„Es braucht nur einen einzigen Fehler, damit die Situation eskaliert“

Im Gaza­streifen kämpft die israe­li­sche Armee gegen die Hamas. Parallel dazu drohen die andau­ernden Ausein­an­der­set­zungen mit der Hisbollah zu eska­lieren. Steht Israel ein Zwei­fron­ten­krieg bevor? Der ameri­ka­ni­sche Nahost­ex­perte Matthew Levitt im Interview mit Till Schmidt.

Der US-ameri­ka­ni­sche Poli­tik­wis­sen­schaftler und Nahost­ex­perte Matthew Levitt ist Direktor des „Jeanette und Eli Reinhard Program on Coun­ter­ter­ro­rism and Intel­li­gence“ und Professor des „George­town Univer­sity Center for Security Studies“ in Washington D.C. Seine  Forschungs­schwer­punkte sind unter anderem die Hamas sowie die aus dem Südli­banon agierende Hisbollah. Levitt publi­ziert regel­mäßig in US-ameri­ka­ni­schen Medien und war als Gutachter in verschie­denen Terro­ris­mus­pro­zessen tätig. Im November 2024 erscheint eine erwei­terte Neuauf­lage seines Buches „Hezbollah. The Global Footprint of Lebanon’s Party of God“ (Hurst Publishers)

Matthew Levitt, Sie beschäf­tigen sich seit vielen Jahren mit Terror­netz­werken in Nahost. Uns alle bereitet der aktuelle Blick auf die Nach­richten Sorgen: Eine mögliche Eska­la­tion zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon würde ihren laufenden Zermür­bungs­krieg in einen ausge­wach­senen, einen großen Krieg verwan­deln. Das hätte weit­rei­chende regionale Auswir­kungen und verhee­rende Folgen für beide Länder und würde gar die Existenz Israels bedrohen. Wie stellt sich die Lage zwischen Israel und der Hisbollah während wir heute, am Abend des 1. Juli, mitein­ander sprechen, dar?

Sie ist ange­spannt. Die Hisbollah hat beschlossen, weiterhin regel­mäßig israe­li­sche Orte zu beschießen. Das hat zur Evaku­ie­rung von etwa 70.000 bis 90.000 israe­li­schen Zivi­listen geführt und eine Situation geschaffen, die Israel nicht mehr tole­rieren kann. Seit dem 7. Oktober gibt es eine Eska­la­ti­ons­leiter, die die Hisbollah von Zeit zu Zeit erklimmt, indem sie immer ausge­feil­tere und gefähr­li­chere Munition mit größerer Reich­weite einsetzt, in Wohn­ge­biete hinein atta­ckiert und auf empfind­liche Ziele schießt, wie zum Beispiel auf das Haupt­quar­tier des Nord­kom­mandos in Safed.

Der Gene­ral­se­kretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, hat zugesagt, dass der Beschuss israe­li­scher Gemeinden nur so lange fort­ge­setzt wird, bis ein Waffen­still­stand oder zumindest eine Feuer­pause im Gaza­streifen erreicht ist… 

Das Problem ist, dass Yahya Sinwar, der Hamas-Führer im Gaza­streifen, damit ein Vetorecht hat, wenn es um die Frage geht, ob es an der liba­ne­sisch-israe­li­schen Grenze zu einer Eska­la­tion kommen wird. Sinwar weiß, dass die Hisbollah weiter schießt, wenn er kein Waffen­still­stands­ab­kommen unter­zeichnet, das ihm zugu­te­kommt. Doch unge­achtet ihrer Rhetorik wollen weder Israel noch die Hisbollah einen voll­stän­digen Krieg. Beide scheinen zu glauben, dass die derzei­tigen Kämpfe und sogar die Ausbrüche in den Phasen einge­dämmt werden könnten.

Die USA und viele euro­päi­sche Regie­rungen haben jedoch davor gewarnt, dies als selbst­ver­ständ­lich zu betrachten. Es bedarf nur eines einzigen Fehlers, einer einzigen Fehl­ein­schät­zung, damit die Situation zu einem voll­stän­digen Krieg eskaliert. Ein Krieg mit der Hisbollah würde sowohl für den Libanon als auch für Israel sehr viel anders und sehr viel gefähr­li­cher sein. Die Hisbollah ist viel größer, viel besser bewaffnet als die Hamas, verfügt über weitaus mehr Raketen und steht dem Iran noch weitaus näher.

Könnten Sie die Beweg­gründe und das Interesse der Hisbollah an einer weiteren Eska­la­tion erläutern?

Lange Zeit war die Hisbollah von direkten terro­ris­ti­schen Aktionen gegen Israel abgelenkt, weil sie mehrere Jahre lang in Syrien kämpfte. Während dieser ganzen Zeit über inves­tierte sie lang­fristig: in Tunnel, Rake­ten­sys­teme und andere Dinge, die Israel eindeutig betreffen. Aber die Hisbollah hat nicht auf Israel geschossen. Nach dem Rückzug aus Syrien suchte die Hisbollah nun nach Möglich­keiten, ihren „Wider­stand“ zu demons­trieren, ohne eine massive Reaktion Israels hervorzurufen.

Vor dem 7. Oktober hingegen reagierte die Hisbollah nicht unbedingt auf Israels mili­tä­ri­sche Inter­ven­tionen – es sei denn, Israel unternahm etwas im Libanon selbst oder tötete etwa einen Hisbollah-Funk­tionär in Syrien. Doch bei weniger wichtigen Angriffen – wenn Israel beispiels­weise eine Last­wa­gen­la­dung Raketen aus dem Iran an die Hisbollah in die Luft jagte – gab es keinerlei Reaktion. Seit dem 7. Oktober aber ist das anders. Jetzt versucht die Hisbollah, sich als Vertei­di­gerin der Paläs­ti­nenser und an vorderster Front der „Achse des Wider­stands“ zu posi­tio­nieren, jenes vom Iran geführten Netzwerks, das die Existenz Israels ablehnt. Daher hat die Hisbollah nach Möglich­keiten gesucht, die Spiel­re­geln neu zu bestimmen.

Die Hisbollah ist auf die Zerstö­rung Israels einge­schworen. Was hält sie in der gegen­wär­tigen Situation zurück?

Die Hisbollah ist sich darüber im Klaren, dass niemand im Libanon die Art von Zerstö­rung will, die ‑wie jeder weiß – im Falle eines umfas­senden Krieges eintreten wird. In den letzten Jahren gab es bereits eine Reihe von Ereig­nissen, die im Libanon für Unbehagen gegenüber der Hisbollah gesorgt haben: Da ist zum einen die enorme Wirt­schafts­krise, dann die Ermordung von Rafik Hariri oder auch die Verei­te­lung der Ermitt­lungen im Zusam­men­hang mit der Explosion im Hafen von Beirut sowie die Verhin­de­rung der Wahl eines jeden Präsi­denten, der kein enger Verbün­deter der Hisbollah ist. Die Hisbollah ist besorgt, dass viele Libanesen sie für einen Krieg mit Israel verant­wort­lich machen würden.

Welche Rolle spielt in der aktuellen Situation der Iran?

Die Hisbollah weiß: Der Iran will nicht, dass sie zu viel von ihrer Munition abfeuert, denn die Raketen gelten dem Mullah-Regime als die beste Abschre­ckung gegen einen Angriff seitens Israels und eines anderen Landes auf das iranische Atom­pro­gramm: Sie würden gege­be­nen­falls als Zweit­schlags­ka­pa­zität dienen. Nach dem irani­schen Angriff auf Israel im April wurde der israe­li­sche Vergel­tungs­an­griff, der weitaus begrenzter und erfolg­rei­cher war, nicht von der iranisch-russi­schen Luft­ab­wehr gestoppt. Zudem zielte er auf diese Luft­ab­wehr direkt neben einer Nukle­ar­an­lage in Isfahan. Die Iraner haben die Botschaft verstanden.

Für die Hisbollah ist Israel eine ideo­lo­gi­sche Projek­ti­ons­fläche und ein mit allen Mitteln zu bekämp­fender Todfeind. Israel ist aber auch ein Staat, der politisch und mili­tä­risch kraftvoll handelt. Welche Rolle spielt die israe­li­sche agency in der Hand­lungs­logik der Hisbollah?

Die Hisbollah und die anderen Teile der „Achse des Wider­stands“ glauben wirklich daran, dass sie Israel vernichten werden. Der 7. Oktober war nie dazu gedacht, Israel innerhalb von Tagen, Monaten oder gar Jahren zu vernichten. Vielmehr gibt es eine stra­te­gi­sche Geduld, die in ihre beharr­liche Kriegs­füh­rung, die so genannte Muqawama, eingebaut ist. Sie wissen, dass es um den 7. Oktober herum ein passendes Zeit­fenster gab, in dem sie Israel angreifen und versuchen konnten, einen unum­kehr­baren Prozess in Gang zu setzen, der zu seiner Zerstö­rung führt. Das Problem ist, dass die Menschen im Westen dazu neigen, die Dinge nur im Jetzt zu sehen.

Die Hisbollah, der Iran und die Hamas hatten verstanden, dass Israel im Zusam­men­hang mit der „Justiz­re­form“ und den massiven Protesten dagegen einen erheb­li­chen sozialen und poli­ti­schen Umbruch erlebte. Acht Monate nach dem 7. Oktober sehen sie Israel immer noch als geschwächt an. Zumal sich die Sicht­weise der ganzen Welt auf Israel geändert hat: Sie sehen Span­nungen mit den Verei­nigten Staaten, Israels wich­tigstem Verbün­deten. Sie sehen Span­nungen mit Europa. Sie sehen Studie­rende, die gegen das Exis­tenz­recht Israels protes­tieren und jenen Menschen, die Soli­da­rität mit Israel bekunden mit Gewalt nicht nur drohen, sondern ihnen gegenüber tatsäch­lich auch gewalt­voll agieren. Für die Hisbollah ist die „Befreiung“ Jeru­sa­lems und die Schaffung eines paläs­ti­nen­si­schen Staates im gesamten histo­ri­schen Palästina ein lang­fris­tiges, stra­te­gi­sches Ziel.

Wie blickt die Hisbollah auf die Entschei­dung des Obersten Gerichts, die Befreiung der Ultra-Ortho­doxen vom Armee­dienst aufzu­heben? Gelten ihr die Proteste dagegen als weiteres Gelegenheitsfenster?

Die Hisbollah verfolgt alles, was im Inland geschieht, sehr genau und in hebräi­scher Sprache. Es ist ein Zeichen für die Profes­sio­na­lität ihrer Geheim­dienst­ak­ti­vi­täten, Anstren­gung und ihrem Ansatz. Für den Fall, dass auch die Haredim, die Ultra­or­tho­doxen, Wehr­dienst leisten müssen – ausge­nommen viel­leicht einige wenige unter ihnen, die besondere Fähig­keiten und Bega­bungen beim Studium reli­giöser Texte bewiesen haben – würde dies Israel eine ganze Reihe von Arbeits­kräften bringen; wenn nicht für Kampf­ein­heiten, dann für das Auffüllen von Regalen, das Unter­richten von Kindern oder für irgend­eine Art von natio­nalem Dienst. Die Hisbollah ist sich jedoch auch bewusst, dass das Urteil des Obersten Gerichts­hofs die derzei­tige Koalition Netan­jahus, die sich auf die ultra­or­tho­doxen Parteien stützt, zerbre­chen könnte. Doch auch eine zentris­ti­schere, weniger spal­te­ri­sche Regierung hätte jedoch keine Auswir­kungen auf den Einsatz gegen die Hisbollah an der Nordgrenze.

Wie charak­te­ri­sieren Sie das Verhältnis zwischen Hisbollah und Hamas, gegen die Israel nach wie vor an der Südfront kämpft?

Der wich­tigste und einzig wirklich signi­fi­kante Unter­schied ist, dass die Hisbollah schii­tisch und die Hamas sunni­tisch ist. Der zweite Unter­schied ist, dass die Hisbollah recht groß ist und derzeit effektiv Teil der Quds-Truppe ist, also dem Iran sehr nahesteht. Die Hamas ist ein vertrau­ens­wür­diger Stell­ver­treter, aber ein kleiner Stell­ver­treter. Die Hisbollah hat gele­gent­lich Hamas-Leute ausge­bildet. Was aber noch wichtiger ist: sie war ein Vehikel, über das die Iraner Geld an die Hamas geschickt haben. Es gibt also so etwas wie „pay to play“ oder „pay for slay“. Wenn man bezahlt werden will, muss man liefern.

Die Bezie­hungen zwischen Hamas- und Hisbollah-Vertre­tern sind eng und reichen zum Teil Jahr­zehnte zurück. Zur Erin­ne­rung: 1992 depor­tierten die Israelis 418 Akti­visten der Hamas und des Paläs­ti­nen­si­schen Jihad auf einen Hügel im Südli­banon und dezi­mierten damit die Brigaden beider Orga­ni­sa­tionen. Der Nachteil für die Israelis war, dass die Hisbollah ihnen beim Bau von Zelten half. Über diesen Kontakt lernte die Hamas, Selbst­mord­at­ten­tate zu verüben. Von da an blühte die Beziehung richtig auf. Für sie alle sind die paläs­ti­nen­si­sche Sache und die Zerstö­rung Israels äußerst motivierend.

In einem kürzlich erschie­nenen Artikel in Foreign Affairs haben Sie argu­men­tiert, dass die Hamas in einem Nach­kriegs-Gaza eine Trans­for­ma­tion nach dem „Hisbollah-Modell“ anstrebt. Können Sie das erläutern?

Die Hamas ist der Ansicht, dass die Führung von Regie­rungs­ge­schäften in Gaza sie daran hindert, Israel wirkungs­voll zu bekämpfen. Sie will daher Teil einer Regie­rungs­ko­ali­tion sein und nicht die allein verant­wort­liche Regierung stellen ‑ähnlich wie bei der Hisbollah, die zwar Minister in der Regierung und Mitglieder im Parlament hat, die aber keine eigene Regierung stellt und Hassan Nasrallah nicht in eine Regie­rungs­po­si­tion setzt. Außerdem unterhält die Hisbollah ein vom Libanon unab­hän­giges Militär, das über Krieg und Frieden, Leben und Tod für alle Libanesen entscheidet. Die Hamas möchte das Gleiche im Gaza­streifen. Der Iran würde dies gerne unterstützen.

Würde ein solcher Wandel auch bedeuten, dass die Hamas Terror­an­schläge in Europa verübt?

Das würde in der Tat wahr­schein­li­cher werden. Kürzlich wurden Hamas-Komplotte in Berlin und in Stockholm aufge­deckt. In beiden Fällen gab es Elemente und Einzel­per­sonen in den Nieder­landen und Dänemark sowie Akti­vi­täten in Bulgarien. Bis dato hatte die Hamas zwar darüber gespro­chen, Anschläge im Ausland zu verüben und das auch mindes­tens einmal versucht – gelungen aber ist es ihr noch nie. Inter­es­sant ist, dass die Leute in Deutsch­land, Schweden und anderswo Befehle von Hamas-Führern im Libanon entge­gen­nahmen. Das hat zumindest einige zu der Befürch­tung veran­lasst, dass es da auch Verbin­dungen zur Hisbollah geben könnte.

Im Jahr 2020 hat Deutsch­land die Hisbollah verboten. Was wissen Sie über noch bestehende Netzwerke?

Die Hisbollah verfügt über bedeu­tende Netzwerke in Europa, in den USA und anderswo. Der deutsche Geheim­dienst meldet jedes Jahr mindes­tens neun­hun­dert Personen oder Unter­stützer. In den letzten Jahren hat Deutsch­land mehrere isla­mi­sche Zentren, Orga­ni­sa­tionen oder Projekte aufgelöst, weil sie die Hisbollah finan­ziert oder andere Akti­vi­täten für sie durch­ge­führt haben. In der vergan­genen Woche wurden zum ersten Mal in Deutsch­land Personen wegen ihrer Mitglied­schaft in der Hisbollah verur­teilt. Die Behörden nehmen die Netzwerke der Hisbollah in diesen Tagen sehr ernst. In Deutsch­land und in anderen Ländern wächst diese Besorgnis, dass in dem Moment, in dem die Lage im Nahen Osten gefähr­li­cher wird, die Situation auch auf andere Länder über­greift und dort eskaliert.

 

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spen­den­tool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­ti­sche Arbeit von LibMod.

Spenden mit Bankeinzug

Spenden mit PayPal


Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steu­er­lich absetzbar. Für eine Spen­den­be­schei­ni­gung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

Verwandte Themen

News­letter bestellen

Mit dem LibMod-News­letter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.