Estland wehrt sich gegen russische Einfluss­nahme – und Deutschland?

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Estland hat seit der zweiten sowje­ti­schen Besetzung des Landes 1944 eine starke russische Bevöl­ke­rungs­gruppe im Land. Damit diese nicht durch den Kreml miss­braucht wird, greift der estnische Staat gegen jede Art der Einfluss­nahme durch – Deutsch­land könnte davon lernen.

Als am 2. April 2023 in einem Sankt Peters­burger Café eine Bombe explo­dierte und den Kriegs­pro­pa­gan­disten Maxim Fomin alias Wladlen Tatarskij tötete, war unter den Besuchern des Treffens der „Cyber­front Z“ auch ein Mann aus Estland: Sergej Tschaulin. Er wurde verletzt und musste ins Kran­ken­haus gebracht werden.

Konse­quentes Durch­greifen gegen Unter­stützer der spal­te­ri­schen Politik Russlands

In Estland vertrat Sergej Tschaulin öffent­lich poli­ti­sche Posi­tionen des Kreml: Er befür­wortet die russische Annexion der Krim ebenso wie den Anschluss der soge­nannten Lugansker und Donezker Volks­re­pu­bliken an die Russische Föde­ra­tion. Tschaulin war Koor­di­nator des „Unsterb­li­chen Regiments“, einer gesell­schaft­li­chen Initia­tive, die der Kreml für seine Zwecke verein­nahmte, und leitete in Estland die Filiale der Orga­ni­sa­tion „Russische Lands­leute in Europa“. Die estnische Sicher­heits­po­lizei warf ihm vor, unter Vorwand des Anti­fa­schismus natio­nalen und poli­ti­schen Hass zu schüren. Am 14. Februar 2023 ist Tschaulin des Landes verwiesen worden. Sein Aufent­halts­status als Ausländer – er war im Besitz des soge­nannten grauen Passes, den zahl­reiche Bewohner Estlands haben, die weder Bürger von Estland noch der Russi­schen Föde­ra­tion sind – wurde annuliert.

Ein Drei­vier­tel­jahr zuvor war bereits ein Wegge­nosse von Tschaulin aus Estland ausge­wiesen worden, der russ­län­di­sche Staats­bürger Aleksej Esakow. Er hatte die estnische Regierung des „Genozids an Russen“ bezich­tigt. Am 8. Juni 2023 entzog Estland der Nach­fol­gerin Tschau­lins als Koor­di­na­torin des „Unsterb­li­chen Regiments“ Soja Paljamar, die mit einem grauen Pass in Estland lebte, die Aufent­halts­er­laubnis. Die Polizei erklärte, dass die Unter­stüt­zung der spal­te­ri­schen Politik Russlands eine Bedrohung des Staates darstelle. Ein weiterer Verbün­deter Tschau­lins im „Unsterb­li­chen Regiment“, der estnische Staats­bürger Sergej Seredenko, wurde im September 2022 wegen staats­feind­li­cher Tätigkeit in Tallinn zu fünf­ein­halb Jahren Frei­heits­entzug verurteilt.

Die Agenda des Kreml im Baltikum

In dem geheimen Kreml-Papier zur Beein­flus­sung der balti­schen Staaten, das die Süddeut­sche Zeitung am 25. April 2023 veröf­fent­lichte, stehen hinsicht­lich Estland unter anderem folgende Vorhaben:

  •  „Schaffung eines Netzwerks von kreml­freund­li­chen NGOs im huma­ni­tären Bereich und zur Förderung der russi­schen Kultur“
  •  „Orga­ni­sa­to­ri­sche, finan­zi­elle, recht­liche Unter­stüt­zung von prorus­si­schen NGOs und Non-Profit-Organisationen“
  • „Bildung prorus­si­scher Gefühle unter den poli­ti­schen und mili­tä­ri­schen Eliten und der Bevöl­ke­rung der Republik Estland“
  • „Aufbau starker prorus­si­scher Inter­es­sen­gruppen innerhalb der estni­schen Eliten in Politik, Militär und Wirtschaft“
  • „Stärkung der Position der russi­schen Medien und Stei­ge­rung des Medieneinflusses“

Die Attribute „kreml­freund­lich“ und „prorus­sisch“ werden in dem Papier synonym verwendet. Zwar steht dort nicht „Bildung antie­stni­scher und anti­eu­ro­päi­scher Gefühle“, aber genau das ist es, was beispiels­weise Sergej Seredenko gemeinsam mit anderen Personen tat, indem er entspre­chende Artikel veröf­fent­lichte, Veran­stal­tungen orga­ni­sierte und in NGOs Kreml­po­si­tionen vertrat, um die estnische Bevöl­ke­rung zu spalten.

Häufig verwen­dete Narrative des Kreml sind dabei die von der Diskri­mi­nie­rung und Unter­drü­ckung der russisch­spra­chigen Bevöl­ke­rung in Estland oder gar einem Genozid, die Leugnung Estlands als unab­hän­gigem Staat und die Verleum­dung der Esten als Nazis und Faschisten. Wir kennen diese Muster bereits aus dem Vorgehen des Kreml gegen die Ukraine.

Fünfte Kolonne?

Der große Unter­schied zur Ukraine besteht jedoch darin, dass Estland ebenso wie Lettland und Litauen Teil der NATO und damit mili­tä­risch geschützt ist. Dennoch ruft die Propa­ganda, die der Kreml über seine Medien nach Estland sendet, Unwohl­sein in der estni­schen Bevöl­ke­rung hervor. Denn ein Teil der russi­schen Staats­bürger bzw. der russisch­spra­chigen Bewohner in Estland – insbe­son­dere ältere Menschen aus Narva und auch aus Tallinn – folgt der Kreml­pro­pa­ganda. Dies erzeugt das Gefühl, mit „den Russen“ eine fünfte Kolonne im Land zu haben, die für die Inter­essen der russ­län­di­schen Regierung instru­men­ta­li­sierbar ist.

Die meisten Esten wissen aber auch, dass der über­wie­gende Teil der russisch­spra­chigen Bevöl­ke­rung nicht nur lebens­prak­ti­scher Vorteile wegen, sondern aus Über­zeu­gung in Estland lebt und loyal dem Staat gegenüber ist. Doch es bleibt die Unsi­cher­heit, die von Personen ausgeht, die wie Tschaulin, Esakow, Paljamar oder Seredenko agieren.

Klare Regeln, Inte­gra­tion und Cybersicherheit

Die Verur­tei­lungen und Auswei­sungen zeigen: Der estnische Staat reagiert klar. Die Legis­la­tive gibt eindeu­tige Regeln vor, die Exekutive wendet sie an. Über gericht­liche und poli­zei­liche Maßnahmen hinaus versucht der estnische Staat, durch eine forcierte Inte­gra­ti­ons­po­litik einer Spaltung der Bevöl­ke­rung entge­gen­zu­wirken. Estnisch soll endlich gemein­same Sprache für alle Bewohner werden – bislang gibt es gerade im Nordosten Estlands immer noch selbst junge Menschen, die in russisch­spra­chigen Schulen sozia­li­siert wurden und kein Estnisch sprechen.

Gleich­zeitig machen estnische Medien auch russisch­spra­chige Angebote, so dass jeder die Wahl hat, aus welcher Quelle er sich infor­miert. In Narva, die Grenz­stadt im Nordosten, in der 87 % der Bevöl­ke­rung Russisch sprechen, wird inves­tiert, um die Stadt attrak­tiver zu machen und so die Bindung ihrer Bewohner an Estland zu erhöhen.

Und gegen Cyber­an­griffe hat Estland sich besonders gut gewappnet, seit 2007 die IT-Systeme von staat­li­chen Einrich­tungen, Medien und Banken wochen­lang lahm­ge­legt wurden, parallel zu den durch Russich­spra­chige initi­ierten Stra­ßen­un­ruhen um die Verset­zung des Bron­ze­sol­daten in Tallinn. Die Verant­wor­tung für die Cyber­at­ta­cken übernahm übrigens knapp zwei Jahre später die kremlnahe Jugend­or­ga­ni­sa­tion Naschi (dt. Unsere).

Deutsch­land sollte wachsamer sein

Als die Kreml­pa­piere zur Einfluss­nahme auf die balti­schen Staaten veröf­fent­licht wurden, erklärte die estnische Minis­ter­prä­si­dentin Kaja Kallas lakonisch: „Wir kennen unseren Nachbarn.“ Für die Poli­ti­ke­rinnen und Politiker in Mittel- und West­eu­ropa sollten sie jedoch ein Weckruf sein: Wir können den Plänen des Kreml nur durch eine klare eigene Agenda begegnen, um Freiheit, Demo­kratie und Frieden zu bewahren.

Was macht beispiels­weise die deutsche Abteilung der eingangs erwähnten „Russi­schen Lands­leute in Europa“? Wie konnte es dazu kommen, dass nach Beginn des voll­um­fäng­li­chen Angriffs auf die Ukraine Auto­korsos in Deutsch­land die Aggres­sion verharm­losten, ja feierten? Dass in Berlin um den 8./9. Mai 2022 ukrai­ni­sche Fahnen ebenso verboten waren wie russische, also wieder einmal eine Äqui­di­stanz zu Aggressor und Ange­grif­fenem behauptet wurde? Die Entschei­dung war falsch und wurde 2023 – nach anfäng­li­chem Hin und Her – revidiert. Und: Wie sieht es mit unserer Cyber­si­cher­heit aus?

Deutsch­land kann von den balti­schen Staaten lernen

Im Umgang mit versuchter und tatsäch­li­cher Einfluss­nahme durch den Kreml oder Akti­vi­täten in dessen Sinne kann Deutsch­land von den balti­schen Staaten lernen. Dazu ist es gut, die Bezie­hungen so eng wie möglich zu pflegen, gut zuzuhören, die Partner mit ihren Erfah­rungen ernst zu nehmen und gemeinsam zu handeln. In den poli­ti­schen Orga­ni­sa­tionen passiert das schon, ist aber ausbau­fähig. Das gilt besonders auf gesell­schaft­li­cher Ebene. Ressourcen, die bislang für den Austausch mit Russland einge­setzt wurden und jetzt einge­froren sind, ließen sich so sinnvoll nutzen.

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