Der Traum von der großen Gemein­schaft gebiert Ungeheuer

Helmuth Plessners Kritik des sozialen Radikalismus.

Man muss den Münchner Sozio­logen Armin Nassehi​ dafür loben, dass er an einen in Verges­sen­heit geratenen Klassiker erinnert: Helmuth Plessners „Grenzen der Gemein­schaft – Eine Kritik des sozialen Radi­ka­lismus“. Der schmale Band, 1923 veröf­fent­licht, nimmt die Ausein­an­der­set­zung vorweg, an der die Weimarer Republik zugrunde ging: den Konflikt zwischen offener Gesell­schaft und radikalen Gemein­schafts­ideo­lo­gien von ganz rechts und ganz links. Die Aktua­lität seiner Schrift ist unverkennbar.

Plessner diagnos­ti­ziert einen spezi­fi­schen deutschen Radi­ka­lismus, der sich bis auf Luther zurück­ver­folgen lässt: den Dualismus zwischen gött­li­chem Gebot und sünd­hafter Welt, den Kult des Unbe­dingten und der Kompro­miss­lo­sig­keit, der politisch ins Tota­li­täre umschlägt. Real­po­litik ist aus dieser Perspek­tive immer nur die Anpassung an die schlechte Wirklichkeit.

Wer so denkt, zieht sich enttäuscht aus der Politik zurück oder er schließt sich radikalen Bewe­gungen an, die der sperrigen Realität ihr Ideal aufzwingen wollen, wenn nötig mit Gewalt. Plessner setzt dagegen, dass demo­kra­ti­sche Politik nicht auf das radikal Andere und auch nicht auf den totalen Sieg über den Gegner zielt. Sie respek­tiert die Komple­xität moderner Gesell­schaften, die keine einfachen Lösungen erlauben. Sie erkennt die Legi­ti­mität unter­schied­li­cher Sicht­weisen an und erlaubt dem poli­ti­schen Gegner, noch In der Nieder­lage sein Gesicht zu wahren.

Plessner bringt den scheinbar unpo­li­ti­schen Begriff des „Takts“ ins Spiel als Verkehrs­form einer zivi­li­sierten Öffent­lich­keit, die dem anderen seine Würde lässt. Dagegen geht poli­ti­scher Radi­ka­lismus mit einer Verrohung der Sitten einher. Er dämo­ni­siert den Gegner und gibt sich erst mit seiner Vernich­tung zufrieden.

Der liberale Begriff von Gesell­schaft bejaht den Konflikt viel­fäl­tiger Inter­essen und Meinungen. Liberale Demo­kratie ist die Zivi­li­sie­rung dieses Konflikts. Gemeinschafts­radikalismus will diese wider­sprüch­liche Vielfalt in einer großen Ordnung aufheben, sei es der Volks­ge­mein­schaft oder der klas­sen­losen Gesell­schaft, in der die Mensch­heit endlich zu sich selbst findet und alle Entfrem­dung aufge­hoben ist. Das mündet in die Logik der Gleichschaltung.

Es lohnt sich, Plessners Schrift wieder zu entdecken. Sie sieht mit beein­dru­ckender Hellsicht voraus, in welche Abgründe die Verach­tung der liberalen Demo­kratie und der Kult des Radi­ka­lismus führen. Ihre Lektüre ist ein Gegengift zur Verfüh­rung des „radical chic“, der heute wieder bis in bürger­liche Feuil­le­tons zele­briert wird.


Armin Nassehi: Wie die Deutschen an ihrer Kompro­miss­lo­sig­keit leiden, Die Welt, 16. Januar 2018

 

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