Bedingt wehrhafte Demo­kratie: Warum liberale Demo­kra­tien sich mit Kriegen schwertun

shut­ter­stock: Belikova Oksana

Warum reagieren Deutsch­land und andere west­eu­ro­päi­sche Demo­kra­tien so behäbig auf den russi­schen Angriff auf die Ukraine?

Die Empörung ist enorm. Aber der richtige Umgang mit der syste­ma­ti­schen Zerbom­bung ukrai­ni­scher Städte wird auch Wochen nach Kriegs­be­ginn gesucht. Waffen­lie­fe­rung ja oder nein, und, wenn ja, in welchem Umfang? Ener­gie­em­bargo, jetzt, später oder lieber doch nicht? Dies und anderes wird hitzig disku­tiert. Die einen wittern Kriegs­trei­berei, die anderen unter­las­sene Hilfe­leis­tung. Diese Beispiele zeigen, dass es Demo­kra­tien – insbe­son­dere denen im euro­päi­schen Westen – schwer­fällt, mit bewaff­neten Konflikten in ihrer Nähe umzugehen. Das hat, so unsere These, etwas mit der Regie­rungs­form selbst zu tun: Sind Demo­kra­tien in Frie­dens­zeiten überlegen, haben es Auto­kra­tien im Krieg leichter, zumindest beim Kriegseintritt.

Wäre die Welt eine demo­kra­ti­sche, würde es kaum oder keinen Krieg geben, so die bereits von Immanuel Kant formu­lierte Idee des ‚Demo­kra­ti­schen Friedens‘. In einer Welt, in der illi­be­rale und auto­ri­täre Kräfte exis­tieren, ist aber nicht die Frage, ob Demo­kra­tien mehr oder weniger Kriege führen, entschei­dend. Entschei­dend ist, wie gut sie sich gegen die Aggres­sionen ihrer Feinde zur Wehr setzen können. Dabei besteht ein Dilemma: Einer­seits haben Demo­kra­tien die uns bekannten Vorzüge von Frei­heiten der Lebens­ge­stal­tung, Debat­ten­kultur und Viel­fäl­tig­keit. Zugleich führen diese dazu, dass sie nur bedingt wehrhaft sind. Warum? Drei Gründe dafür sind unseres Erachtens zentral.

Demo­kra­tien können nicht so leicht über Körper verfügen

Ein wichtiger Grund dafür, warum sich Demo­kra­tien im Umgang mit Kriegen so schwertun, ist, dass sie – anders als Auto­kra­tien – nicht ohne Weiteres über die Körper ihrer Bevöl­ke­rung bestimmen können. Die Gewöhnung an auto­kra­ti­sche Herr­schafts­tech­niken macht dies leichter, es ist auch weniger Protest zu erwarten, wenn etwa junge Männer für den Wehr­dienst einge­zogen werden, eine Gene­ral­mo­bil­ma­chung erfolgt oder Nahrungs­mittel knapper werden. Gewalt ist ein gewohntes Mittel, Straf­lo­sig­keit tut ihr Übriges. Und dass die Infor­ma­ti­ons­lage (nicht nur) in Kriegs­zeiten einseitig ist, dass natio­na­lis­ti­sche Narrative die Kritik über­wiegen, hilft dabei, Massen zu mobi­li­sieren. Auto­kra­tien müssen weniger Rücksicht auf das Wohl der Einzelnen nehmen, es ist in ihrer Ideologie auch nicht angelegt: Es zählt das Kollektiv. Der Libe­ra­lismus mit seiner starken Stellung des Indi­vi­duums gilt von Putin bis Xi Xinping deshalb als größter Feind.

Natürlich gibt es indi­vi­du­elle Deser­ta­tionen und Sabo­ta­ge­akte. Nach allem, was man weiß, ist die russische Armee auch wenig motiviert und unor­ga­ni­siert. Aber in Zahlen über­steigt das Potential an Körpern, an „Kano­nen­futter“, das, was liberale Demo­kra­tien aufbieten können. Diese Schwie­rig­keit für Demo­kra­tien, ihre Bürger:innen in den Krieg zu schicken oder auf Verzicht einzu­stellen, ist auch eine Schwäche. Auto­kraten wissen diese Zurück­hal­tung auszu­nutzen, etwa, indem sie mit Gasem­bargo und kalten Wohn­zim­mern drohen.

Wähl­bar­keit mäßigt

Demo­kra­tien basieren, zweitens, (auch) auf regel­mä­ßigen Wahlen. Das führt dazu, dass Politiker:innen sich mäßigen, dass harte Entschei­dungen schwer fallen – sie wollen ja wieder­ge­wählt werden. Und auch, wenn im Kriegs­falle keine Wahlen auf Bundes­ebene statt­finden – irgendwo wird immer gewählt. Wie sonst lässt sich das Bestehen der FDP auf einen Freedom Day (Corona) und Tankra­batt erklären?

Die Notwen­dig­keit einer Wieder­wahl zur Durch­set­zung von Poli­ti­kideen führt dazu, dass ein imagi­nierter oder echter „Wähler­wille“ eine große Rolle im poli­ti­schen Tages­ge­schäft spielt. Zeitnahe Umfragen zu allen möglichen Themen tun ihr übriges: Zu oft orien­tiert sich poli­ti­sches Handeln nicht am Notwen­digen, sondern an Fokus­gruppen und Umfra­ge­werten. Selt­sa­mer­weise zeigt sich diese Vorsicht auch, wenn es eine Umfra­ge­mehr­heit für bestimmte Politiken gibt. Beispiels­weise befür­wortet eine Mehrheit momentan ein Öl- und Gasem­bargo gegen Russland, trotz zu erwar­tender hoher Kosten. Es wird aber nicht umgesetzt. Über die „Demo­kra­tie­fä­hig­keit“ von Sank­tionen wird viel disku­tiert, was genau das bedeutet, bleibt schwammig.

Demo­kra­ti­sche Willens­bil­dung ist komplex

Drittens: Demo­kra­ti­sche Willens­bil­dung ist komplex. Da, wo schnelles und entschlos­senes Entscheiden nötig wäre, mischen viele mit: Parteien, Inter­es­sen­ver­bände, zivil­ge­sell­schaft­liche Akteure, Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen. Die Massen­me­dien verviel­fa­chen die unter­schied­li­chen Stimmen zudem, soziale Medien erzeugen ein konstantes Rauschen, das oft eher ein Knirschen ist. Zu einer Entschei­dung zu kommen, die – jenseits von ihrer Durch­führ­bar­keit – auch breit getragen wird, braucht Zeit. Ideen müssen lanciert, Mehr­heiten orga­ni­siert, Gespräche geführt werden. Im Krieg hat man diese Zeit nicht. Langsames Entscheiden bedeutet mehr Tod, mehr Leid, und im Zwei­fels­fall, die Nieder­lage des atta­ckierten Staates und damit Unfrei­heit für die Bevölkerung.

In Auto­kra­tien dagegen bestimmt ein kleiner Macht­zirkel. Der kann schnell reagieren, die Entschei­dungen basieren aber oft auf schlechten Infor­ma­tionen. Die Entscheider:innen vertrauen nur wenigen und umgeben sich mit Gleich­ge­sinnten. Entschei­dungen können schnell erfolgen. Wobei Schnel­lig­keit nichts über die Qualität der Entschei­dung aussagt – im Gegenteil.

Demo­kra­tien: erfolg­rei­cher und innovativer

Auto­kra­tien haben es also mindes­tens im Kriegs­fall leichter, ihre Bevöl­ke­rung zu mobi­li­sieren, für Kämpfe, für Einschrän­kungen, für den Glauben an ihre Führung. Und doch sind Demo­kra­tien am längeren Hebel: Sie setzen auf frei­wil­lige Folge­be­reit­schaft, sie sind inno­va­tiver. Die Menschen in der Ukraine beweisen dies täglich. Demo­kra­tien ermög­li­chen Freiheit, sie unter­drü­cken sie nicht. Ihre Wirt­schaften sind aufgrund der gesell­schaft­li­chen Vielfalt und Offenheit kreativer und damit erfolgreicher.

Das zu Beginn beschrie­bene Dilemma von bedingt wehr­haften Demo­kra­tien müssen wir jetzt und in Zukunft aktiv bear­beiten, wollen wir die demo­kra­ti­schen Vorzüge zukünftig weiterhin genießen. Demo­kra­tien müssen hand­lungs­fähig sein, auch über den Kriegs­fall hinaus. Ein gutes Verhältnis zwischen Mitbe­stim­mung und guter Politik, eine funk­tio­nie­rende und ansprech­bare Verwal­tung und trans­pa­rente und funk­tio­nie­rende Insti­tu­tionen sind einige Grund­be­din­gungen dafür. Nur hand­lungs­fä­hige Demo­kra­tien führen lang­fristig sowohl zu hoher Zustim­mung zu dieser Staats­form wie auch zu Wehr­haf­tig­keit nach innen wie außen.

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