zentrums heißt so. Dabei fällt auf, dass Sie sehr deutlichen sagen, dass sich aus den roten Linien, die das Ökosystem dem Natur­ver­brauch vorgibt, keine fixen Grenzen für die Entwicklung der mensch­lichen Zivili­sation ableiten. Wie kommen Sie darauf?

Ralf Fücks: Das ist ein alter Konflikt zwischen unter­schied­lichen Denkschulen, den es längst vor der modernen Ökolo­gie­be­wegung gab. Man denke etwa an Thomas Malthus, einen damals sehr berühmten briti­schen Theologen und Ökonomen, der Anfang des 19. Jahrhun­derts seine Bevöl­ke­rungs­theorie aufstellte, in der er „nachwies“, dass die Erde nicht mehr als etwa eine Milliarde wird tragen können. Er ging aus von der damaligen Produk­ti­vität der Landwirt­schaft und hat dann hochge­rechnet: Wie viele Menschen kann der Planet ernähren? Im Grunde war das eine frühe Form der Grenzen des Wachstums – alles, was darüber hinaus­schießt, führt in Hungersnöte und letztlich eben in den Zusam­men­bruch der Zivili­sation. Das ist die gleiche Denkfigur wie das auch der Bericht an den Club of Rome zu Grunde legt: Wenn das Wachstum bestimmte Grenzen überschreitet, dann bricht die Gesell­schaft zusammen.

Was Malthus aber nicht gesehen hat und was auch die Autoren des Club of Rome nicht gesehen haben, war die perma­nente Weiter­ent­wicklung der Produk­tiv­kräfte, die perma­nente technische Revolution, die immer neue Möglich­keiten eröffnet, unsere Existenz auf diesem Planeten zu erweitern. Malthus rechnete nicht mit der modernen Biologie, der Tier- und Pflan­zen­zucht, der Stick­stoff­düngung, der landwirt­schaft­lichen Revolution, die es ermög­licht hat, nicht nur eine Milliarde, sondern heute sieben­einhalb Milli­arden Menschen auf dem Planeten zu ernähren. Der Anteil und auch die absolute Zahl der Hungernden geht zurück, die Lebens­er­wartung hat sich verdoppelt gegenüber der Zeit von Malthus. Es ist das Potential, das in der mensch­lichen Erfin­dungs­kraft liegt, das uns ermög­licht, die Grenzen unserer natür­lichen Existenz immer weiter hinauszuschieben.

Die moderne Technik ist nichts anderes als eine Erwei­terung unserer natür­lichen Fähig­keiten: dass wir fliegen können, oder dass wir uns in einem Zug mit 300 Stunden­ki­lo­metern Geschwin­digkeit durch die Landschaft bewegen, das übersteigt ja das, was die Natur uns eigentlich vorge­geben hat. Und insofern gibt es eine Dialektik zwischen den natür­lichen Grenzen und der kultu­rellen und ökono­mi­schen Entwicklung – sie sind nicht identisch.

Das heißt nicht, dass es keine ökolo­gi­schen Grenzen gäbe, die wir tunlichst respek­tieren sollten, zum Beispiel, was die Akkumu­lation von CO2 in der Atmosphäre angeht. Wenn wir da bestimmte Grenzen überschreiten, hat das ganz fatale Folgen für das Erdklima. Oder wenn wir den Raubbau an den Böden so weit treiben, dass er die Boden­frucht­barkeit zerstört, dann hat das fatale Wirkungen auf die Welternährung. Es gibt also bestimmte Belas­tungs­grenzen – das ist eigentlich das präzisere Wort – der Ökosysteme, die wir nicht überschreiten dürfen, weil wir sonst den Kollaps dieser Systeme riskieren. Aber aus diesen Belas­tungs­grenzen folgt eben keine fixe Grenze des Wachstums. Wenn wir Öl, Gas und Kohle, die fossilen Energien, auf denen die Indus­tria­li­sierung beruht hat, ersetzen durch erneu­erbare Energien, können wir unseren Energie­ver­brauch sogar noch steigern. Und wenn wir zu einer Recycling­öko­nomie übergehen, in der jeder Reststoff wieder­ver­wertet wird, entweder in der landwirt­schaft­lichen oder in der indus­tri­ellen Produktion, können wir auch der Knappheit von Ressourcen entkommen oder sie zumindest noch so weit hinaus­schieben, bis wir synthe­tische Ersatz­stoffe für begrenzte natür­liche Ressourcen gefunden haben.

Die Kritik am perma­nenten wirtschaft­lichen Wachstum präsen­tieren Sie in Ihrem Buch in einer Tradition von kultur­pes­si­mis­ti­schen Kritiken an der Moderne, etwa bei Mary Shelley etwa oder auch bei Johann Wolfgang Goethe, die zurück in eine vormo­derne, statische Gesell­schaft streben. Dem stellen Sie program­ma­tisch ein Zitat von Karl Popper voran: „Es gibt keine Rückkehr in einen harmo­ni­schen Natur­zu­stand. Wenn wir uns zurück­wenden, dann müssen wir den ganzen Weg zurück­gehen – wir müssen wieder zu Raubtieren werden.“[6]Warum ist entschleu­nigtes oder begrenztes Wachstum für Sie nicht denkbar?

Ralf Fücks: In einer Welt von bald zehn Milli­arden Menschen ist Nullwachstum oder gar „Degrowth“ keine realis­tische Option. Erst recht nicht, wenn man den Milli­arden Menschen, die heute noch in Armut leben, das Recht auf ein besseres, reicheres Leben zugesteht. Wir können nicht zurück hinter die moderne Industrie und Landwirt­schaft, sondern müssen sie auf eine ökolo­gische Grundlage stellen. Mary Shelley und Goethe waren zu Beginn der Indus­tria­li­sierung ungeheuer hellsichtig im Hinblick auf die destruk­tiven Seiten der Moderne. Sie haben die Gefahren, die die Moderne mit sich bringt im Begriff der mensch­lichen Hybris gefasst: Wenn der Mensch sich über die Natur erhebt, wenn er sich über Gott erhebt, dann ist er in Gefahr, sich selbst zu vernichten. Dafür hat Shelley die Figur des Franken­stein erfunden und Goethe im Faust II das Scheitern des Versuchs, die Natur zu bezwingen. Darin waren sie unglaublich hellsichtig. Aber die Konse­quenz daraus ist eben nicht das Zurück in eine scheinbare Harmonie mit der Natur, die es so nie gegeben hat. Die Natur war für die große Zahl der Menschen im 16./17./18. Jahrhundert grausam und keine Idylle. Vielmehr ist die Konse­quenz aus diesen Gefahren der Moderne, dass wir eine reflexive Moder­ni­sierung brauchen, eine, die sich permanent selbst kritisch reflek­tiert, ihre Fehlent­wick­lungen, ihre Risiken kritisch reflek­tiert und einen konti­nu­ier­lichen Lernprozess organisiert.

Auf die sozialen und ökono­mi­schen Reali­täten gewendet bedeutet dieser Lernprozess Ihren Ausfüh­rungen nach eine „Grüne Indus­trielle Revolution“ als Schritt in die ökolo­gische Moderne. Ich beschäftige mich in meinen Arbeiten schwer­punkt­mäßig mit der Entstehung von Innova­ti­ons­kul­turen in ländlichen Räumen am Beginn der Indus­tria­li­sierung. Blickt man auf die wirtschafts­his­to­rische Literatur zur Indus­tri­ellen Revolution,[7] so fällt vor allem auf, dass dieser Prozess so unfassbar komplex und auch regional so heterogen war, dass es bis heute schwer­fällt, seine Genese konkret zu erklären. Wo sehen Sie da die Möglich­keiten für uns, eine so dynamische, so schnelle Trans­for­mation gezielt herbei­führen zu können? 

Ralf Fücks: Es gibt zumindest zwei Grund­ele­mente, die zusam­men­kommen müssen: Das eine sind bahnbre­chende Erfin­dungen. Die wichtigste Erfindung am Ausgangs­punkt der Indus­tri­ellen Revolution war die Dampf­ma­schine in ihren unter­schied­lichen Anwen­dungen, sowohl für die indus­trielle Produktion wie für die Mobilität, für die Eisenbahn und die Dampf­schiff­fahrt. Und das ging dann einher mit einer ganzen Serie von Erfin­dungen, die sich daran anknüpften. Aber technische Innovation allein, also bahnbre­chende Erfin­dungen von etwas quali­tativ Neuem, reichen nicht aus. Es braucht gesell­schaft­liche Systeme, die in der Lage sind, diese Erfin­dungen auch im großen Stil nutzbar zu machen. Da spielen dann Unter­neh­mertum, Markt­wirt­schaft und auch Demokratie eine große Rolle – also gesell­schaft­liche Systeme, die plura­lis­tisch sind, die ein hohes Maß an Eigen­in­itiative ermög­lichen und die Wettbewerb mit Zusam­men­arbeit kombi­nieren. Das sind Grund­ele­mente, die man für gelungene Trans­for­ma­ti­ons­pro­zesse impli­zieren kann. Es gibt ja auch geschei­terte Trans­for­ma­tionen; Zusam­men­brüche, die in Krisen enden. Und deshalb bin ich überzeugt davon, dass diese Kombi­nation aus Markt­wirt­schaft und liberaler Demokratie auch die beste Form ist, den Klima­wandel zu bewäl­tigen: Sie kombi­niert ein hohes Maß an Innova­ti­ons­fä­higkeit mit Refle­xi­vität, mit Korrek­tur­fä­higkeit und mit gesell­schaft­licher Selbst­steuerung. Ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, dass diese offenen Gesell­schaften auch im Hinblick auf ihre Krisen­fä­higkeit den autori­tären Systemen überlegen sind, auch wenn China heute extrem selbst­be­wusst auftritt und sich als die handlungs­fähige Alter­native präsen­tiert. Eine Top-Down-Gesell­schaft, die von oben gesteuert wird, ist nie so kreativ wie eine liberale, plura­lis­tische Gesellschaftsform.

 

Das Gespräch führte Johannes K. Staudt. Es erschien zuerst in DIE FUNZEL – Philo­so­phische Halbjah­res­schrift (Ausgabe 5 – Juli 2020).

 

[1] Vgl. Meadows, Dennis et. al.: The limits of growths. A report for the Club of Rome’s project on the predi­cament of mankind. New York 1972.

[2] Fücks, Ralf: Freiheit vertei­digen. Wie wir den Kampf um die offene Gesell­schaft gewinnen. München 2017.

[3] Vgl. Jung, Theo: Beschleu­nigung im langen 19. Jahrhundert. Einheit und Vielfalt einer Epochen­ka­te­gorie. Traverse 3 (2016), S. 51 – 63.

[4] Das Zentrum Liberale Moderne ist ein 2017 von Ralf Fücks und Marie­luise Beck gegrün­deter Think Tank, der sich der Vertei­digung der offenen Gesell­schaft und der liberalen Demokratie widmet. Online hält es unter https://libmod.de neben einem umfang­reichen Blog die Themen­portale Gegner­analyse und Ukraine verstehen bereit.

[5] Vgl. u. a. Fücks, Ralf: Intel­ligent wachsen. Die grüne Revolution. München 2013.

[6] Popper, Karl zit. n. Fücks, Ralf: Freiheit vertei­digen, S. 163.

[7] Vgl. u. a. Vries, Peer: Ursprünge des modernen Wirtschafts­wachstums. England, China und die Welt in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2013. Brügge­meier, Franz-Josef: Schranken der Natur. Umwelt, Gesell­schaft, Experi­mente 1750 bis heute. Essen 2014. Mokyr, Joel: The Enligh­tened Economy. Britain and the Indus­trial Revolution 1700 – 1850. New Haven 2010.