Zum Stand der russi­schen Invasion in der Ukraine – Was Deutschland jetzt tun kann und muss

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Der Militär­ex­perte Gustav C. Gressel zum Krieg in der Ukraine: Sein Ausgang hängt auch davon ab, dass der Westen der Ukraine die nötigen Waffen liefert. Gleich­zeitig muss die russische Ökonomie rasch lahmgelegt werden, damit Putin keine Reserven für den Krieg mobili­sieren kann. Ein hartes Öl- und Gasem­bargo kann nach einem russi­schen Rückzug schritt­weise gelockert werden.

1. Kurze Zusammenfassung

  • Die russische Führung zielt auf die Zerschlagung der Ukraine als Staat und Nation ab. Dieses Ziel soll durch eine Vernichtung der politi­schen, kultu­rellen und intel­lek­tu­ellen Eliten und eine dauer­hafte Besatzung des Landes erreicht werden.
  • Im Falle eines russi­schen Sieges droht Europa kein festge­fro­rener Kalter Krieg, sondern eine volatile, instabile Situation an seiner Ostflanke, an der Russland durch ständige Provo­kation und militä­rische Einschüch­terung den Westen davon abschrecken wird, sich in „innere Angele­gen­heiten“ Russlands wie seiner Besat­zungs­regime in Belarus und der Ukraine einzumischen
  • Militä­rische Drohungen gegen die NATO – konven­tionell wie nuklear – sind so lange reine Psycho­logie, als es in der Ukraine organi­sierten militä­ri­schen Wider­stand gibt. Sollte dieser Zusam­men­brechen ist eine Ausweitung der russi­schen Aggression über die Ukraine denkbar, bis zu einem gewissen Grad sogar wahrscheinlich.
  • Die Ukraine hat die Chance, Russland in einen Ermat­tungs­frieden zu zwingen, ähnlich wie das Finnland 1939/​40 im Winter­krieg gelang. Hierzu braucht sie aber dringend westliche Unterstützung.
  • Die Vertei­di­gungs­fä­higkeit der Ukraine kann nicht alleine durch die Bereit­stellung von infan­te­ris­ti­scher Panzer­abwehr und Flieger­ab­wehr­lenk­waffen sicher­ge­stellt werden. Es braucht zum beweg­lichen Abwehr­kampf auch mecha­ni­sierte Reserven. Diese schmelzen ohne westlichen Nachschub in den nächsten Wochen ab.
  • Auch im Bereich der Flieger­abwehr ist der Erhalt von Waffen­sys­temen zum Abfangen hoch fliegender Flugzeuge von entschei­dender Bedeutung.
  • Aus russi­scher Sicht ist das Datum des 1. April 2022 – die Einbe­rufung einer neuen Staffel von Wehrpflich­tigen – entscheidend zur Generierung weiterer Kräfte. Erst wenn die Ukraine die dann erfol­gende neue Welle an Angriffen abwehren kann, wird Russland zu ernst­haften Verhand­lungen bereit sein.
  • Ein weitge­hender Zusam­men­bruch der russi­schen Wirtschaft vor dem 1. April wäre wohl die einzige Chance, diesen Krieg mit westlichen Sanktionen entscheidend zu beeinflussen.
  • In der Westukraine könnte organi­sierter militä­ri­scher Wider­stand noch lange geleistet werden. Ein Aufwachsen ukrai­ni­scher Kräfte und die Ausrüstung mit komple­xeren Waffen­sys­temen wäre möglich, wenn man zunächst stark geschützte Kernge­biete im Westen aufbaut.
  • Dazu bräuchte es aber zuerst eine robuste, über symbo­lische Solida­ri­täts­gesten hinaus­ge­hende militä­rische Präsenz der NATO an ihrer Ostflanke. Erst eine solche Präsenz würde weiter militä­rische und politisch-diplo­ma­tische Schritte erlauben.

2. Russische Kriegsziele

Der russische Angriffs­krieg gegen die Ukraine zielt auf die Unter­werfung und Besetzung des gesamten ukrai­ni­schen Staats­ge­bietes. Seine primäre Absicht ist die Auslö­schung der natio­nalen und kultu­rellen Identität der Ukraine. Dies schließt die physische Vernichtung ihrer politi­schen, intel­lek­tu­ellen, journa­lis­ti­schen, kultu­rellen und adminis­tra­tiven Eliten und ihrer Armee ein, soweit sie Wider­stand leisten. Die anfangs offen propa­gierte „Demili­ta­ri­sierung und Entna­zi­fi­zierung“ der Ukraine war eine kaum verhüllte Ankün­digung dieser Ziele. Zahlreiche Verhaf­tungen von ukrai­ni­schen Vertretern von Verwaltung und Zivil­ge­sell­schaft in Cherson, von denen niemand zurück­ge­kommen oder wieder aufge­taucht ist, sowie die Werbung für die Ausstellung russi­scher Pässe in besetzten Gebieten ist ein klarer Hinweis auf die imperialen und kolonialen Ziele Russlands.

Das langfristige Ziel des Kremls, die ukrai­nische geistige Elite flächen­de­ckend zu vernichten, ist nicht ohne die Einrichtung von Konzen­tra­ti­ons­lagern zu erreichen. Es sollte insbe­sondere deutschen Entschei­dungs­trägern klar sein, was der ukrai­ni­schen Gesell­schaft im Falle der Niederlage droht.

Russland versucht durch blanken Terror die ukrai­nische Gesell­schaft von der Unter­stützung des Wider­standes abzubringen und zu einer Akzeptanz russi­scher Herrschaft zu zwingen. Dazu gehört das gezielte Bombar­dement ziviler Einrich­tungen – Kinder­gärten, Schulen, Kranken­häuser, Pflege­heime – sowie Verhaf­tungen, Erschie­ßungen und Ernied­ri­gungen einschließlich Verge­wal­ti­gungen in den von russi­schen Truppen besetzten Gebieten. Der Angriff auf die besonders schwachen und ungeschützten Teile der Gesell­schaft (Frauen, Kinder, Kranke, Alte) ist dabei gezielt gewählt, um zu demons­trieren, dass die ukrai­nische Armee ihre Bürger nicht schützen könne. Niemand soll im Irrglauben sein, dass es sich beim Bombar­dement von Geburts­kli­niken und Schulen um „Versehen“ handelt.

Sollte Russland in diesem Krieg als militä­ri­scher Sieger hervor­gehen, ist nicht nur in der Ukraine mit einer Terror­herr­schaft zu rechnen, wie sie es seit dem Vormarsch der Wehrmacht in dieses Gebiet nicht mehr gegeben hat. Eine Flücht­lings­welle, die – wenn man die Zahlen aus dem Donbas auf die gesamte Ukraine hochrechnet – weit über die 10 Millionen gehen kann, ist dann noch das geringste Problem Europas. Russland wird nicht nur in der Ukraine eine gegen die NATO gerichtete Militär­struktur aufbauen. Putin schreibt auch jede Art des Wider­standes gegen ihn – seien es die Unabhän­gig­keits­be­stre­bungen in Tsche­tschenen oder Bürger­pro­teste in russi­schen Großstädten – den USA und der NATO in die Schuhe. Da man angesichts der russi­schen Bruta­lität mit weiterem bewaff­neten Wider­stand in der Ukraine rechnen muss, ist davon auszu­gehen, dass Russland den Westen dafür verant­wortlich macht und ihn durch militä­ri­schen Druck, inklu­siver nuklearer Drohungen, einzu­schüchtern und abzuschrecken versucht, sich nicht „in die inneren Angele­gen­heiten Russlands“ einzumischen.

Dass auch nach einem militä­ri­schen Sieg in der Ukraine noch erheb­liche Teile der russi­schen Armee, der Natio­nal­garde und des FSB in der Ukraine statio­niert bleiben müssten, um die eroberten Terri­torien zu beherr­schen, ist sicher. Diese Teile werden syste­ma­tisch in Kriegs- und Mensch­heits­ver­brechen invol­viert. Damit werden sie wiederum an das Regime gebunden, da ihnen sonst der Prozess droht. Die russi­schen Truppen kehren verroht aus der Ukraine nach Russland zurück. Das wiederum zieht eine weitere Steigerung der inneren Repression in Russland und eine Milita­ri­sierung seiner Außen­po­litik nach sich. Europa wird keinen „stabilen“ Kalten Krieg ernten, wie wir ihn aus den 1970er und 1980er Jahren in Erinnerung haben. Vielmehr wird er den insta­bilen 1940ern und 1950ern gleichen, als Stalin die neu eroberten Terri­torien in das sowje­tische Imperium zwang, jeden Wider­stand brach und mit der Berlin-Blockade die Grenzen seiner Macht austestete. Es ist keineswegs sicher, dass sich alle daraus erfol­genden Krisen friedlich lösen und entschärfen lassen.

3. Nukleare Eskalation?

Moskaus Ankün­digung, seine Nukle­ar­streit­kräfte in erhöhte Einsatz­be­reit­schaft zu versetzten, hat im Westen für einige Verun­si­cherung gesorgt. Dabei handelt es sich um nichts anderes als psycho­lo­gische Kriegs­führung. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass die russi­schen Nukle­ar­streit­kräfte Schritte unter­nehmen, die über den regulären Übungs­be­trieb (in den letzten Wochen fanden die „Grom 2022“-Übungen der Nukle­ar­streit­kräfte statt) hinaus­gehen. Sowohl ein Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine als auch gegen den Westen sind derzeit höchst unwahrscheinlich.

In der Ukraine kann das russische Militär durch thermo­ba­rische Waffen ähnliche Zerstö­rungs- und Einschüch­te­rungs­wirkung erzielen, ohne sich das inter­na­tionale Stigma eines Atomwaf­fen­ein­satzes zuzuziehen. Aufgrund der westlichen Sanktionen ist Russland auf die neutrale Haltung von Staaten im Rest der Welt (Indien, Vietnam, Israel, etc.) angewiesen. Ein Atomwaf­fen­einsatz würde das ohne zusätz­lichen militä­ri­schen Nutzen gefährden. Zudem entsteht das Problem der radio­ak­tiven Rückwir­kungen auf Russland.

Auch der Einsatz nuklearer Waffen gegen die NATO ist unwahr­scheinlich. Dieser hätte den sofor­tigen Eintritt des Bündnisses in den Krieg zu Folge. Das kann sich Russland militä­risch nicht leisten, da seine Armee zurzeit in der Ukraine gebunden ist. Weite Teile Russlands, besondere der fernöst­liche Militär­bezirk sind militä­risch entblößt. Es müsste, um eine Eroberung des eigenen Staats­ge­bietes auszu­schließen sofort auf die Ebene des strate­gi­schen Nukle­ar­krieges eskalieren, was einem Selbstmord gleichkommt.

Putin und der russische Militär­ge­heim­dienst (GU, vormals GRU) fürchten die strate­gische und nukleare Überle­genheit der USA. Die Einsatz­be­reit­schaft ameri­ka­ni­scher strate­gi­scher Atomwaf­fen­träger ist in der Praxis um vieles höher als das russische. Zudem überschätzt man in Russland die Leistungs­fä­higkeit der ameri­ka­ni­schen Raketen­abwehr. Der Krieg in der Ukraine hat eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wie tief ameri­ka­nische Nachrich­ten­dienste Einblick in die operative Planung Russlands haben. Russland könnte also die USA kaum mit einem nuklearen Angriff überra­schen. In der russi­schen Denke könnten die USA bei Anzeichen russi­scher Vorbe­rei­tungen einen präven­tiven Atomschlag anordnen, der das russische Potential weitgehend ausschaltet. Das US-Raketen­ab­wehr­system würde dann einzelne russische Inter­kon­ti­nen­tal­ra­keten abfangen.

Dass dieses Szenario auf einer Überschätzung der ameri­ka­ni­schen Entschlos­senheit und der ameri­ka­ni­schen techni­schen Fähig­keiten beruht, tut hier wenig zur Sache. Denn solche Szenarien sind mittler­weile zur Glaubenswelt im Kreml geworden, so wie man glaubt, Ukrainer und Russen sein ein Volk. Es ist daher sehr unwahr­scheinlich, dass Russland hier zu nuklearen Mitteln greifen würde.

Nach geltenden russi­schen Prinzipien der nuklearen Abschre­ckung und impli­ziten Erfah­rungen aus russi­schen Manövern, Fachver­öf­fent­li­chungen und Diskus­sionen ist die Option der nuklearen Eskalation für den Fall einer direkten militä­ri­schen Konfron­tation Russlands mit der NATO vorbe­halten. Waffen­lie­fe­rungen, Sanktionen und andere Formen der Unter­stützung der Ukraine sind weit unterhalb der nuklearen Reizschwelle. Nur wenn die NATO mit geschlos­senen militä­ri­schen Forma­tionen – etwa mehreren Panzer­di­vi­sionen – in den Krieg eingreifen würde und sich durch die daraus resul­tie­rende militä­rische Situation eine erste Gefahr für Kern-Russland entwi­ckeln würde, wäre der Einsatz dieser Waffen eine realis­tische Option.

Indes hat Russland erkannt, das die Furcht vor dem Atomkrieg das beste Mittel ist, die westliche Öffent­lichkeit von einer Unter­stützung der Ukraine abzuhalten, nachdem alle anderen Mittel der Infor­ma­ti­ons­kriegs­führung und Meinungs­b­ein­flussung versagt haben. 30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges herrscht auch in den Reihen der politi­schen Entschei­dungs­träger im Westen blanke Unwis­senheit über alle Fragen nuklearer Abschre­ckung vor. In diese Lücke stoßen die russi­schen Drohungen und Verun­si­che­rungen – in diesem Stadium rein als psycho­lo­gi­sches Druck­mittel, nicht in der Substanz.

Der Einzige Einsatz von Massen­ver­nich­tungs­waffen, der derzeit realis­tisch erscheint, wäre der Einsatz primi­tiver chemi­scher Kampf­stoffe (Chlorgas etc.) oder radio­ak­tiver Substanzen (radio­lo­gische Waffen), um der Ukraine einen Unfall im Bereich der Lagerung solcher Substanzen oder einen Anschlag in die Schuhe zu schieben. Ziel wäre die Diskre­di­tierung der ukrai­ni­schen Führung in der eigenen Bevöl­kerung und im Westen.

4. Stand der Offensive

Russland begann den Krieg als „spezielle militä­rische Operation“ mit dem Ziel, schnell die Haupt­stadt Kyiv und andere wichtige Städte einzu­nehmen und so eine Kapitu­lation der Ukraine zu erzwingen. Diese Phase des Krieges ist in den ersten Tagen des Krieges kläglich gescheitert. Man unter­schätze den ukrai­ni­schen Wider­stand komplett. Die Folgen dieser Fehlent­scheidung wirken sich bis heute militä­risch aus.

Zu Beginn des Krieges setzte Russland etwa 120 Batail­lons­kampf­gruppen (engl. Battalion Tactical Groups, BTG) gegen die Ukraine ein. Eine BTG besteht jeweils aus dem ersten Bataillon eines Motschützen- oder Panze­re­gi­ments, verstärkt durch die erste Kompanie der Kampf­un­ter­stüt­zungs­ba­tal­lione der entspre­chenden Brigade oder Division: einer Batterie Rohrar­til­lerie, einer Batterie Raketen­ar­til­lerie, einer Panzer­ab­wehr­kom­panie, einer Batterie Flieger­abwehr, einer Pionier­kom­panie, sowie einigen Versor­gungs­ele­menten (Transport, Betriebs­mittel, Sanität). Der Grund für die Heraus­lösung der jeweils ersten (manchmal auch zweiten) Bataillone bzw. Kompanien ist, dass diese jeweils aus Berufs- und Vertrags­sol­daten bestehen. Manchmal werden zwar Wehrpflichtige nach Abschluss ihres Wehrdienstes recht unsanft „überredet“ einen einjäh­rigen Vertrag zu unter­schreiben, aber auf dem Papier sind es Freiwillige, die dann in den Krieg geschickt werden können.

Dieses System erlaubt es Russland, rasch Kräfte zu formieren und zu verlegen. Die innen­po­li­tisch umstrittene Verwendung von Grund­wehr­pflich­tigen und Reser­visten wird vermieden. Das System geht auf Erfah­rungen des Tsche­tsche­ni­en­krieges zurück, aller­dings gab es erst nach dem Georgi­en­krieg den Willen und die finan­zi­ellen Ressourcen, um es zu imple­men­tieren. Aber da liegt auch das Problem: es eignet sich für „show of force“ Opera­tionen oder zur Generierung von Truppen für koloniale Konflikte wie Tsche­tschenien oder Georgien. Für den großen Krieg hoher Inten­sität wie in der Ukraine ist das System wenig geeignet.

Von den jewei­ligen Armee­kom­manden direkt geleitete Operative Manöver­gruppen bestehend aus 12 bis zu 20 BTGs sind zu umständlich in der takti­schen Führung und Koordi­nation. Die Armee­kom­man­danten müssen sich um zu viele Einheiten kümmern, spielen quasi gleich­zeitig Corps- und Briga­de­kom­mando auf einmal. Wichtige Lageinfor­ma­tionen oder Befehle werden übersehen oder zu spät gegeben. Schlechte Funkgeräte verstärken das Problem. Dann müssen komman­die­rende Generäle nach vorne, um sich selbst ein Bild der Lage zu machen, sie werden damit ein leichtes Ziel für Attacken des Gegners. Die Moral der Truppe und das Vertrauen in die Führung hat unter den falschen Kriegs­vor­wänden (vielen Soldaten wurde nicht gesagt, dass sie in einen echten Krieg marschieren) stark gelitten und wurde durch das organi­sa­to­rische Chaos weiter verstärkt.

Die Koordi­na­ti­ons­schwie­rig­keiten sind umso größer bei den Kampf­un­ter­stüt­zungs­truppen, insbe­sondere der Flieger­abwehr. Vier zusam­men­ge­stop­pelte Batterien sind noch lange kein Bataillon. Hier wirkt sich das Fehlen der überge­ord­neten Bataillons- und Regiments­kom­mandos besonders schwer aus, da diese die Feuer­sek­toren mit den Luftstreit­kräften koordi­nieren. Ohne diese Komman­do­struk­turen wissen die russi­schen Flieger­ab­wehr­kräfte nicht, welche Flugbe­we­gungen eigene sind, und verhalten sich dementspre­chend zurück­haltend (und werden dann von ukrai­ni­schen Bayraktar Drohnen angegriffen). Die russische Luftwaffe ihrer­seits kann kaum effektive Luftnah­un­ter­stützung fliegen aus Furcht, von eigenen Flieger­ab­wehr­sys­temen abgeschossen zu werden. Da Russland und die Ukraine dieselben Systeme mittlerer Reich­weite einsetzten, muss sie auch bei Angriffen auf Radar- und Feuer­leit­stel­lungen Vorsicht walten lassen, um nicht die eigene Flieger­abwehr auszu­schalten. All diese Schwächen kommen den ukrai­ni­schen Vertei­digern zugute, die sich taktisch sehr geschickt auf ihren Gegner einstellen.

Zu guter Letzt sei auch erwähnt, dass Einrich­tungen der Feldin­stand­setzung (Werkstätten, etc.) Einrich­tungen der Brigade und Divisi­ons­ebene sind, die nicht mit ins Feld geführt wurden, da in ihnen Wehrpflichtige dienen. Da sich die russi­schen Kräfte zum Teil seit Oktober schon in Übungen befanden, und routi­ne­mäßige Instand­set­zungs­ar­beiten nicht erledigt wurden, ist der Zustand des Materials (Räder, Ketten, Schmier­mittel in Motoren und Getrieben, etc.) dementspre­chend schlecht und führt zu hohen techni­schen Ausfällen.

Hinzu kommt, dass wohl viele zum Vertrags­ab­schluss gezwungene „Freiwillige“ nach Überschreiten der Grenze deser­tiert sind.

Die russische Armee verfügt nach eigenen Angaben über 168 BTGs, etwa 110 bis 120 davon wurden am 24. Februar gegen die Ukraine einge­setzt. Der erste Ansatz erfolgte mit mindestens 34 BTG auf Kyjiw, 24 BTG auf Charkiw, 13 BTG zusätz­liche BTG zu den Kräften der DNR und LNR aus dem Donbas, und mindestens 20 BTG aus der Krim auf Cherson und Richtung Mariupol. Etwa 20 bis 30 BTG wurden als Reserve zurück­be­halten und wurden erst in der zweiten Woche des Krieges einge­setzt. Es wurden auch mindestens 10 weitere BTG (vermutlich mehr) in die Ukraine verlegt bzw. befinden sich in Marsch.

Selbst mit diesem massiven Kräfte­einsatz konnte die russische Armee keines ihrer anfänglich gesteckten Ziele erreichen. Sie verfügt über maximal 38 weitere BTG die dem Kampf zugeführt werden können, ohne auf Wehrpflichtige und Reser­visten zurück­greifen zu müssen. Bedenkt man, dass durch Kampf­hand­lungen, Deser­tation, und Kapitu­lation Kräfte von etwa 30 BTG ausge­fallen sind, ist das nicht viel. Es reicht zur Fortsetzung des Krieges, aber nicht um unmit­telbar eine strate­gische Entscheidung zu erzwingen.

5. Neue Kräfte?

Für Moskau ist es daher besonders wichtig, neue Kräfte aufzu­bieten. Das Zuführen von Wagner-Söldnern (etwa 4000 an der Zahl) und angewor­benen Truppen aus dem Nahen Osten und Afrika kann die Lücken im russi­schen Kräft­e­dis­po­sitiv nicht schließen. Dafür sind diese Kräfte entweder zu wenig (Wagner) oder in Kampf­kraft, Ausbildung und Moral der Aufgabe nicht gewachsen (Kanonen­futter aus Syrien). Teilmo­bil­ma­chungen in ländlichen Räumen (Dagestan) dient der Heraus­lösung weiterer Berufts- und Vertrags­sol­daten aus dem Ausbil­dungs- und Friedens­be­trieb, um Verluste ausgleichen zu können. Aber auch dem sind Grenzen gesetzt.

Die Kriegs­pro­pa­ganda und das Schüren von Begeis­terung für den Krieg laufen auf Hochtouren. Das Regime ist, was den Einsatz von Grund­wehr­dienern angeht, noch vorsichtig, da eine Konfron­tation breiter gesell­schaft­licher Schichten mit der Realität des Krieges in der Ukraine erheb­liche innen­po­li­tische Risiken birgt. Inwieweit die gegen­wärtige Propa­ganda hier für die entspre­chende Geschlos­senheit sorgen kann, ist nicht abzusehen. Eine volle Mobil­ma­chung Russlands würde den Krieg zuungunsten der Ukraine entscheiden, aber womöglich auf Kosten der Regime­sta­bi­lität in Moskau. Diese Fragen wägt Putin und die Regime-Entourage gerade ab, Ausgang ungewiss.

Entscheidend für die Frage ob Russland im gegen­wär­tigen Rahmen den Krieg wird fortsetzen können, wird der 1. April 2022 sein. An diesem Einrü­ckungs­termin rücken nicht nur hundert­tau­sende Wehrpflichtige in die Armee ein, sondern scheiden auch ebenso viele wieder aus (im preußi­schen Militär­jargon „ausmustern“ genannt). Diese werden für Vertrags­ver­hält­nisse in der Armee angeworben, um sie in den Krieg schicken zu können. Insbe­sondere freilich die Wehrpflich­tigen jener kriti­schen Elemente, die den BTGs bisher fehlen). Dann könnte man die fehlenden Werkstätten und andere Ausrüstung samt der schon fertig ausge­bil­deten Soldaten in die Ukraine verlegen. Nach diesem Datum ist also mit einer quali­ta­tiven und quanti­ta­tiven Verbes­serung der russi­schen Lage zu rechnen.

Ziel des Westens muss es daher sein, in der noch verblie­benen Zeit die ukrai­nische Armee soweit zu unter­stützen, dass die diesem neuen Angriff stand­halten kann und durch schnelle, harte und breite Sanktionen die russische Wirtschaft vor diesem Datum lahmzulegen.

6. Ukrai­nische Verteidigung

Die ukrai­ni­schen Vertei­diger haben sich nicht nur als äußerst tapfer, sondern auch als taktisch und operativ versiert und flexibel vertei­digend erwiesen. Dass die an Tag 15 noch einsatz­be­reite Kampf­flug­zeuge und funkti­ons­fähige Flieger­ab­wehr­systeme mittlerer Reich­weite verfügen, übertrifft die positivsten Erwar­tungen. Aber auch die Ukrai­nische Armee hat Verluste hinnehmen müssen und der Verbrauch von Munition wird mit zuneh­mender Dauer des Krieges zum Problem.

Die ukrai­nische Armee verfügte vor dem Krieg über etwa 70 Bataillone an Kampf­truppen (Panzer­kräfte, Mecha­ni­sierte Infan­terie, Infan­terie). Diese bilden nach wie vor den harten Kern der Vertei­digung an allen Front­ab­schnitten. Hinzu kamen etwa 50.000 Mann einbe­rufene Reser­visten und 100.000 Mann Terri­to­ri­al­ver­tei­digung, hinzu Freiwillige aus dem In- und Ausland. Die ukrai­ni­schen Kräfte konnten also in den letzten Tagen stark anwachsen, aller­dings bestehen die frischen Kräfte aus leichter Infan­terie: sie kann den mecha­ni­sierten Kräfte Russlands nur stand­halten, wenn sie vertei­di­gungs­güns­tiges Gelände nützen kann – in diesem Fall Städte. Außerhalb der Städte, insbe­sondere im flachen Agrarland in der Südukraine, können sie das nicht.

Auch haben die ukrai­ni­schen Vertei­diger das Problem, dass es mehr Raum als Kräfte gibt, um diesen abzudecken. Russische Truppen finden immer wieder Lücken zwischen den ukrai­ni­schen Vertei­digern, um an diesen vorbei in die Tiefe zu stoßen. Dann müssen die Ukrainer diesen den Nachschub abscheiden, und die einge­drun­genen Spitzen mit mecha­ni­sierten Reserven vernichten. Dies gelang insbe­sondere um Kyjiw und Tscher­nihiw recht gut. Aller­dings kostet es auch der Ukraine Kräfte und Material, insbe­sondere das ihrer mecha­ni­sierten Reserven.

So viele Panzer­ab­wehr­waffen die Ukraine auch bekommen mag, allein aufgrund des Geländes ist eine rein infan­te­ris­tische Vertei­digung auf Dauer nicht durch­haltbar. Um die ukrai­nische Vertei­di­gungs­fä­higkeit zu erhalten ist ein Nachschub auch mit schwerem Gerät – Panzer, Artil­lerie, Schüt­zen­panzer und der dazuge­hö­rigen Munition dringend notwendig.

Selbiges gilt für die Luftver­tei­digung. In der vergan­genen Woche konnte die Ukraine der russi­schen Luftwaffe die höchsten Verluste seit dem zweiten Weltkrieg zufügen. Aller­dings halfen das schlechte Wetter und die dicke Wolken­decke. Um Ziele identi­fi­zieren und angreifen zu können, mussten die russi­schen Piloten die Wolken­decke unter­fliegen und kamen so in den Bereich der ukrai­ni­schen Luftabwehr, der es an schul­ter­ge­stützten Raketen (Stinger, Igla, und polnische Grom) nicht mangelt. Nun macht sich aber ein Hochdruck­gebiet über der Ukraine breit, und russische Flugzeuge können größere Höhen für ihre Angriffe nutzen.

Die Ukraine verfügt noch über einsatz­fähige Flieger­ab­wehr­ra­ke­ten­systeme mittlerer und großer Reich­weite, insbe­sondere Buk-M1 und S‑300. Auch fliegt die Luftwaffe Abfang­ein­sätze. Solange diese Waffen­systeme eine Bedrohung auch für hochflie­gende russische Flugzeuge darstellen, wird die russische Luftwaffe ihrer­seits Systeme zurück­halten, die sie keinem großen Risiko aussetzen will. Das betrifft insbe­sondere Bomber (Tu-22M3, Tu-95/142, Tu-160), die das Rückgrat der luftge­stützen nuklearen Abschre­ckung stellen, anderer­seits bei wenig Risiko (wie etwa in Syrien) zum Flächen­bom­bar­dement von Städten einge­setzt werden. Die weitere Verfüg­barkeit solcher Kampf­mittel hat einen entschei­denden, unmit­tel­baren Einfluss auf die humanitäre Lage.

7. Welche Militärhilfe

Die ukrai­nische Armee braucht unsere unmit­telbare Unter­stützung: umfassend, unbüro­kra­tisch und sofort.

Kurzfristig imple­men­tierbare Hilfe besteht vor allem im Überlassen von Ausrüstung, Gerät und Munition, die in der Ukraine keinerlei logis­ti­schen- oder Trainings­vorlauf benötigen. Von Kalasch­nikow Sturm­ge­wehren über RPG‑7 und Munition hinauf zu Kampf­panzern (T‑72, PT-91), Schüt­zen­panzern (BMP‑1/​2), Mannschafts­trans­port­panzer (MT-LB, BTR) findet sich vor allem in den Armeen unserer östlichen Verbün­deten vieles, was die Ukraine brauchen und verwenden kann. Auch MiG-29 Kampf­flug­zeuge gehören dazu, wie finnische Buk-M1 und slowa­kische und griechische S‑300 und polnische und griechische 9K33 Osa Fliegerabwehrraketen.

Insbe­sondere Nachschub an gepan­zerten Kampf- und Gefechts­fahr­zeugen ist für den Erhalt mecha­ni­sierter Reserven wichtig. Flieger­ab­wehr­lenk­waffen halten die Bedrohung russi­scher Bomber durch diese aufrecht. Hier sind in erster Linie die östlichen Verbün­deten Deutsch­lands gefragt, aller­dings muss bei vielen Geräten aus NVA Bestand auch eine deutsche Export­ge­neh­migung eingeholt werden. Deutschland sollte den NATO-Partnern, die ihre eigenen Armeen und Muniti­ons­be­stände durch diese Hilfs­lie­fe­rungen entblößen, direkt helfen, sowohl in der Nachbe­schaffung, als auch durch Statio­nierung von Truppen zum Erhalt der örtlichen Sicherheit.

Weitere unmit­telbar nützliche Ausrüs­tungs­ge­gen­stände sind Winter­uni­formen, Schutz­westen, Helme, Nacht­sicht­geräte, Wärme­bild­geräte, verschlüs­selte Funkgeräte, schwere Scharf­schüt­zen­ge­wehre, Panzer­ab­wehr­waffen aller Art, Flieger­f­äußte (MANPADS), Klein­drohnen mit Wärme­bild­ge­räten, Dronen­störer, Panzer­minen, Pionier- und Baugerät.

Einen nicht zu unter­schät­zenden Wert haben die Weitergabe von Aufklä­rungs­er­geb­nissen, insbe­sondere nachrich­ten­dienst­liche Erkennt­nisse, Lagebild­in­for­ma­tionen aus Satel­li­ten­bildern, elektro­ni­scher Überwa­chung der russi­schen Kommu­ni­kation und Radar­si­gnale, der Luftraum­daten insbe­sondere zu Frühwarnung vor Luftan­griffen. Eine dementspre­chende Verstärkung der Aufklä­rungs­tä­tig­keiten der NATO durch die Bundeswehr und den BND ist mit aller Kraft zu forcieren.

Die Lieferung bewaff­neter Drohnen und Munition für diese, sowie selbst­ziel­su­chende Munition (loitering munition) wäre ein wirkungs­volles Mittel, die Reich­weite der ukrai­ni­schen Artil­lerie zu steigern und der Ukraine zu ermög­lichen, hochwertige Ziele im Rücken des Feindes (Reserven, Gefechts­stände, Nachschub, Belage­rungs- und Raketen­ar­til­lerie) anzugreifen. Aller­dings hat Deutschland die vergan­genen 20 Jahre mit frucht­losen Debatten um ein Verbot solcher Waffen vergeudet. Solch ein Verbot war von Anfang an unrea­lis­tisch und fußte einzig und allein auf Wunsch­denken, dass durch „Friedens­for­scher“, die Abrüs­tungs­lobby und Politiker ohne militä­rische Kennt­nisse perpetuiert wurde. Deutschland hat hier nichts Verwert­bares anzubieten. Man könnte allen­falls Finanz­mittel für ihre Beschaffung aus anderen Quellen bereitstellen.

Schwe­dische Strix Granat­wer­fer­mu­nition zur Panzer­abwehr wäre eine wirkungs­volle Unter­stützung für die ukrai­nische Infan­terie im Ortskampf. Aller­dings verfügen nur Schweden und die Schweiz über diese Munition.

Mittel­fristig ist es damit aber nicht getan. Der Krieg in der Ukraine wird deutlich länger dauern als ursprünglich angenommen, und eine militä­rische Besetzung der westlichsten Oblaste durch das russische Militär scheint derzeit kaum möglich. Es bietet sich also sowohl die Zeit, als auch die Möglichkeit, die Ukraine in technisch ausge­reiftere Waffen­systeme einzu­schulen und diese auszu­liefern. In der Westukraine könnte man dafür auch die entspre­chende Infra­struktur zur Wartung aufbauen. Würde man hierzu einmal die deutsche Bürokratie über Bord kippen und bedenken, dass die Ukrainer hierfür mehr als 40 Stunden die Woche arbeiten, ginge das je nach System auch schneller als in Friedenszeiten.

Systeme mittlerer Komple­xität, die es in europäi­schen Lagern gibt, würden etwa diverse Varianten des Kampf­panzers Leopard 1 und 2, der Panzer­hau­bitze M‑109, diverse Varianten des M‑113 und ähnlicher Fahrzeuge und anderer Mannschafts­trans­port­panzer umfassen. So in Deutschland noch vorhanden wären LARS Raketen­ar­til­le­rie­systeme und Skorpion Minen­werfer, beide zum Verschuss der der AT‑2 Panzermine geeignet, in Erwägung zu ziehen. Der Bereich Flieger­abwehr ist hier der proble­ma­tischste, da moderne westliche Systeme erheb­liche Komple­xität aufweisen, und sich zum großen Teil nur im Erprobung- und Vorse­ri­en­stadium befinden. In Washington macht man sich aber schon Gedanken darüber, was man liefern könnte, dementspre­chend wären Absprachen mit anderen liefer­fä­higen Verbün­deten zu treffen. Dementspre­chende Vorbe­rei­tungen sind aber jetzt in die Wege zu leiten, damit sie in einigen Monaten wirksam werden können.

Die in der Öffent­lichkeit oft disku­tierten Systeme Patriot eignen sich für die Ukraine wenig. Nicht nur ist Patriot in diversen Varianten überkomplex, und nur mit erheb­lichem logis­ti­schem Aufwand und langwie­riger Ausbildung (insbe­sondere bei älteren Geräten) zu betreiben, auch ist das System zu statisch für die beweg­liche Kampf­führung der Ukrainer (die ja ständig russi­schen Raketen­an­griffen ausweichen müssen). Das franzö­sische VL-MICA und SAMP/​T (Aster) System ist deutlich einfacher zu bedienen und mobiler, bräuchte aber unmit­telbare logis­tische Anschluss­un­ter­stützung durch Frank­reich in Polen. Diesbe­züg­liche Entschei­dungen wären aber jetzt tu treffen, da solche Liefe­rungen in jedem Fall erheb­lichen Vorlauf an Ausbildung und logis­ti­scher Vorbe­reitung brauchen.

8. NATO Force Posture

Der Krieg in der Ukraine, der militä­rische Aufmarsch in Belarus und der Krim stellen auch eine direkte Bedrohung für die Sicherheit der östlichen Nachbar­staaten Deutsch­lands dar. Von Russland gibt es bereits Drohungen, auch Flüch­tende, Hilfs­lie­fe­rungen oder Waffen­trans­porte anzugreifen, und nicht nur im Grenz­gebiet sondern auch auf NATO-Territorium.

Hätte die NATO bereits im Oktober angefangen, den russi­schen Truppen­auf­marsch durch entspre­chende eigene Verle­gungen zu spiegeln, hätte man die russische Furcht vor einem Eingreifen des Westens als Druck­mittel nutzen und so die russische operative Planung verkom­pli­zieren, wenn nicht sogar vor einem Angriff abschrecken können. Aber diese Chance wurde verpasst.

Nun gilt es der Situation hinter­her­zu­laufen und einen glaub­wür­digen, abschre­ckungs­fä­higen Aufbau eigener Kräfte an der Ostflanke einzu­leiten. Es darf keine Grauzone entstehen, in der Russland eine Provo­kation lancieren könnte, ohne dass die NATO reagieren könnte. Auch ist die Sicherheit jener Staaten, die Waffen an die Ukraine liefern (siehe oben) und sich dadurch entblößen, durch direkte Truppen­sta­tio­nie­rungen auszu­gleichen. Das muss über das gegen­wärtige Maß symbo­li­scher Statio­nie­rungen hinaus­gehen. Die gesamte NRF muss jetzt vorwärts statio­niert werden. Eine einheit­liche Führung unter NATO-Komman­do­struktur für den Kriegs­schau­platz Nordost und Südost  muss die Führung der alliierten Kräfte im Raum übernehmen. Vor allem im Bereich Flieger und Raketen­abwehr müssen zusätz­liche Verstär­kungen einbe­zogen werden. Das deutsche Vertei­di­gungs­mi­nis­terium hat lange versprochen, im Krisenfall bis zu divisi­ons­starke Kräfte bereit­stellen zu können. Die Krise ist schon lange da.

Frank­reich hat gestern eine Staffel Kampf­flug­zeuge nach Polen verlegt. Die Luftwaffe der Bundeswehr kann das Gleiche tun, ein Geschwader wäre freilich besser.

Erst wenn die Grenze der NATO ein absolutes und glaub­wür­diges Tabu für russische Angriffe ist (das kann man nicht mit Worten, sondern nur mit militä­ri­schen Taten unter­streichen), kann man die Tabuzone auf Grenz­über­gänge und Flücht­lings­ko­lonnen jenseits der Grenze ausdehnen. Von da an kann man situativ, Schritt für Schritt, durch Ausrüstung und nachrich­ten­dienst­liche Unter­stützung der Ukrainer die Handlungs­freiheit der russi­schen Luftwaffe einschränken.

Über eine Flugver­botszone zum gegen­wär­tigen Stand zu disku­tieren ist sinnlos. Es fehlen die Kräfte, um diese überhaupt durch­zu­setzen. Auch politisch ist nicht zu erwarten, dass ein solcher Beschluss in der NATO einfach durchgeht. Selbst wenn, hätte Russland genügend Möglich­keiten, Flugzeuge der NATO vom Boden oder aus der Luft anzugreifen und somit die NATO wieder vor die Wahl zu stellen, entweder militä­risch zu eskalieren oder klein beizu­geben. Aus den oben genannten Gründen – man schlittert nicht so schnell in einen Atomkrieg – würde Russland eher konven­tionell eskalieren. Wenn man aber einmal ein militä­risch ernst zu nehmendes Streit­kräf­t­e­dis­positv an der Ostflanke aufge­stellt hätte, könnte man zumindest den öffent­lichen Druck für eine Flugver­botszone bzw. ein Eingreifen gegen Russland diplo­ma­tisch ins Felde führen, um die russische Führung zu verun­si­chern und zu ernst­haften Verhand­lungen zu bringen. Das Vorhan­densein starker Kräfte allein erweitert bereits den eigenen diplo­ma­ti­schen Handlungsspielraum.

9. Sanktionen

Das russische Kalkül folgt gegen­wärtig einzig und allein der militä­ri­schen Logik. Wirtschaft­liche Zwangs­maß­nahmen müssen daher zeitlich und in der Inten­sität an die militä­rische Zeitleiste angepasst werden. Das Postulat, Sanktionen müssten langfristig angelegt sein und nachhaltige Wirkung entfalten ist fehl am Platz.  Es ist Putin egal, was in fünf Jahren mit der russi­schen Wirtschaft passiert, sein Entschei­dungs­ho­rizont geht kaum über den ersten April hinaus.

Der Haupt­zweck von Sanktionen muss in dieser Situation sein, die russische Wirtschaft so hart, so schnell und so breit wie möglich zum Erliegen zu bringen. Ein vor dem ersten April einset­zender Zusam­men­bruch der russi­schen Wirtschaft und der Staats­fi­nanzen würde die oben beschriebene Ausweitung des Krieges durch Russland schwer bis unmöglich machen. Die innen­po­li­ti­schen Folgen wären zu hoch. Diesem Ziel sind alle anderen Maßnahmen unterzuordnen.

Dafür müssen Sanktionen nicht langfristig durch­haltbar sein. Ein komplettes Öl und Gasem­bargo gegen Russland könnte „für die Dauer der Kampf­hand­lungen“ verhängt werden. Öl und Gasex­porte sind die wichtigsten Einnahmen und Devisen­quellen des russi­schen Staates. Russland kann seine Energie­ex­porte nicht so schnell diver­si­fi­zieren. Gemeinsame Gas- und Ölein­käufe durch die Kommission (ähnliche Instru­mente gibt es bei Kernbrenn­stäben) würden die Gasbe­schaffung für kaufkraft­schwä­chere Staaten erschwinglich machen.

Ale bishe­rigen Sanktionen und Einschrän­kungen müssen auf den gesamten Unions­staat ausge­dehnt werden (Russland und Belarus) um ein Umgehen der Sanktionen über die belarus­sische Kolonie zu verhindern.

Eine Ausweitung und Vertiefung der Banken­sank­tionen, etwa das Verbot in Euro zu handeln und wechsel­seitig Depen­denzen zu unter­halten, muss rasch ergriffen werden. Ebenso sollten exter­ri­to­riale Sanktionen, insbe­sondere Druck auf chine­sische und indische Banken, sich vom russi­schen Markt zurück­zu­ziehen, ausge­weitet werden.

Wenn wir heute nicht alles tun, um den Abwehr­kampf der Ukraine zu unter­stützen, werden wir morgen für uns kämpfen müssen.

 

Textende

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