Libe­ra­lismus neu denken: Brauchen wir einen „Libe­ra­lismus der Furcht“?

Shut­ter­stock

Der Libe­ra­lismus zielt darauf ab, dass jeder Einzelne frei ist, seine eigene Lebens­ge­schichte zu schreiben, unge­hin­dert durch die Furcht vor will­kür­li­cher Gewalt und sozialer Not. Ange­sichts neuer innerer und äußerer Bedro­hungen für freie Gesell­schaften brauchen wir einen Libe­ra­lismus, der verhin­dert,  dass Furcht zur domi­nie­renden Stim­mungs­lage wird, argu­men­tiert Amichai Magen.

Libe­ra­lismus – ein Begriff, der lange Zeit großen konzep­tio­nellen Umdeu­tungen und Miss­brauch unter­worfen war – ist eine poli­ti­sche Über­zeu­gung, deren Vertreter sich dem Streben nach Wohl­ergehen der Menschen durch Ausübung indi­vi­du­eller Frei­heiten, wirt­schaft­li­cher Offenheit, beschränkter und egali­tärer Kontrolle durch Regie­rungen und Rechts­staat­lich­keit widmen. In ihrem Kern beruht sie auf Aner­ken­nung von über­ra­gendem Wert und Würde jedes einzelnen mensch­li­chen Wesens und letzt­end­lich des Lebens selbst.

Die zentrale poli­ti­sche Mission des Libe­ra­lismus besteht darin, die für die möglichst voll­stän­dige Verwirk­li­chung dieses über­ra­genden indi­vi­du­ellen Wertes und des damit verbun­denen einzig­ar­tigen mensch­li­chen Poten­tials erfor­der­li­chen Bedin­gungen sicher­zu­stellen. Demzu­folge lehnt er jegliche poli­ti­sche Doktrin und alle Regie­rungs­sys­teme ab, die diesen Unter­schied zwischen der Sphäre des Persön­li­chen und der des Staates, zwischen dem Bereich des indi­vi­du­ellen Privat­le­bens (einschließ­lich des Lebens in der Familie und der Gemein­schaft) einer­seits und dem staat­li­chen Bereich ande­rer­seits nicht respektieren.

Der Libe­ra­lismus verlangt als Mindestes, dass jeder Person gestattet sein muss, die Geschichte ihres Lebens selbst zu schreiben – unge­hin­dert von Angst, Grau­sam­keit oder zerstö­re­ri­scher Einmi­schung – soweit dies mit der entspre­chenden Freiheit aller anderen Personen vereinbar ist. Die von den Einzelnen geschrie­bene Geschichte kann eine Helden­ge­schichte, eine bitter­süße Komödie oder die Geschichte eines tragi­schen Versagens werden. Libe­ra­lismus besteht nicht auf einem Happyend, aber er besteht darauf, dass die Einzelnen ihre Geschichte selbst schreiben dürfen.

Mit anderen Worten: Libe­ra­lismus ist im Wesent­li­chen eine unserer Zeit entspre­chende poli­ti­sche Suche nach einer Existenz, in der Menschen keine Angst haben müssen vor Vernich­tung, will­kür­li­cher Gewalt, unnötigem Zwang oder Verlet­zung dessen, was Isaiah Berlin in seiner typischen Unter­trei­bung als „ein bestimmtes Minimum persön­li­cher Freiheit, die auf gar keinen Fall verletzt werden darf“ bezeichnet.[1]

Der Libe­ra­lismus der Furcht

Dieser „Libe­ra­lismus der Furcht“ auf den Montes­quieu und Constant schon anspielten, der jedoch erst von Judith Shklar 1989 in ihrem bril­lanten Kapitel mit diesen Titel ausführ­lich behandelt und erforscht wurde, ist nicht die einzige Art im Stammbaum liberaler Tradi­tionen, bei der sich die Suche nach Ideen für eine liberale Erneue­rung des einund­zwan­zigsten lohnen würde.[2] Shklar erkennt dies selbst an, indem sie auf andere Arten des Libe­ra­lismus Bezug nimmt, insbe­son­dere den „Libe­ra­lismus der natür­li­chen Rechte“ und den „Libe­ra­lismus der persön­li­chen Entwick­lung“, die sich vom Libe­ra­lismus des Furcht unter­scheiden.[3]

Ein weiterer Vorbehalt ist noch anzu­führen, bevor ich mich der Aufgabe zuwende, eine Lanze für einen „Neuen Libe­ra­lismus der Furcht“ als eine Möglich­keit der liberalen Erneue­rung zu brechen. „Furcht“ ist ober­fläch­lich betrachtet ein unat­trak­tives Mittel für den liberalen Überreder. Der Geruch der Angst gilt norma­ler­weise als wider­wärtig. Hoffnung, Einhörner und das Verspre­chen freier Liebe sind verständ­li­cher­weise die bevor­zugten Marke­ting­in­stru­mente des poli­ti­schen Wahrsagers.

Amichai Magen ist Dozent und Direktor des Programms für demo­kra­ti­sche Resilienz und Entwick­lung an der Lauder School of Govern­ment, Diplomacy and Strategy, IDC (Herzliya), Israel.

Der Libe­ra­lismus der Furcht leidet demzu­folge unter einem ihm inne­woh­nenden Marke­ting­pro­blem. In diesem Sinne ist er ein wenig wie Isaiah Berlins Begriff der „negativen Freiheit“ – weise, aber nicht attraktiv.[4] Der durch­schnitt­liche Verbrau­cher poli­ti­scher Ideen wird im Libe­ra­lismus der Furcht keine kuschlige Bequem­lich­keit finden. Was ihn nach Shklars eigenen Worten von den anderen Arten des Libe­ra­lismus unter­scheidet ist, dass er völlig „nich­tu­to­pisch“ ist.[5]

Der Libe­ra­lismus der Furcht schaut dem Schrecken gera­de­wegs ins Gesicht und schaudert. Er ist sich der Abgründe, in die mensch­liche Wesen sinken können, und des Ausmaßes der Grau­sam­keit und Zerstö­rung, denen wir zerbrech­liche Menschen – insbe­son­dere durch insti­tu­tio­na­li­sierte Gewalt – ausge­setzt werden können, aufs Deut­lichste bewusst.

Der Libe­ra­lismus der Furcht ist durch eine schreck­liche Beschei­den­heit der Ansprüche gekenn­zeichnet. Es ist der Libe­ra­lismus der Scha­dens­be­gren­zung und des „gerade gut genug, um sich durch­zu­wurs­teln“. Es ist der Libe­ra­lismus des Vermei­dens von Auschwitz-Birkenau, der sowje­ti­schen Gulags und – in unserer Zeit – der Gewalt gegen die Jesiden, des Hungers der Jemeniten oder der Gefan­gen­lager in Nordkorea und Xinjiang. Sein wich­tigstes und in mancher Hinsicht urtüm­li­ches Ziel besteht darin, uns darauf zu konzen­trieren, dass wir das Schlimmste, das uns geschehen könnte, vermeiden, statt anzu­nehmen, dass es irgendwie nicht dazu kommen wird oder uns von den verlo­ckenden, aber falschen utopi­schen Verspre­chen einer von Tragik freien Welt verführen zu lassen.

Ein Libe­ra­lismus der Schadensbegrenzung

Der „neue Libe­ra­lismus der Furcht“ beginnt damit, dass er die histo­ri­sche Amnesie abschüt­telt, die unsere Kultur seit 1989 durch­drungen hat. Zufrieden, selbst­ge­fällig und mehr als nur ein wenig naiv schlum­merten wir nach 1989 unter der warmen Decke des Triumphes – im Vertrauen darauf, dass das Ende der Geschichte gekommen wäre, dass sich  der Weg des mora­li­schen Univer­sums unab­wendbar der Gerech­tig­keit zuwenden würde und dass sich der Rest der Welt unaus­weich­lich einer sich stetig ausbrei­tenden Liberalen Inter­na­tio­nalen Ordnung zuwenden würde

Unter dem Einfluss des Fukuyama-Komas wurde es dem Libe­ra­lismus gestattet, zu stagnieren und zu verfallen. Ironi­scher­weise begingen wir Liberalen die Todsünde des Marxismus – die Sünde des histo­ri­schen Deter­mi­nismus. Wir ließen uns treiben und verspielten zum großen Teil die durch harte Arbeit errungene Frie­dens­di­vi­dende, die uns der Sieg in heftigen Kämpfen gegen Faschismus, Nazismus und Sowjet-Kommu­nismus im Laufe des blutigen zwan­zigsten Jahr­hun­derts einge­bracht hatte. Wir vernach­läs­sigten die Pflege der Tugenden, Werte und Insti­tu­tionen, von denen das Überleben moderner liberaler Demo­kra­tien abhängt – aktive und enga­gierte Bürger­be­tei­li­gung, wirksames Funk­tio­nieren des Staates und leis­tungs­fä­hige öffent­liche Einrich­tungen, echte demo­kra­ti­sche Rechen­schafts­pflicht, um sicher­zu­stellen, dass die Regie­rungen im Interesse der Mehrheit tätig sind, und Rechts­staat­lich­keit, um dieje­nigen zu zügeln, die ihre poli­ti­sche, wirt­schaft­liche und kultu­relle Macht dazu nutzen, Zwang über die Übrigen auszuüben.

Auf diesem Weg haben wir viele unserer Mitbürger zurück­ge­lassen, denn wir haben törich­ter­weise das oberste Prinzip des modernen Libe­ra­lismus außer Acht gelassen, nämlich dass die Zustim­mung der Regierten die einzige solide Basis für eine funk­tio­nie­rende demo­kra­ti­sche Ordnung ist. Wir geben vor, dass die dunklen Seiten der Globa­li­sie­rung entweder nicht vorhanden sind oder keine große Rolle spielen (dass sie bald durch das Wirken der Kräfte der liberalen Konver­genz verschwinden werden) oder dass sie allein durch die unsicht­bare Hand des Marktes wirksam im Zaum gehalten werden könnten. Wir haben versäumt, mit sich beschleu­ni­gender Konnek­ti­vität, Komple­xität und zerstö­re­ri­schen angst­ein­flö­ßenden tech­ni­schen Entwick­lungen Schritt zu halten. Wir haben es nicht geschafft, über­zeu­gende liberale Lösungen für große, neu herauf­zie­hende Bedro­hungen zu entwi­ckeln, wie z.B. für den chine­si­schen Auto­ri­ta­rismus, Umwelt­zer­stö­rung, unkon­trol­lierte Migration, entstaat­lichte Regionen, Verbrei­tung von Kern­waffen, Pandemien, unkon­trol­lierte künst­liche Intel­li­genz und eine degra­dierte Infor­ma­ti­ons­öko­logie, die uns in die Gefahr bringt, dass wir unsere Fähigkeit, uns auf grund­le­gende wissen­schaft­liche und histo­ri­sche Tatsachen zu einigen, verlieren.

Der „Neue Libe­ra­lismus der Furcht“ fordert ein stark entwi­ckeltes histo­ri­sches Gedächtnis und eine auf geschicht­li­cher Grundlage aufge­baute Vorstel­lung von der Zukunft der Mensch­heit. Demzu­folge würde er die Geschichte wieder ins Spiel bringen, und zwar auf drei unter­schied­li­chen Wegen:

Zum Ersten würde er unter Umschrei­bung dessen, was Hal Brand und Charles Edel schrieben, darauf bestehen, dass ein Verständnis für Tragik unab­dingbar bleibt für Politik, Regie­rungs­kunst und die Erhaltung der Welt­ord­nung.[6] Wenn wir vergessen, welche Zerbrech­lich­keit den liberalen Ordnungen innewohnt und wie sehr sie ständiger Vertei­di­gung, fort­ge­setzten Schutzes und stetiger Aktua­li­sie­rung bedürfen, werden wir unauf­haltsam Verges­sen­heit und Verfall anheimfallen.

Für die Moral der liberalen Ordnungen eintreten

Zum Zweiten würde er Zeit und Kraft inves­tieren, um Partei für die Moral (ja, Moral, nicht nur Effizienz) der liberalen Ordnungen zu ergreifen. Er würde stolz die seit Beginn der liberalen Ära und insbe­son­dere in den vergan­genen Jahr­zehnten bei allen Indi­ka­toren für mensch­li­ches Wohl­ergehen dort wo liberale Werte und Einrich­tungen Wurzel gefasst haben, erreichten erstaun­li­chen Fort­schritte der Mensch­heit, darstellen und feiern. Er würde die fantas­ti­schen 3.000 Prozent Zuwachs des realen BIP seit 1800 für die ärmsten Menschen hervor­heben und zeigen, dass in den vergan­genen drei Jahr­zehnten der größte Teil dieser „Großen Berei­che­rung“ nicht im „weißen Amerika“ oder West­eu­ropa, sondern im sich libe­ra­li­sie­renden Latein­ame­rika, Osteuropa, China, Indien und immer mehr auch Afrika stattfand.[7]

Der „Neue Libe­ra­lismus der Furcht“ würde aktiv danach streben, gegen­wär­tigen und künftigen Gene­ra­tionen die wahre Bedeutung der folgenden statis­ti­schen Angaben verständ­lich zu machen – als Zahl der verschonten, verbes­serten, berei­cherten und befreiten Menschen­leben: 1950 lag die Lebens­er­war­tung weltweit bei unter 30 Jahren, heute beträgt sie 72,6 Jahre. 1950 betrug die Kinder­sterb­lich­keit 24. Das bedeutet, dass fast eins von vier Kindern vor Erreichen des fünften Geburts­tages starb. Heute sind es 4 Prozent. 1950 lebten 63,5 Prozent der Welt­be­völ­ke­rung in extremer Armut, heute sind es weniger als 9 Prozent. Und 1950 lebten nur 10 Prozent der Welt­be­völ­ke­rung in Demo­kra­tien, heute – auch nach einein­halb Jahr­zehnten welt­weiten Demo­kra­tie­ab­baus – leben 56 Prozent der Menschen in Demo­kra­tien.[8] Dies ist ein erstaun­li­cher Rekord mate­ri­ellen und mora­li­schen Fort­schritts. Dieser Fort­schritt ist nicht perfekt, er ist unvoll­ständig und zerbrech­lich, aber er ist auch unschätzbar gut und verdient unsere Dank­bar­keit, unseren Schutz und ständige Weiterentwicklung.

Als Letztes ist hier anzu­führen, dass der „Neue Libe­ra­lismus der Furcht“ dafür eintreten würde, dass ein Neudenken des Libe­ra­lismus auch eine Erwei­te­rung unserer Vorstel­lungen von Geschichte umfassen muss, und zwar nicht nur hinsicht­lich der Vergan­gen­heit mit ihrer ständigen Wieder­ho­lung von Erfolgen und Versagen, Triumphen und Verbre­chen, sondern auch mit Blick auf die Zukunft. Ein Neudenken des Libe­ra­lismus muss eine Verpflich­tung enthalten, wie sie Toby Ord in seiner wunder­vollen Widmung seinem Buch „The Precipice“ voran­ge­stellt hat: „Den hundert Milli­arden Menschen vor uns, die unsere Zivi­li­sa­tion geschaffen haben; den sieben Milli­arden jetzt Lebenden, deren Hand­lungen mögli­cher­weise unser Schicksal bestimmen; den Tril­lionen nach uns, deren Existenz in der Waag­schale liegt.“[9]

Leben in Furcht macht uns unfrei

Die Antwort auf die Frage ob wir in einer freien Gesell­schaft leben oder nicht, hängt nach dem Verständnis des „Neuen Libe­ra­lismus der Furcht“ stark von der kollek­tiven Psycho­logie ab. Shklar schrieb „Wir fürchten eine Gesell­schaft ängst­li­cher Menschen“, denn syste­ma­ti­sche Angst der Massen macht mensch­liche Freiheit unmöglich.[10] Wenn wir in Angst leben, sind wir funda­mental unfrei.

Hightech-Tyran­neien wie die von der chine­si­schen kommu­nis­ti­schen Partei ange­bo­tene können „effi­zi­enter“ sein als die Politik der Unvoll­kom­men­heit, persön­li­chen Wahl­frei­heit und Unsi­cher­heit, die der Libe­ra­lismus bietet. Aber welchen Nutzen bringt eine solche Effizienz dem mensch­li­chen Geist? Worin liegt ihr Sinn, wenn sie uns in eine riesige Kolonie ängst­li­cher, sich duckender Sklaven verwan­delt? Ähnlich steht die Frage nach dem Sinn unserer mensch­li­chen Zivi­li­sa­tion, wenn wir unseren Planeten unbe­wohnbar machen oder es unkon­trol­lierter künst­li­cher Intel­li­genz gestatten, Amok zu laufen und uns in Sklaverei oder sogar Ausrot­tung zu stürzen. Der Neue Libe­ra­lismus der Furcht blickt in diesen seelen­losen Abgrund möglicher dysto­pi­scher Fall­gruben und schaudert. Er weigert sich, sanft in diese alptraum­haften Nächte hinüber zu dämmern. Er bäumt sich auf gegen das Erlöschen des Lichts.

Liberale haben zu unter­schied­li­chen Zeiten Verschie­denes gefürchtet und haben deshalb danach gestrebt, poli­ti­sche Ordnungen zu schaffen und anzu­passen, die sich einer Abfolge sich ändernder Ängste entge­gen­stellen. Der frühe moderne Libe­ra­lismus – und es gab keinen Libe­ra­lismus in der Welt vor der Moderne – entstand aus dem von reli­giöser Into­le­ranz und Krieg hervor­ge­ru­fenen Chaos und Gemetzel. Die Angst vor reli­giösem Zwang ist der Ursprung des modernen Libe­ra­lismus. Allmäh­lich – im Laufe des sech­zehnten und sieb­zehnten Jahr­hun­derts – stellten wir fest, dass Toleranz der Grau­sam­keit des reli­giösen Fana­tismus überlegen war.

Dann, in einer zweiten Welle des Kampfes darum, welche poli­ti­sche Ordnung herrschen sollte, erwiesen sich die Prin­zi­pien und Insti­tu­tionen eines begrenzten und egali­tären Staates als vorteil­hafter – mili­tä­risch, wirt­schaft­lich, wissen­schaft­lich und in Hinsicht auf das persön­liche Glück – als der Abso­lu­tismus. Als der Leviathan dann die Macht über­nommen hatte, stellten wir fest, dass er uns noch leichter und syste­ma­ti­scher verschlingen könnte als es die Mächte der Vormo­derne je gekonnt hätten. Demzu­folge haben wir immer neue Mecha­nismen erfunden um den Leviathan zu zähmen. Wir haben dafür verschie­dene Bezeich­nungen, zum Beispiel als bürger­liche und poli­ti­sche Rechte, Rechts­staat­lich­keit, Konsti­tu­tio­na­lismus, Föde­ra­lismus und letztlich als moderne reprä­sen­ta­tive Demo­kratie. Dieje­nigen Gesell­schaften, die diese Mecha­nismen einführten und anwandten, errangen größere Macht, Wohl­ha­ben­heit und Dynamik.

Seit dem Beginn des zwan­zigsten Jahr­hun­derts entwi­ckelten sich unsere liberalen Ordnungen weiter – national, regional und inter­na­tional – denn wir begannen, Armut, totalen Krieg und den Aufstieg kollek­ti­vis­ti­scher tota­li­tärer Ideo­lo­gien und Staaten zu fürchten. Ange­spornt von diesen Ängsten stellten sich auf Nationen begrün­dete, markt­ba­sierte liberale Demo­kra­tien ihren impe­rialen, faschis­ti­schen, nazis­ti­schen und sowjet­kom­mu­nis­ti­schen Gegnern entgegen und besiegten diese letztendlich.

Aus dieser Sicht betrachtet sind die gegen­wär­tigen liberalen Ordnungen im Wesent­li­chen „dreifach destil­lierte“ Systeme norma­tiver und insti­tu­tio­neller Güter, geschaffen im Laufe von Jahr­hun­derten im Zuge einer Abfolge histo­ri­scher Kämpfe, aus denen die „liberale Lösung“ siegreich hervor­ging, indem sie sich als ihren Oppo­nenten überlegen erwies hinsicht­lich der Schaffung physi­schen und onto­lo­gi­schen Wohl­be­fin­dens. Unsere modernen Formen der liberalen Ordnung, deren Genom aus Toleranz, begrenztem staat­li­chen Einfluss, auf Frei­wil­lig­keit basie­render reprä­sen­ta­tiver Demo­kratie und Markt­wirt­schaft besteht, sind das Ergebnis wieder­holter Infra­ge­stel­lung und Auswahl, aus denen sie stets als Sieger hervor­gingen. Die liberale Ordnung hat überlebt und sich durch­ge­setzt, weil sie sich hinsicht­lich der Gewähr­leis­tung physi­scher und onto­lo­gi­scher Sicher­heit als überlegen erwies. Gleich­zeitig herrscht jedoch eine kalte evolu­tio­näre Logik. Falls es den liberalen Ordnungen nicht gelingt, sich wieder dem Wett­be­werb zu stellen und ihre Über­le­gen­heit erneut zu beweisen, müssen wir damit rechnen, dass anti­li­be­rale Angriffe zunehmen und immer mehr Menschen diesen Ordnungen abtrünnig werden.[11]

Die Angst vor mensch­li­cher Redundanz

Was fürchten wir heut­zu­tage am meisten? In einigen Ländern fürchten wir immer noch, was Locke, Constant, Mill, Popper, Hayek, Arndt, Berlin, Solsche­nizyn und Shklar in der Vergan­gen­heit fürch­teten – die ungleiche Macht des auto­ri­tären und räube­ri­schen Staates über das Indi­vi­duum. Und doch würde der „Neue Libe­ra­lismus der Furcht“ zugeben – mit einer Prise Skepsis gemischt mit vorsich­tiger Zufrie­den­heit – dass das, was wir in den meisten der jetzt bestehenden Gesell­schaften die meiste Zeit über am stärksten fürchten, nicht die Macht des Staates ist. Tatsäch­lich ist es in vielen Ländern mit einem schwachen Staat (darunter Irak und Libyen, Syrien, Somalia, Kongo und Haiti, um nur einige traurige Beispiele zu nennen) so, dass das, was die Menschen am meisten fürchten, die Folgen des Fehlens eines funk­tio­nie­renden Staates sind.

Letzt­end­lich ist das, was wir – in den bis vor Kurzem leichthin als „Freie Welt“ bezeich­neten Ländern – am meisten fürchten, ein künftiges Über­flüs­sig­werden der Mensch­heit. Wir fürchten physische Redundanz infolge exis­ten­zi­eller Kata­stro­phen wie dem demo­gra­fi­schen Wandel, dem Klima­wandel, einem unüber­wind­baren Zusam­men­bruch der Zivi­li­sa­tion oder unüber­wind­li­cher Dystopie im Ergebnis natür­li­cher oder von Menschen hervor­ge­ru­fener Bedro­hungen. Wir fürchten, dass unkon­trol­lierte Kräfte der Finanz­märkte, Big-Tech-Algo­rithmen und allge­gen­wär­tige Über­wa­chung durch Unter­nehmen und Behörden den Menschen voll­ständig seines wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Einflusses berauben. Wir fürchten eine meta­phy­si­sche Redundanz durch den Verlust von Bedeutung, Sinn, Zuge­hö­rig­keit und Bindung – nicht so sehr in Folge einer mit dem Indus­trie­zeit­alter einher­ge­hende Entfrem­dung, sondern durch die Übernahme durch Maschinen und künst­liche Biologie des Digi­tal­zeit­al­ters. Wir fürchten sogar eine epis­te­mi­sche Redundanz dadurch, dass sehr bald KI und Deep-Fake-Tech­no­lo­gien sehr wohl in der Lage sein werden, es gewöhn­li­chen Menschen unmöglich zu machen, mit der immer schneller zuneh­menden Komple­xität der Welt zurecht­zu­kommen oder den Unter­schied zwischen Tatsachen und Aussagen einer Verschwö­rungs­theorie zu erkennen.

Die Heraus­for­de­rung, vor der wir Liberale gegen­wärtig stehen, besteht darin, uns der Redundanz, also dem Über­flüs­sig­werden der Mensch­heit entgegen zu stellen und diese Entwick­lung umzu­kehren. Wir brauchen einen neuen huma­nis­ti­schen Libe­ra­lismus, der gleich­zeitig die zentralen Werte des tradi­tio­nellen Libe­ra­lismus vertritt und eine bessere Weiter­ent­wick­lung der Mensch­heit gewähr­leistet als die von unseren auto­ri­tären und kollek­ti­vis­ti­schen Oppo­nenten ange­bo­tenen Lösungen.

Die Heraus­for­de­rung, vor die uns der „Neue Libe­ra­lismus der Furcht“ stellt, ist sehr groß, mögli­cher­weise exis­ten­ziell, aber die Lage ist nicht völlig aussichtslos. Wie Bernard Williams in seinen eigenen Media­tionen zu dem Text von Judith Shklar aussagte: „der Libe­ra­lismus der Furcht beschränkt sich nicht auf Warnungen und Mahnungen. Falls es gelingt, grund­le­gende Frei­heiten zu gewähr­leisten und grund­le­gende Ängste zu beschwich­tigen, wird sich die Aufmerk­sam­keit des Libe­ra­lismus der Furcht anspruchs­vol­leren Konzepten der Freiheit zuwenden ...“[12] Uns direkt, entschlossen und kreativ mit den schlimmsten Ängsten unserer Zeit zu befassen, ist mögli­cher­weise die beste Möglich­keit, voran­zu­schreiten und wieder einen Libe­ra­lismus der Hoffnung zu erreichen.


[1] Isaiah Berlin, „Two Concepts of Liberty“, in Four Essays on Liberty (Oxford: Oxford Univer­sity Press, 1969) S. 118–172 auf S. 122.

[2] Zu Montes­quieus Bezug­nahme auf das mensch­liche Bedürfnis nach persön­li­cher Sicher­heit als Vorbe­din­gung für poli­ti­sche Freiheit siehe Montes­quieu, The Spirit of the Laws, in der Über­set­zung von Cohler, Miller und Stone (Cambridge, 1989), S. 157. Auch Benjamin Constant denkt in seinem Vortrag „The Liberty of the Ancients Compared with That of the Moderns“ von 1819 über das Verhältnis von Sicher­heit, Angst und Freiheit nach. Judith N. Shklar, “The Libe­ra­lism of Fear”, in Libe­ra­lism and the Moral Life, Nancy L. Rosenblum (Hrsg..) (Harvard 1989) S. 21–38.

[3] Shklar, ibid. S. 26–27

[4] Berlin, Supra, Anmerkung 1.

[5] Ibid. S. 26.

[6] Siehe: Hal Brands und Charles Edel, The Lessons of Tragedy: State­craft and World Order (Yale Univer­sity Press, 2019).

[7] Die voll­stän­digen Angaben finden Sie in der Datenbank The Maddison Project Database 2020 (https://www.rug.nl/ggdc/historicaldevelopment/maddison/releases/maddison-project-database-2020?lang=en). Zusam­men­fas­sung und Analyse siehe: Deidre N. McCloskey, Bourgeois Equality: How Ideas, Not Capital or Insti­tu­tions, Enriched the World (Chicago Univer­sity Press, 2016); Steven Pinker, Enligh­ten­ment Now: The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress (Viking, 2018).

[8] Zahlen aus Our World in Data (unter https://ourworldindata.org/a‑history-of-global-living-conditions-in-5-charts). Zur Lebens­er­war­tung siehe https://ourworldindata.org/life-expectancy#:~:text=The%20divided%20world%20of%201950,achieved%20in%20a%20few%20places.

[9] Im Original: „To the hundred billion people before us, who fashioned our civi­liza­tion; To the seven billion now alive, whose actions may determine our fate; To the trillions to come, whose existence lies in the balance.” Toby Ord, The Precipice: Exis­ten­tial Risk and the Future of Humanity (Hachette, 2020).

[10] Shklar, Supra, Anmerkung 3,  S. 29.

[11] Siehe: Amichai Magen, Liberal Order in the Twenty-First Century: Searching for Eunomia Once Again, 139/2–4 Journal of Contex­tual Economics (2019) 271–284.

[12] Bernard Williams, In the Beginning Was the Deed: Realism and Moralism in Political Argument (Princeton Univer­sity Press, 2005) S. 60.

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