Die liberalen Ursprünge der demokra­ti­schen Krise

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Die liberale Demokratie wird durch populis­tische Kräfte bedroht – so weit, so klar. Der Politik­wis­sen­schaftler Philip Manow unter­zieht diese gewohnte Diagnose in seinem jüngsten Buch einer kriti­schen Revision. Anstatt sich auf das vertraute Narrativ der demokra­ti­schen Regression zu stützen, schlägt er einen Perspek­tiv­wechsel vor.

Philip Manow, Politik­wis­sen­schaftler und Professor für Inter­na­tionale Politische Ökonomie an der Univer­sität Siegen, will mit dem gebets­müh­len­artig wieder­holten Narrativ aufräumen, dass der Populismus die liberale Demokratie gefährde. Dieser Erzählung hält er entgegen, dass der Populismus „nicht der Gegner, sondern das Gespenst der liberalen Demokratie“ sei. Er müsse „als Wieder­gänger der vom Libera­lismus erstickten Politik verstanden werden“ – das ist eine der zentralen Botschaften von Unter Beobachtung.

Die liberale Demokratie als Erfindung der 90er Jahre

Um diese These zu unter­mauern, greift Manow nicht darauf zurück, „alle Krisen unserer Zeit pauschal einem wirtschaft­lichen Neoli­be­ra­lismus zuzurechnen.“ Wer die Erschei­nungs­formen und Ursachen der gegen­wär­tigen Krise verstehen will, muss zunächst begreifen, was gemeint ist, wenn von der liberalen Demokratie und ihrer Gefährdung die Rede ist. Was gemeinhin als liberale Demokratie bezeichnet wird, ist für Manow nämlich eine relativ neue Selbst­be­schrei­bungs­formel für ein spezi­fi­sches Insti­tu­tio­nen­en­semble. Dieses verbinde auf gleichsam selbst­ver­ständ­liche Weise die Güte einer Demokratie mit dem Vorhan­densein von nicht-majori­tären Insti­tu­tionen wie Verfas­sungs­ge­richten. Eine solche Verschränkung von liberalen und demokra­ti­schen Elementen, die unser Nachdenken über die Demokratie und ihre Krise seit geraumer Zeit imprä­gniert, sei eine Erfindung der 1990er Jahre: Erst mit dem Zerfall der Sowjet­union sei der Terminus „liberale Demokratie“ vermehrt in der Öffent­lichkeit aufge­taucht und in unseren Sprach­ge­brauch einge­wandert. Deswegen spricht Manow gar von einer „Geburt der liberalen Demokratie“ in dieser Zeit. Seither ist auch eine Zunahme von europäi­schen Staaten mit Verfas­sungs­ge­richten zu beobachten, die durch die Demokra­ti­sierung der mittel- und osteu­ro­päi­schen Länder einen zusätz­lichen Schub erhalten haben. Flankierend kam die fortschrei­tende europäische Supra­na­tio­na­li­sierung hinzu, die über den Europäi­schen Gerichtshof eine Quasi-Verfas­sungs­kon­trolle selbst in jenen Ländern etabliert hat, die eine solche Insti­tution auf natio­naler Ebene nicht kennen. Manow bilan­ziert, dass heute nur jene Demokratien als liberal und vollwertig gelten, die Insti­tu­tionen und Verfahren etabliert haben, die den Handlungs­spielraum demokra­ti­scher Mehrheiten begrenzen. Verfas­sungs­ge­richte mit Normen­kon­troll­kom­petenz veredelten die Demokratie und machten sie erst liberal. Diese theore­tische sowie materielle Aufwertung der Judika­tiven habe zu einem substan­zi­ellen Bedeu­tungs­verlust der gewählten Legis­lative im politi­schen Insti­tu­tio­nen­gefüge geführt. Deren Schwä­chung schließlich bereitete den Boden für die gegen­wärtige populis­tische Bedrohung. Sie sei hausge­macht, denn der Populismus sei als eine Folge der liberalen Hegemonie zu inter­pre­tieren. Die im Titel enthaltene Anspielung auf Karl Poppers „Die offene Gesell­schaft und ihre Feinde“ ist als zynische Kritik zu verstehen. Nach Manow sind es gerade die vermeint­lichen Freunde der Demokratie, die sich als ihre wahren Wider­sacher entpuppen – sie sind ‚falsche Freunde‘.

Die Verrecht­li­chung der Politik als Problem

Folgt man den konven­tio­nellen Krisen­dia­gnosen, so Manow, dann scheint die größte Gefahr für die Demokratie vom demos, dem Staatsvolk, selbst auszu­gehen. Sein Gang zur Wahlurne – der demokra­tische Akt schlechthin – birgt das größte Selbst­ge­fähr­dungs­po­tenzial: Die Wahl (und mögliche Wiederwahl) von Donald Trump und der BREXIT dienen oft als Beispiele, um diese These plausibel zu machen. Die durch Desin­for­ma­tionen manipu­lierten Bürger stimmen gegen ihre eigenen Inter­essen. Die Schluss­fol­gerung: Am besten verhindert man, dass solche Wahlen überhaupt statt­finden. Wenn dann zusätzlich das Insti­tu­tio­nen­gefüge angegriffen wird, das eigentlich zum Schutz der Demokratie geschaffen wurde – so geschehen in Ungarn, Polen und auch in Israel – dann ist die liberale Demokratie existen­ziell bedroht. Verfas­sungs­ge­richte, unabhängige Zentral­banken, Aufsichts- und Kontroll­agen­turen sind dieser Logik folgend die Bollwerke gegen den emotio­na­li­sierten und irratio­nalen populus, das sich von modernen Volks­tri­bunen verführen lässt. Diese hingegen bilden die Zitadellen der Vernunft, die als Korrektiv notwen­di­ger­weise die Demokratie vor der Tyrannei der Mehrheit schützen. Die insti­tu­tio­nelle Einhegung der elekto­ralen Elemente bildet damit das Gütesiegel der wehrhaften Demokratie.

Manow dreht diese Argumen­tation um, denn im „allge­meinen Bewusstsein ist die Demokratie immer nur durch ein Übermaß am Mehrheits­prinzip, nie durch ein Übermaß an Konsti­tu­tio­na­lismus gefährdet.” Er will den obigen Diskurs als einen tenden­ziell antide­mo­kra­ti­schen entlarven, der sich bis heute aus der Angst des Besitz­bür­gertums des 19. Jahrhun­derts gegenüber der Massen­de­mo­kratie speist und die liberalen Argumen­ta­tionen bis heute forma­tiert. Es ist die Sorge vor zu viel Demokratie. Jene nicht-majori­tären Entschei­dungs­gremien sind der Ausdruck dieses dominie­renden Libera­lismus dessen Erfolg man seit den 1990er Jahren anhal­tende Überkon­sti­tu­tio­na­li­sierung der Politik beobachten kann. Diese habe, so Manow, zu einer weitrei­chenden Entpo­li­ti­sierung beigetragen. Die Folge sei, dass das Recht die Politik program­miere und nicht mehr die Politik das Recht. Er fragt program­ma­tisch: „Wer schützt eigentlich die Politik vor dem Recht?“

Dabei konstruiert Manow einen scharfen Wider­spruch zwischen Libera­lismus und Demokratie, der durch die konkrete politische Praxis zwar invisi­bi­li­siert, aber nicht versöhnt werden könne. Der Konflikt breche immer wieder auf und insbe­sondere dann, wenn das Pendel zu der einen oder anderen Seite übermäßig ausschlage. Seine Zeitdia­gnose lautet dementspre­chend, dass das liberale Element seit geraumer Zeit die Oberhand gewonnen habe. Der Handlungs­spielraum des demokra­ti­schen Souveräns werde immer weiter zugunsten der Gerichte einge­schränkt. Nicht Berlin gebe den Takt vor, sondern Karlsruhe und Luxemburg mit einem politi­schen Aktivismus, der sich als unpoli­tisch neutral tarnt. Daher bricht Manow auch mit der weit verbrei­teten Annahme, dass die Bemühungen der gewählten Regie­rungen in Ungarn oder Polen, die Befug­nisse der Verfas­sungs­ge­richte einzu­schränken per se antide­mo­kra­tisch waren. Der Populismus erscheint aus dieser Perspektive nicht als Toten­gräber der Demokratie, sondern als gewünschtes Korrektiv zum „Pater­na­lismus des liberalen Projektes“. Was sich hier zaghaft formu­liert ist die Idee, dass der Populismus als Ventil das angestaute demokra­tische Potential berech­tig­ter­weise zum Ausdruck bringt, da es sich gegen die liberale Entpo­li­ti­sierung wendet. Der Angriff auf die liberalen Elemente der heutigen Demokratie sei deshalb nicht gleich­zu­setzen mit dem Angriff auf die Demokratie selbst, sondern mit ihrer Entfes­selung aus dem verkrus­teten Korsett des demokra­tie­feind­lichen Libera­lismus. Populismus erscheint aus diesem Grund für ihn nicht als das Schreck­ge­spenst, sondern als vitali­sie­rendes Element, das die demokra­ti­schen Kräfte zuungunsten des überbor­denden Libera­lismus stärkt.

Demokratie und Libera­lismus – ein Widerspruch?

Die Gefahr, dass die politische Praxis den ökono­mi­schen und recht­lichen Entwick­lungen nur noch hinter­her­läuft, ist in der Tat ein Problem. Gerade hinsichtlich des supra­na­tio­nalen Rechts der Europäi­schen Union wird dies schon lange als Demokra­tie­de­fizit kriti­siert und beklagt. Aber auch die ökono­mi­schen Maxime des globalen Kapita­lismus schränken die Handlungs­räume politi­scher Mehrheiten ein. Aus demokra­tie­theo­re­ti­scher Sicht melden sich deshalb berech­tigte Zweifel gegenüber diesen Prozessen an, weil hier die für die liberale Demokratie essen­zielle Idee unter­graben wird, dass der Bürger sowohl Adressat als auch Autor der Gesetze ist. Doch ist es deshalb gerecht­fertigt, das Gefähr­dungs­po­tential des Populismus zu relativieren?

Anders als von Manow sugge­riert, stehen Demokratie und Libera­lismus nicht in einem derar­tigen funda­men­talen Wider­spruch zuein­ander. Sie stehen in einer gewissen Spannung, das ist nicht zu leugnen, dennoch verweisen sie zugleich unwider­ruflich aufein­ander und sind – um eine Formu­lierung von Jürgen Habermas aufzu­greifen – ‚gleich­ur­sprünglich‘. Demokratie ist nur mit Libera­lismus zu haben genauso wie Libera­lismus nur mit Demokratie zu haben ist. Sie stützen sich gegen­seitig und sind in diesem Sinne irredu­zible normative Konsti­tuenzien der liberalen Demokratie. Das ist keine Erfindung der 90er Jahre, sondern der Aufklärung. Bereits bei Immanuel Kant kann man die spezi­fische Verkop­pelung aus indivi­du­ellen Rechten, die man dem Libera­lismus zuordnet, und der demokra­ti­schen Tradition studieren. Im Zentrum steht die gleiche Freiheit der Bürger. Die Demokratie als Staats- aber auch als Lebensform fußt auf der Grundlage von Freiheit und Gleichheit der Prozesse der Entschei­dungs­findung und dem delibe­ra­tiven öffent­lichen Vernunft­ge­brauch. Sie basiert auf Prinzipien, denen alle Bürger im Prinzip zustimmen könnten. Demokratie auf das Mehrheits­prinzip zu reduzieren ist daher verfehlt. Mehrheiten allein legiti­mieren nichts. Sonst könnte auch die Unter­drü­ckung von Minder­heiten durch eine Mehrheit legiti­miert werden. Gleich­zeitig ist auch eine Verab­so­lu­tierung negativer Freiheits­rechte unver­einbar mit der liberalen Demokratie. Die pauschale Diskre­di­tierung nicht-majori­tärer Gremien geht deshalb zu weit. Diese lassen sich nicht allein aus einer Logik des cui bono verstehen. Sie sind eine Errun­gen­schaft der liberal-demokra­ti­schen Moderne, deren Ausdruck die spezi­fische Verkopplung von Demokratie und Recht­staat­lichkeit ist. Nur auf diesem Wege kann die gleiche Freiheit der Bürger gewäh­reistet werden.

Die Gefahr des autori­tären Populismus

Politische Reform­vor­schläge, wie die der Ampel­re­gierung, das Verfas­sungs­ge­richt vor dem Missbrauch von politi­schen Mehrheiten zu schützen, müssten für Manow genau das falsche Gegengift sein. Es würde bloß weiter die Judikative zu Lasten der Legis­lative stärken. Bei aller berech­tigten Kritik an der Überkon­sti­tu­tio­na­li­sierung und der damit einher­ge­henden Demokra­tie­de­fizite unter­schätzt Manow jedoch die Gefahr des autori­tären Populismus. Sobald Populisten an der Macht sind, machen sie sich daran, die Demokratie maßgeblich einzu­schränken, um zu verhindern, dass es jemals wieder eine politische Kraft jenseits ihrer eigenen geben kann, die in der Lage ist, Wahlen zu gewinnen: Das ist in Ungarn bereits Realität, in Polen wurde es gerade noch verhindert und in den USA ist es eine reale Gefahr Aus der populis­ti­schen Logik der Identität von Herrschern und Beherrschten folgt zwangs­läufig: Wenn die wahren Volks­ver­treter erst einmal an der Macht sind, werden alle anderen Kräfte zu Volks­feinden. Die politische Gegenwart bietet reich­hal­tiges Anschau­ungs­ma­terial anhand dessen man studieren kann, wie Populisten syste­ma­tisch die Prozesse der Entde­mo­kra­ti­sierung voran­treiben. Dabei greifen sie auf ein vielfäl­tiges Reper­toire an Instru­menten zurück: Oft wird die Gewal­ten­teilung unter Beschuss genommen, indem man die Unabhän­gigkeit der Judikative durch Neube­setzung von Richtern und anderen Mitteln der Einfluss­nahme schwächt. Gleich­zeitig wird durch Wahlrechts­re­formen, der Einschränkung von Bürger­rechten und der Presse­freiheit jegliche aufkei­mende Opposition unter­drückt. Verfas­sungs­ge­richte erweisen sich unter diesen Bedin­gungen oft als die letzte Vertei­di­gungs­linie – nicht nur der liberalen Demokratie, sondern der Demokratie als Herrschaftsform überhaupt. Deswegen werden sie auch so hart bekämpft. Man muss also beides anerkennen, ohne das eine oder das andere zu hyposta­sieren. Wer glaubt, die Bestre­bungen von Orbán und Kaczyński kämen einer gesunden Demokra­ti­sierung gleich – genau das deutet Manow teilweise an – der unter­liegt dem Mythos des Volks­willens, der vielleicht das zentrale Merkmal des Populismus ist. Wer aber anderer­seits die Prozesse der fortschrei­tenden Supra­na­tio­na­li­sierung und Verrecht­li­chung in Europa als bloßen Gewinn betrachtet, weil sie die unzuver­läs­sigen natio­nalen Parla­mente aushebeln, übersieht ebenso die Gefahr einer Entkop­pelung. Beides ist demokra­tie­ge­fährdend, beides gilt es zu kritisieren.

Selbst­be­ob­achtung statt Feindbildpflege

Mit konkreten politi­schen Forde­rungen hält sich Manow jedoch weitest­gehend zurück. Natürlich drängt es sich nach der Kritik an den Prozessen der Verrecht­li­chung und Supra­na­tio­na­li­sierung auf, die Lösung darin zu sehen, die Verfas­sungs­ge­richt­barkeit zurück­zu­drehen und die Europäi­sierung durch eine Renatio­na­li­sierung rückab­zu­wi­ckeln, um damit wieder eine Stärkung der elekto­ralen Insti­tu­tionen, d.h. der Parla­mente zu erreichen. Solche Lösungen deuten sich bei Manow zwischen den Zeilen dann an, wenn er beispiels­weise die Idee, die Nation zu überwinden als westeu­ro­päi­schen Parti­ku­la­rismus diskre­di­tiert. Die Stärke seines Beitrags liegt jedoch auch nicht darin, konkrete Reform­vor­schläge anzubieten, sondern einen Perspek­tiv­wechsel vorzu­nehmen, um damit neu und anders über Demokratie nachzu­denken und zu sprechen. Wie Oliver Weber in seiner Rezension in der FAZ kluger­weise attes­tiert, bietet dies mögli­cher­weise eine Chance, um selbst­re­flexiv umzuschalten von der „Feind­be­ob­achtung auf Selbst­be­ob­achtung“. Nicht mehr die Populisten sind dann der Unter­su­chungs­ge­gen­stand – statt­dessen wird der Blick nach innen gerichtet und es wird gefragt, welche Rolle die liberalen Kräfte dabei gespielt haben, die populis­tische Bedrohung selbst hervor­zu­bringen. Damit könnte auch einer gewissen liberalen Denkfaulheit entge­gen­ge­wirkt werden, die am Ende ihrer treffenden Analyse von einer Demokra­tie­ge­fährdung durch den Populismus meist nichts mehr hinzu­zu­fügen hat – außer die Notwen­digkeit konsta­tieren, dass die liberal-demokra­ti­schen Kräfte zusam­men­stehen, mehr für politische Bildung getan wird und weitere Schritte der Konsti­tu­tio­na­li­sierung gegangen werden müssen. Das kommt einem hilflosen Herum­doktern an den Symptomen gleich und keiner tiefer­ge­henden Analyse und der Ausein­an­der­setzung mit der Frage, wieso das liberal-demokra­tische Projekt überhaupt ins Wanken geraten konnte.

Philip Manow: „Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2024. 252 Seiten, 18 Euro.

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