„Netanjahu hat die Extre­misten größer gemacht“

Die israe­li­sche Histo­ri­kerin Fania Oz-Salz­berger im Interview mit Till Schmidt über die Verfasst­heit der israe­li­schen Gesell­schaft und neue Wege des Wider­stands gegen die geplante Justizreform.

Till Schmidt: Seit knapp einem halben Jahr gehen landes­weit hundert­tau­sende Israelis gegen die ange­strebte Justiz­re­form auf die Straße. Wo steht die Protest­be­we­gung aktuell, wo die israe­li­sche Gesellschaft?

Fania Oz-Salz­berger: Eine Prognose fällt mir schwer. In jedem Fall befinden wir uns in einem extrem gefähr­li­chen Moment der israe­li­schen Geschichte. Der Fahrplan, mit dem die Regierung arbeitet, ähnelt dem aus Ungarn oder Polen. Direkt nach ihrem Amts­an­tritt Anfang dieses Jahres versuchte die Regierung, möglichst schnell ein Paket von Gesetzen durch­zu­bringen, um das Oberste Gericht und das Amt des Gene­ral­staats­an­waltes zu verstümmeln.

Das Ziel ist es, die Gewal­ten­tei­lung, die wenigen Checks and Balances, die wir in Israel haben, abzu­schaffen. In der Folge könnten – und würden – weitere illi­be­rale Initia­tiven relativ einfach durch­ge­setzt werden. Gerichtet etwa gegen Frauen, israe­li­sche Arabe­rInnen und LGBTQ.

Das war der anfäng­liche Schwung der Regierung. Doch mit einer so kraft­vollen Protest­be­we­gung hatte sie offenbar nicht gerechnet.

In der Tat: Jede Woche gehen insgesamt eine Viertel‑, wenn nicht sogar eine halbe Million Israelis landes­weit auf die Straße. Dass fast ein Fünftel der Bevöl­ke­rung gegen die Pläne der Regierung demons­triert, ist eine atem­be­rau­bende Leistung.

Nach dem massiven Druck der Protest­be­we­gung hatte die Regierung ihre Geset­zes­pläne einge­froren und war im Haus von Staats­prä­si­dent Herzog in Gespräche mit der parla­men­ta­ri­schen Oppo­si­tion einge­treten. Die Verhand­lungen sind aber an erneuten Vorstößen der Koalition geschei­tert. Nun hat die Regierung einige ihrer Geset­zes­vor­haben wieder aufgenommen.

Haben Sie den Versuch eines illi­be­ralen, in Teilen auch theo­kra­ti­schen Staats- und Gesell­schafts­um­baus kommen sehen?

Viele dachten, mit der neuen Regierung bliebe Vieles mehr oder weniger beim Alten. Wir haben zwar damit gerechnet, dass sich der Konflikt mit den Paläs­ti­nen­se­rInnen verschärft. Aber nicht mit einer Attacke auf das grund­le­gende, liberale Konzept der Gewal­ten­tei­lung, mit einem versuchten Staats­streich von oben. Selbst die Likud-Wähle­rInnen wurden im Wahlkampf nicht darüber infor­miert – obschon seit langem viele Lügen über das Oberste Gericht verbreitet werden.

Wie würden Sie die aktuelle Regierung charakterisieren?

Als extremste Regierung in der israe­li­schen Geschichte. Unter Netanjahu hat sich der Likud in eine sehr rechte, popu­lis­ti­sche Partei verwan­delt. An seinen bishe­rigen Kabi­netten waren zudem stets auch linke oder zentris­ti­sche Koali­ti­ons­partner beteiligt, die Netanjahu eingehegt hatten. Statt­dessen sind es nun extrem natio­na­lis­ti­sche und offen rassis­ti­sche Parteien. Lange Zeit waren das eher rand­stän­dige Extre­misten. Durch ihre Aufwer­tung als brauch­bare poli­ti­sche Partner hat Netanjahu die Extre­misten größer gemacht.

Dazu kommen die ultra­or­tho­doxen Parteien. Ausge­stattet mit einem hohen Budget wollten sie früher im Wesent­li­chen in ihrem Paral­lel­uni­versum in Ruhe gelassen werden. Das hat sich nun geändert, weil ihrer Führungs­fi­guren gemerkt haben, wie viel sie nun gewinnen können. Etwa wenn sie ihre Agenda für eine stärkere Geschlech­ter­tren­nung im öffent­li­chen Raum voran­treiben. Mode­ra­tere Stimmen aus den eigenen Reihen gehen jetzt unter.

In welchem sozio-poli­ti­sche Kontext agiert die neue Regierung?

Da ist vor allem die vergif­tete öffent­li­chen Debatte. Von Anfang an hat Netanjahu ein ausge­klü­geltes System aus Netz­werken und Medi­en­ver­tre­tern geschaffen, das im Wesent­li­chen seinen Willen venti­liert. Auf dem News-Sender Channel 14 etwa werden von diesen Shofarim, wie wir sie nennen (der Ausdruck bezieht sich auf das Widder­horn, das tradi­tio­nell am jüdischen Neujahrs­fest Rosh HaShana geblasen wird; Anm.d.Red.), Fake News und Lügen über den rechten Staatstreich verbreitet – etwa, dass es ähnliche Arran­ge­ments in anderen Staaten bereits gibt oder dass Israel auch nach der soge­nannten Justiz­re­form eine sichere Demo­kratie bleiben würde. Channel 14 ist das Äqui­va­lent zu Fox News in den USA – eine Echokammer.

So viel Gutes Netanjahu auch für die israe­li­sche Wirt­schaft getan hat, eine seiner zentralen Hinter­las­sen­schaften ist die Auftei­lung der israe­li­schen Gesell­schaft in zwei sich bekrie­gende Lager: pro oder contra Netanjahu. Letztere brand­marken er und sein Kreis als „Verräter“, „unjüdisch“ oder als „Araber­freunde“. Die israe­li­sche Gesell­schaft ist heute durch eine starke gegen­sei­tige Verach­tung geteilt. Das scheint sich kaum repa­rieren zu lassen.

Inwieweit gelingt es der Protest­be­we­gung, diese Pola­ri­sie­rung zumindest in Ansätzen aufzuweichen?

In Tel Aviv, in Jerusalem, aber auch in kleineren Städten sehen wir nun Leute, die noch nie gegen Netanjahu demons­triert hatten. Sie kommen aus der bislang schwei­genden Mitte oder sind Netanjahu-Wähler, stellen sich aber gegen die Angriffe auf das Oberste Gericht. Allen Umfragen der letzten Monaten zufolge würde Netanjahu aktuell Wahlen verlieren.

Die große Frage für uns als Protest­be­we­gung ist: Was machen wir als nächstes? Falls Ende Juni eines der Gesetze zur Lähmung des Obersten Gerichts verab­schiedet werden sollte und auch weitere folgen, müssen wir über den höflichen Protest hinaus­gehen. Damit meine ich selbst­ver­ständ­lich nicht den Einsatz von Gewalt.

Als Netanjahu im März kurzer­hand den sich vorsichtig kritisch äußernden Vertei­di­gungs­mi­nister Yoav Gallant feuerte, war die Ankün­di­gung eines Gene­ral­streiks durch die zentrale Gewerk­schaft Histadrut ein sehr wirksames Druckmittel.

Was genau schwebt Ihnen vor?

Ich denke, wir müssen den Wider­stand stärker über die Wirt­schaft ausüben. Einige Hightech Firmen haben Israel bereits verlassen, weil sie nicht in einem politisch insta­bilen Umfeld bleiben wollten. Aber wir brauchen mehr als das. Ich denke etwa an die Weigerung, Steuern zu zahlen.

Dazu kommen die frei­wil­ligen Reser­visten, die in Notfall­si­tua­tionen unver­zichtbar sind. Kein Soldat würde sich bei einem Angriff der Hisbollah oder des Iran dem Kampf verwei­gern. Gleich zu Beginn der Proteste haben jedoch einige frei­wil­lige Reser­visten ihren Dienst beendet. Hundert­tau­send weitere drohen nun damit, es ihnen gleich zu tun, falls die Justiz­re­form weiter voran­ge­trieben wird.  Darunter befinden sich Luft­waf­fen­pi­loten, Kämp­fe­rInnen der Spezi­al­ein­heiten und Personen aus dem Hightech-Sektor. Auch die Weigerung, den verpflich­tenden Wehr­dienst anzu­treten, ist eine Option.

Falls das Oberste Gericht ein Gesetz kassiert, sich die Knesset aber weigert, das Urteil anzu­er­kennen, gerät Israel in eine schwere konsti­tu­tio­nelle Krise. Was geschieht dann?

Sollte das passieren, haben einige führende Köpfe aus dem Militär, Geheim­dienst und der Polizei ange­kün­digt, nicht der Knesset, sondern dem Obersten Gericht zu folgen. Andere wiederum aber werden das nicht tun, so dass ein Bürger­krieg droht.

Gibt es Themen, welche die Protest­be­we­gung in ihren Augen stärker berück­sich­tigen sollte?

Die stärkere Einbin­dung von Paläs­ti­nen­sern. Auch hier lassen sich landes­weit kleine Entwick­lungen beob­achten hin zu mehr Präsenz und Inklusion in die Proteste. Wir brauchen die israe­li­schen Araber als Partner in unserem Kampf gegen den Putsch­ver­such. Gleich­wohl sollte das Thema die Protest­be­we­gung nicht domi­nieren. Dennoch ist klar, dass Minder­heiten die ersten sind, die von der Regierung ohne das Korrektiv des Obersten Gerichts ins Visier genommen werden würden.

Vorhin bezeich­neten Sie die aktuelle Protest­be­we­gung als beispiellos. Sehen Sie dennoch Bezüge zu anderen Protesten in der Region oder auch in Israel selbst?

Der arabische Frühling vor über zehn Jahren hatte mich sehr hoff­nungs­voll gestimmt. Doch was in diesen Ländern fehlte, ist eine tief veran­kerte Zivil­ge­sell­schaft. In Israel haben wir diese, und nur darüber lässt sich die Größe, Breite und Tiefe der aktuellen Proteste erklären.

Sehen Sie Paral­lelen zur früheren Frie­dens­be­we­gung für einen Ausgleich mit den PalästinenserInnen?

Allen­falls hinsicht­lich der Energie und Leiden­schaft. Doch damals rekru­tierten sich die Protes­tie­renden aus einer wesent­lich kleineren Gruppe. Ähnlich­keiten sehe ich allen­falls in den Schmutz­kam­pa­gnen, wie sie auch gegen die aktuelle Protest­be­we­gung betrieben werden.

Und die wochen­langen Zelt-Proteste 2011 am Roth­schild Boulevard in Tel Aviv?

Das waren vor allem sozio-ökono­misch moti­vierte Proteste gegen die hohen Lebens­hal­tungs­kosten. Eine Lektion haben wir aus den damaligen Entwick­lungen gelernt: wir lassen uns nicht von vagen Verspre­chungen von Ministern und der Regierung blenden, die zwar Einiges in Aussicht gestellt hatten, das Problem aber nicht substan­tiell ange­gangen sind. Heute fordern wir daher den voll­stän­digen Widerruf der geplanten Klausel zur Über­stim­mung des Obersten Gerichts durch die Knesset sowie einen Stopp aller Geset­zes­vor­haben, die darauf abzielen, das Gericht und die Gewal­ten­tei­lung zu zerstören.

Ist die Forderung nach einer Verfas­sung noch auf dem Tisch?

Ich selbst bin daran beteiligt, Vorschläge zu erar­beiten. Wir haben zwar die Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung als ein zutiefst liberales Dokument. Doch sie hat eine eher symbo­li­sche Bedeutung – was die Rechte allen Ernstes nicht davon abhält, ihre Annul­lie­rung zu fordern. Aufgrund der starken Pola­ri­sie­rung in Israel müsste eine Verfas­sung sehr dünn angelegt sein. Ich denke daher an zwei Elemente, nicht mehr: zum einen an eine Regelung des Gesetz­ge­bungs­ver­fah­rens, die auch die Justiz als zentralen Teil der Checks and Balances einschließt; zum anderen das Prinzip der Gleich­heit vor dem Gesetz, das für Juden und Araber, Männer und Frauen und auch für Schwule und Lesben gilt. 

Das Interview wurde am 22.6.2023 geführt.

Die israe­li­sche Histo­ri­kerin Prof. Fania Oz-Salz­berger lehrt sie seit 2009 Geschichte an der Univer­sität Haifa und ist selbst in der Demo­kra­tie­be­we­gung aktiv.  In Deutsch­land ist sie bekannt durch ihre Bücher „Israelis in Berlin“ (2009) und „Juden und Worte“ (2013), die sie zusammen mit ihrem Vater Amos Oz geschrieben hat (beide erschienen im Suhrkamp Verlag).

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spen­den­tool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­ti­sche Arbeit von LibMod.

Spenden mit Bankeinzug

Spenden mit PayPal


Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steu­er­lich absetzbar. Für eine Spen­den­be­schei­ni­gung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

Verwandte Themen

News­letter bestellen

Mit dem LibMod-News­letter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.