Koalitionsvertrag: Starker Aufschlag, offene Baustellen
Nach mehr oder weniger gründlicher Lektüre des Koalitionsvertrags: Chapeau! Wenn auch nur halbwegs umgesetzt wird, was sich die Ampel alles vorgenommen hat, wird das ein Schub für die Modernisierung der Republik. Man spürt den Willen, den Reformstau aufzulösen und eine Dynamik des Fortschritts freizusetzen.
Interessanter noch als die vielen, vielleicht allzu vielen Maßnahmen und Projekte ist das Staats- und Politikverständnis, auf das sich die drei Koalitionäre verständigt haben:
Durch die Koalitionsvereinbarung weht ein öko-sozial-liberaler Geist – von klassischen bürgerrechtlichen Themen bis zur Ausrichtung der Klimapolitik am Leitbild einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft. Die Klimastrategie der Ampel zielt auf Freisetzung einer Dynamik ökologischer Innovationen und Investitionen. Die ökologische Transformation wird nicht als bloßer Top-Down-Prozess staatlicher Lenkung verstanden: Wissenschaft und Forschung, Unternehmertum, Wettbewerb und eine aktive Zivilgesellschaft spielen eine tragende Rolle.
Die Richtung stimmt, aber man hätte der Koalition mehr Mut und Konsequenz hinsichtlich des raschen Übergangs zu einem einheitlichen europäischen Emissionshandels und der Steuerung mittels Umweltsteuern und ‑abgaben gewünscht. In die marktwirtschaftliche Orientierung mischt sich immer wieder die Versuchung zum regulatorischen Klein-Klein, z.B. im Kapitel zur ökologischen Optimierung von Gebäuden. Der proklamierte Grundsatz der Technologieoffenheit ist noch nicht überall angekommen. Dagegen ist das Abrücken von jahres- und sektorscharfen CO2-Reduktionsvorgaben zugunsten einer mehrjährigen und sektorübergreifenden Gesamtrechnung ein mutiger Schritt zu einer flexibleren Steuerung des Transformationsprozesses.
Wichtig ist auch das klare Bekenntnis zu einer leistungsstarken, innovativen Wirtschaft als Basis für nachhaltigen Wohlstand: Die ökologische Transformation muss zu einem ökonomischen Erfolgsprojekt werden. Nur dann wird sie auch den notwendigen gesellschaftlichen Rückhalt gewinnen – und nur dann wird sie zu einem global anschlussfähigen Pilotprojekt. Für ein selbstgenügsames Schrumpf-Europa interessiert sich in Asien oder Afrika kein Mensch.
Am Atomausstieg wird nicht gerüttelt – dafür handeln wir uns die Notwendigkeit ein, den Neubau von Gaskraftwerken als Back up für Wind- und Solarstrom zu forcieren. Das Kunststück wird sein, weder die Abhängigkeit von Russland zu verstärken noch Erdgas auf Dauer festzuschreiben. „Sauberes Erdgas“ ist eine Fiktion, wenn man die Methan-Emissionen bei Förderung und Transport einbezieht.
Die Ausbauziele für Erneuerbare Energien und E‑Mobilität sind hoch ambitioniert. 80 Prozent Regenerativstrom bis 2030 bei gleichzeitig steigendem Strombedarf läuft auf eine Verdoppelung des Angebots an grünem Strom bis 2030 hinaus. Das ist ein enormes Investitions- und Infrastrukturprojekt, inklusive Stromtrassen und Speicherkapazitäten. Bei einer nationalen Engführung der Energiewende ist das kaum zu schaffen.
Wie beim Wasserstoff braucht es auch bei Strom und anderen Energieträgern eine gesamteuropäische Strategie und forcierte internationale Kooperation. Dass die Ukraine explizit als strategischer Energiepartner genannt wird, ist ein wichtiges politisches Signal, insbesondere vor dem Hintergrund von Nord Stream 2. Zu diesem vergifteten Projekt gibt es lediglich die Aussage, dass Energie-Infrastrukturprojekte mit europäischen Recht vereinbar sein müssen. Um diese Entscheidung wird sich die Ampel nicht herumdrücken können.
Interessant auch, dass die Koalitionsvereinbarung mit dem Kapitel zur Modernisierung des Staates beginnt: Nur ein lernfähiger, digitaler und bürgernaher Staat kann die anstehenden Herausforderungen in Kooperation mit Bürgergesellschaft und Wirtschaft bewältigen. Ohne Bürokratieabbau und Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren kann man die Investitionsziele der Ampel vergessen.
Auch außenpolitisch gibt es deutliche Akzentverschiebungen. Das gilt vor allem für den Stellenwert von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit als Leitlinie der Außenpolitik und für die Klarheit hinsichtlich der neuen Systemkonkurrenz mit autoritären Mächten. So viel Kooperation wie möglich, so viel Konfliktbereitschaft wie nötig könnte die neue Leitlinie der Ampel gegenüber China und Russland sein. Auch der Wille zu mehr transatlantischer Kooperation in der Sicherheits‑, Klima- und Handelspolitik ist bemerkenswert.
Ein Wermutstropfen bleibt das Rentenkapitel. Es schreibt den Status quo des Rentensystems fest, obwohl er durch den demographischen Wandel ausgehebelt wird. Das läuft auf steil ansteigende Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt hinaus, die den Spielraum für ökologische Investitionen und soziale Reformen verengen. Der vereinbarte Einstieg in einen kapitalgedeckten Rentenfonds fällt so mager aus, dass er kaum mehr als ein Türöffner ist.
Positiv dagegen der starke Akzent auf mehr Chancengleichheit und soziale Aufstiegsmobilität, vor allem durch eine Bildungs- und Weiterbildungsoffensive. Auch der Stellenwert von Wissenschaft und Forschung soll steigen. Wie das allerdings mit einer steigenden Sozialquote im Haushalt vereinbar sein soll, bleibt ein Geheimnis der Koalitionäre.
Ob all die vielen finanzwirksamen Leistungen und Projekte tatsächlich im Rahmen einer flexibilisierten Schuldenbremse zu stemmen sind, ist eine offene Wette. Es wäre kein Schaden, wenn die Ampel stärker Prioritäten setzen müsste, statt allen alles zu versprechen. Ohnehin wirkt dieses ambitionierte Programm zur Modernisierung von Staat und Gesellschaft ein wenig wie ein sympathisches Wunschgebäude. Die nächsten Jahre werden von Krisen und Konflikten begleitet sein, die nicht eingepreist sind.
Langfristig angelegte Ziele und Strategien sind gut. Es kommt aber entscheidend auf politische Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten an. Auch das ist eine Lehre aus der Covid-19-Pandemie. Dafür der Ampel ein kräftiges Glückauf – sie verdient einen politischen Kredit, den sie einlösen muss. Ein ökologisch-sozial-liberales Reformbündnis ist eine Chance für unser Land und für Europa.
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