Der EU-Beitritt der Ukraine: Mit Volldampf voraus, aber es gibt weiterhin Engpässe

Das Beitritts­gesuch der Ukraine hat an Dynamik gewonnen, seit das Land in den ersten Tagen nach der umfas­senden Invasion einen Antrag auf EU-Mitglied­schaft gestellt hat. Obwohl die Erfolgs­bilanz der Ukraine im Allge­meinen positiv ist, steckt der Teufel im Detail. Schwierige Reformen, insbe­sondere im Justiz­wesen, erfordern die Aufmerk­samkeit und Unter­stützung der EU und ihrer Mitgliedstaaten.

Zusam­men­fassung

Das Beitritts­gesuch der Ukraine hat seit der Beantragung der EU-Mitglied­schaft in den ersten Tagen der groß angelegten russi­schen Invasion an Fahrt aufge­nommen. Obwohl die Erfolgs­bilanz der Ukraine im Allge­meinen positiv ist, steckt der Teufel im Detail. Schwierige Reformen, insbe­sondere im Justiz­wesen, erfordern die Aufmerk­samkeit und Unter­stützung der EU und ihrer Mitgliedstaaten.

Am 28. Februar 2022, nur wenige Tage nachdem russische Truppen die Ukraine von Norden, Osten und Süden aus angriffen, reichte Präsident Wolodymyr Selenskyj einen mutigen Antrag auf Mitglied­schaft in der Europäi­schen Union (EU) ein. Dieser gewagte Schritt erfolgte zu einem Zeitpunkt, als sich russische Truppen am Stadtrand von Kyjiw befanden und das Schicksal der Nation auf Messers Schneide stand. Seitdem hat die Ukraine bemer­kens­werte Fortschritte bei ihrem histo­ri­schen Beitritts­gesuch gemacht, trotz des anhal­tenden Angriffs­krieges und der zahlreichen Heraus­for­de­rungen, die er für den Staat, seine Bürokratie und die Gesell­schaft mit sich bringt.

In den zwei Jahren nach dem Antrag stieg die Ukraine rasch vom Status eines Beitritts­kan­di­daten bei der ersten Regie­rungs­kon­ferenz im Juni 2024 auf. Die Annahme des Verhand­lungs­rahmens im März 2024 markierte den formellen Beginn des Beitritts­pro­zesses. Die analy­tische Prüfung der Einhaltung der EU-Gesetze durch die Ukraine ist seitdem reibungslos verlaufen.

Nachdem das Screening-Verfahren für das erste von sechs Verhand­lungs­clustern abgeschlossen ist, werden die EU und die Ukraine voraus­sichtlich in der ersten Hälfte des Jahres 2025 unter der derzei­tigen polni­schen Präsi­dent­schaft des Europäi­schen Rates Cluster-Verhand­lungen aufnehmen. Dieses erste Cluster konzen­triert sich auf „Grund­lagen“ wie Regie­rungs­führung, Justiz­reform, Reform der Straf­ver­fol­gungs­be­hörden und Maßnahmen zur Korrup­ti­ons­be­kämpfung. Fortschritte in diesen Bereichen sind für die Umsetzung anderer Reformen und die Beschleu­nigung des EU-Beitritts­ge­suchs der Ukraine von entschei­dender Bedeutung.

Anfang 2025 gibt es noch offene Fragen zum Status des EU-Beitritts­ge­suchs der Ukraine, zu den bevor­ste­henden Heraus­for­de­rungen und dazu, wie die europäi­schen Partner der Ukraine das Land besser unter­stützen können.

Mäßige Fortschritte bei der Anglei­chung an den EU-Besitzstand

Die Ukraine wurde zwar für ihr ehrgei­ziges politi­sches Ziel gelobt, den Beitritts­prozess in Rekordzeit abzuschließen, doch ihre konkreten Bemühungen in diesem Bereich werden genau unter die Lupe genommen. Insgesamt kann die Ukraine seit ihrer Bewerbung eine gute Bilanz vorweisen, auch wenn es weiterhin Heraus­for­de­rungen gibt. In den Erwei­te­rungs­be­richten der Europäi­schen Kommission von 2023 und 2024 wurden erheb­liche Fortschritte hervor­ge­hoben, aber auch Bereiche genannt, in denen Verbes­se­rungen erfor­derlich sind.

Das Tempo der Verän­de­rungen seit Ende 2023 war moderat. Im Bericht der Europäi­schen Kommission von 2024 heißt es: „Die Ukraine ist in Bezug auf die Justiz, die Korrup­ti­ons­be­kämpfung und die Achtung der Grund­rechte einiger­maßen vorbe­reitet und hat einige Fortschritte erzielt.“ Eine Analyse des ukrai­ni­schen Nachrich­ten­senders European Truth ergab, dass die Ukraine das einzige der sechs EU-Beitritts­kan­di­daten war, dass zwischen den beiden Berichten keine „wesent­lichen Fortschritte“ erzielt hatte.

Auch in den beiden unabhän­gigen Schat­ten­be­richten der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft wird betont, dass weiterhin umfas­sende Reformen erfor­derlich sind. Mykhailo Zhernakov, ein Experte für das Justiz­wesen und Mitver­fasser eines der Schat­ten­be­richte, bezeichnete die Fortschritte bei den Justiz­re­formen im Jahr 2024 als minimal und stellte fest, dass bei der Reform des Obersten Gerichtshofs selbst nach einem großen Korrup­ti­ons­skandal am Gerichtshof im Jahr 2023 keine Fortschritte erzielt wurden.

Die Justiz ist nach wie vor das größte Hindernis für die EU-Bewerbung der Ukraine. Reformen in diesem Bereich müssen über die Gewähr­leistung der Unabhän­gigkeit der Justiz hinaus­gehen: Eine gründ­liche Überar­beitung der Perso­nal­aus­wahl­ver­fahren ist erfor­derlich, um den Schwer­punkt auf die Quali­fi­ka­tionen der Bewerber zu verlagern und Integrität zu gewähr­leisten. Der Erfolg der ukrai­ni­schen Antikor­rup­ti­ons­ge­richte zeigt, wie wertvoll die Einbe­ziehung inter­na­tio­naler Experten zur Wahrung hoher ethischer Standards ist – ein Ansatz, der auf andere Insti­tu­tionen wie die nationale Polizei und den Zolldienst ausge­dehnt werden könnte.

Reform des öffent­lichen Sektors ist von entschei­dender Bedeutung

Ein oft überse­henes Hindernis für die EU-Ambitionen der Ukraine ist die begrenzte Fähigkeit ihres öffent­lichen Sektors, EU-Gesetze zu übernehmen und umzusetzen. Die Stärkung der öffent­lichen Verwaltung, die Reform des öffent­lichen Dienstes und die Verbes­serung der evidenz­ba­sierten Politik­ge­staltung und ‑überwa­chung sind von entschei­dender Bedeutung.

Die Erfah­rungen anderer EU-Beitritts­kan­di­daten legen nahe, dass die Verhand­lungs­teams der Ukraine aus einer ausge­wo­genen Gruppe politi­scher Beauf­tragter und bürokra­ti­scher Experten bestehen sollten, um das insti­tu­tio­nelle Gedächtnis zu bewahren und die Konti­nuität während politi­scher Übergänge zu gewähr­leisten. Derzeit werden die Verhand­lungs­teams ausschließlich von politisch ernannten stell­ver­tre­tenden Ministern geleitet, ohne dass Bürokraten als stell­ver­tre­tende Leiter der Verhand­lungs­gruppen fungieren.

Politi­scher Wille und öffent­liche Unter­stützung bleiben stark

Trotz des langsamen Reform­tempos in den letzten Monaten ist der politische Schwung in Kyjiw, Brüssel und den meisten europäi­schen Haupt­städten nach wie vor stark. Die ukrai­ni­schen Staats- und Regie­rungs­chefs, darunter der Präsident, der Premier­mi­nister und der stell­ver­tre­tende Minister für europäische und euro-atlan­tische Integration, haben ihr Engagement für die EU-Mitglied­schaft immer wieder bekräftigt. Diese politische Entschlos­senheit wird durch Rekord­werte bei der öffent­lichen Unter­stützung gestärkt. Im Bericht über die EU-Erwei­terung 2024 heißt es: „In der ukrai­ni­schen Gesell­schaft und den Behörden, einschließlich der parla­men­ta­ri­schen Opposition, herrscht allgemein Einigkeit darüber, dass die EU-Integration für das Land eine Priorität darstellt.“

Diese öffent­liche Begeis­terung und politische Entschlos­senheit unter­streichen das trans­for­mative Potenzial einer EU-Mitglied­schaft, insbe­sondere im Hinblick auf die Förderung schwie­riger Reformen wie der Justizreform.

Das Reform­tempo dürfte 2025 zunehmen

Da der Screening-Prozess für den Cluster „Grund­lagen“ abgeschlossen ist und die Verhand­lungen beginnen sollen, wird erwartet, dass die Reform­be­mü­hungen im Jahr 2025 an Fahrt gewinnen werden. Anfang Februar präsen­tierte die ukrai­nische Regierung erstmals die Entwürfe von drei Fahrplänen für den Grund­lagen Cluster. Diese wurden parallel zum Screening Prozess angefertigt und werden nun aufein­ander angepasst und von der EU-Kommission und den Mitglieds­ländern abgenommen. Die finalen Fahrpläne sind von großer Bedeutung, da sie als Grundlage für die Erstellung der Opening Bench­marks bei der Eröffnung der EU-Verhand­lungen dienen.

Um eine maximale Wirkung zu erzielen, müssen diese Fahrpläne klare, spezi­fische Bench­marks für jeden Reform­be­reich enthalten. Dadurch wird eine effektive Umsetzung sicher­ge­stellt und unabhängige Experten und die Kommission können die Fortschritte genau bewerten.

Erfreu­li­cher­weise unter­stützt die Führung der EU das ukrai­nische Beitritts­gesuch nach wie vor in hohem Maße. Der Präsident der Europäi­schen Kommission, der Hohe Vertreter, der Erwei­te­rungs­kom­missar und der Ratsprä­sident haben alle ihr Engagement für die Bestre­bungen der Ukraine bekräftigt. Auch die öffent­liche Unter­stützung für eine Mitglied­schaft der Ukraine innerhalb der EU ist nach wie vor groß.

Schluss­fol­ge­rungen

Die Ukraine muss eng mit der EU und ihren Mitglied­staaten zusam­men­ar­beiten, um diese histo­rische Chance zu nutzen und bedeu­tende Reform­durch­brüche zu erzielen, insbe­sondere im Justiz­wesen. 2025 ist ein wichtiges Jahr, und die EU und ihre Mitglied­staaten müssen sicher­stellen, dass der politische Wille, so schnell wie möglich beizu­treten, in greifbare und quali­tative Reform­be­mü­hungen umgesetzt wird. Technische und politische Unter­stützung wird von entschei­dender Bedeutung sein, um die Qualität, den Erfolg und die Nachhal­tigkeit dieser Reformen sicher­zu­stellen. Gleich­zeitig müssen die EU und ihre Insti­tu­tionen sicher­stellen, dass die Reform­zu­sagen einge­halten werden. Deshalb hängt die Geschwin­digkeit und Qualität des EU-Beitritts­ge­suchs der Ukraine davon ab, wie konkret die EU und die Ukraine die Fahrpläne und Bench­marks formu­lieren, anhand derer die Fortschritte gemessen werden können.

Letzt­endlich muss Kyjiw zwar europäische Gesetze und Normen übernehmen, umsetzen und einhalten, doch der Zeitpunkt des Beitritts der Ukraine wird auch von der Lösung des Krieges mit Russland, dem Tempo des Wieder­aufbaus nach dem Krieg und der Bereit­schaft der EU, neue Mitglieder aufzu­nehmen, abhängen. Auch wenn der vor uns liegende Weg mit Unsicher­heiten behaftet ist, bleibt das Engagement der Ukraine für Reformen, selbst während dieses existen­zi­ellen Konflikts, die beste Chance, ihre europäi­schen Ziele zu erreichen.

„Mattia Nelles ist ein deutscher Ukraine-Experte, der sich auf die innen- und außen­po­li­ti­schen Entwick­lungen des Landes konzen­triert. Er ist Mitbe­gründer und Geschäfts­führer des Deutsch-Ukrai­ni­schen Büros. Als politi­scher Analyst hat er die Diskus­sionen über die Ukraine maßgeblich mitgestaltet.

Mattia Nelles hat für die Deutsche Gesell­schaft für Inter­na­tionale Zusam­men­arbeit (GIZ) in der Ukraine gearbeitet und zahlreiche Analysen und Kommentare zu ukrai­ni­schen Angele­gen­heiten verfasst, darunter zu Themen wie Antikor­rup­ti­ons­be­mü­hungen, die Rolle der Oligarchen und die Rolle Deutsch­lands bei der Unter­stützung der Ukraine während des russi­schen Angriffskrieges.“

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