Liberale Demokratie, Identitätspolitik & Europa: Wie wir die Dinge sehen
Über die doppelte Bedrohung der liberalen Demokratie, die Irrtümer postmoderner Identitätspolitik, Europas Zukunft und mehr – Wie wir bei LibMod die Dinge sehen
Wer bedroht die liberale Moderne?
Zum einen selbstbewusst auftrumpfende Mächte wie Russland, China, Iran und die Türkei. Sie verstehen sich nicht mehr als Übergangsgesellschaften von einer autoritären Vergangenheit hin zu einer demokratischen Zukunft, sondern als Gegenmodell zum Westen. Damit entsteht eine globale Systemkonkurrenz zwischen Autoritarismus und Demokratie. Gleichzeitig sitzt der Feind im eigenen Haus. In den Kernländern des Westens verbreitet sich mit Trump, Brexit und den rechtspopulistischen bis rechtsradikalen Bewegungen eine antiliberale Revolte. Die Verteidigung der liberalen Demokratie ist die Kernfrage unserer Zeit. Dabei geht es nicht um die Bewahrung des Status quo – Verteidigung heißt Erneuerung. Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag, der Freiheit mit sozialer Teilhabe verbindet.
Was hat die Antiliberalen auf den Plan gerufen?
Wir befinden uns in einer Modernisierungskrise. Fundamentale Veränderungen vollziehen sich in hoher Geschwindigkeit: die ökonomische Globalisierung mit ihrem steigenden Leistungsdruck, die Digitalisierung der Arbeits- und Lebenswelt, globale Migration und – was wir zuweilen unterschätzen – das Aufbrechen der Geschlechterverhältnisse. Diese Veränderungen erzeugen in weiten Teilen unserer Gesellschaften ein Grundgefühl von Unsicherheit und Kontrollverlust. Dafür stehen drei symbolträchtige Ereignisse: 9/11, der Anschlag auf das World Trade Center in New York, die Finanzkrise von 2008 und die Flüchtlingsbewegung. Alle drei haben den Eindruck verschärft, dass die Dinge aus dem Ruder laufen.
Wie gewinnen wir die Zuversicht zurück?
Die Verteidigung der liberalen Demokratie wird uns nur gelingen, wenn wir eine Antwort auf das Bedürfnis nach Sicherheit, Gemeinschaft und Zugehörigkeit finden. Menschen brauchen Bindungen. Die Kritik an Individualisierung und Fragmentierung der Gesellschaft ist eine Grundmelodie der Moderne. Die liberale Gesellschaft ruft radikale Gemeinschaftsbewegungen wie den Kommunismus und den völkischen Nationalismus auf den Plan. Unsere Antwort auf die Wiederkehr totalitärer Ideologien ist die demokratische Republik: eine politische Gemeinschaft freier Bürger, die Werte und Grundüberzeugungen teilen und solidarisch füreinander einstehen.
Die postmoderne Linke will Freiheit durch Identitätspolitik verteidigen – verträgt sich das mit der Republik?
Identitätspolitik stellt sich als Falle heraus. Die Politisierung von Geschlecht, Ethnie, Kultur und Religion mündet in den autoritären Gegenschlag. Auf die Identitätspolitik von links folgt die Identitätspolitik von rechts: Nation, Familie, Tradition. An die Stelle des postmodernen Tribalismus, der die Gesellschaft in kulturelle Subgruppen teilt, tritt die Herrschaft der Mehrheit. Das führt zur „illiberalen Demokratie“ wie in Ungarn und Polen. Wir müssen uns wieder auf das republikanische Verständnis von Demokratie als Bürgerrepublik mit gleichen Rechten und Pflichten besinnen. Demokratie leitet sich nicht aus Gruppenidentitäten ab, sondern aus der Freiheit und Gleichheit jedes Einzelnen.
Um Einigkeit zu stiften, wird Politik neuerdings über den Begriff Heimat erzählt – kann das funktionieren?
Ein Heimatministerium ist sicher nicht die Antwort auf das Bedürfnis nach Zugehörigkeit – Heimat ist keine Staatsaufgabe, sie gehört in die Sphäre der Zivilgesellschaft. Richtig ist aber, dass wir den Rechtspopulisten den Heimatbegriff streitig machen: Heimat ist dort, wo ich anerkannt und geachtet werde. Heimat muss offen sein für Neuankömmlinge, die ihr Leben gemeinsam mit anderen gestalten wollen.
Ist Europa eine Heimat?
Europa bietet uns eine zusätzliche Schicht politischer Zugehörigkeit. Menschen besitzen multiple Identitäten. Wir sind Europäer und durch Geschichte, Kultur und Sprache gleichzeitig auch Deutsche, Franzosen oder Italiener. Genauso sind wir Angehörige von Regionen mit ihren einzigartiger Landschaft und Dialekt – und in unserer Verschiedenheit bleiben wir alle Europäer.
Die EU zeichnen die Systemgegner als undurchschaubares, von der Lebenswelt der Menschen entkoppeltes Bürokratiemonster, als Symbol eines – Achtung! – liberalen Autoritarismus.
Das ist ein groteskes Zerrbild. Wir müssen aber aufpassen, diesem Narrativ nicht in die Hände zu arbeiten, indem wir den Eindruck erwecken, dass die Europäisierung ganz selbstverständlich auf einen europäischen Zentralstaat hinausläuft. Ein Großteil der Bürger kann mit dem Postnationalismus nichts anfangen. Was den einen als Fortschritt erscheint, ist für die anderen eine Bedrohung. Sie empfinden die Erosion der Nationalstaaten als Verlust von Mitbestimmung und Sicherheit. Deshalb müssen wir raus aus der falschen Alternative zwischen einem Europa der Nationalstaaten und den Vereinigten Staaten von Europa. Das europäische Erbe heißt Einheit in Vielfalt. Es braucht Raum für freiwillige Kooperation, wo sich kein Konsens aller erzielen lässt. Wenn man versucht, einheitliche Lösungen per Mehrheitsentscheidung zu erzwingen, verstärkt man nur die zentrifugalen Gegenkräfte. Denken wir Europa als ein politisches Netzwerk mit gemeinsamen normativen Grundlagen und Institutionen!
Russland greift Europa durch Cyberattacken, großangelegte Desinformationskampagnen und militärische Interventionen in seiner Nachbarschaft an. Wie reagieren?
Wir müssen uns den geopolitischen Herausforderungen stellen. Die Vorstellung, mit Geld und Gut-Zureden jeden Konflikte zu lösen, ist trügerisch. Spätestens mit der Annexion der Krim und der Intervention in der Ostukraine ist klar, dass für den Kreml das Recht des Stärkeren gilt. Russland tritt heute als Gegner der liberalen Ordnung auf. Dagegen ist Festigkeit gefragt. Es geht um die europäischen Friedensordnung: Anerkennung der Menschenrechte, Gewaltverzicht und gleicher Souveränität aller europäischen Staaten. Die Zeit ist vorbei, in der die Europäer im Windschatten des großen Bruders Amerika segeln konnten. Das gilt insbesondere für die östliche und südliche Nachbarschaft der EU.
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