„Wir feiern die Freiheit“ – zum 105. Unabhängigkeitstag Estlands
„Wir feiern die Freiheit“ – Gratulation zum 105. Unabhängigkeitstag Estlands
Estland ist nach einem Krieg durch das neue russische Zarenreich besetzt und existiert nicht mehr. Die Esten sind deportiert, nur wenige von ihnen sind noch übrig und führen ein unauffälliges Nischendasein. Estnische Literatur darf nur noch auf Toiletten aufbewahrt, aber nicht mehr gelesen werden. Ein Denkmal des unbekannten grünen Männchens ohne Abzeichen steht mitten in der Stadt…
In seinem dystopischen Roman Gorkis Disko von 2015 erweckt der Autor Paavo Matsin historische Traumata der Esten zu neuem Leben, verflochten mit aktueller russischer Bedrohung. Doch am Ende des Romans beginnt das Zarenreich zu bröckeln, weil anarchische Texte explosive Wirkung entfalten. Und die russische Geheimpolizistin Murka muss erkennen, „dass ihr ganzer Dienst vergebens gewesen war. Sie hatte niemals jemanden geliebt.“[1]
Ein Tag des Mutes und der Einheit
Die erneute Besetzung Estlands ist glücklicherweise nur eine Fiktion. Doch Besatzung, Deportation und Unterdrückung der eigenen Kultur sind Erfahrungen, die den Esten tief ins familiäre wie ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben sind und sie sensibel für aktuelle Bedrohungen machen. In der Realität beging Estland am 24. Februar 2023 seinen Nationalfeiertag: 105 Jahre nationale Unabhängigkeit.
Drei Programmpunkte gehören jedes Jahr zum Nationalfeiertag in Tallinn: Das Hissen der blau-schwarz-weißen Nationalfahne nach Sonnenaufgang auf dem Langen Hermann, einem Burgturm auf dem Domberg; die Militärparade am Mittag und der Empfang des Präsidenten am Abend im Theater Eesti.
Zugleich jährte sich am 24. Februar der umfassende Angriff Russlands auf die Ukraine. Deshalb begingen die Esten in diesem Jahr ihren Feiertag in enger Verbundenheit mit der Ukraine. Denn sie grenzen unmittelbar an Russland, haben eine schmerzvolle Repressionsgeschichte unter sowjetischer Annexion und nehmen die gegenwärtige Aggression des Kreml sehr genau wahr. Deshalb war es kein Zufall, dass gerade an diesem doppelten Gedenktag die Präsidentin der europäischen Kommission Ursula von der Leyen und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg Estland besuchten und die Solidarität Estlands mit der Ukraine würdigten.
Am frühen Morgen auf dem Burgberg hielt der Präsident des estnischen Parlaments, des Riigikogu, eine Rede. Jüri Ratas sagte: „Ich weigere mich, aufzugeben und zu akzeptieren, dass das für die Republik Estland wichtigste Datum dem Bösen überlassen wird. Der 24. Februar wird nicht ein Tag des Terrors und der Angst sein. Dieser Tag wird ein Tag des Guten sein, an dem Menschlichkeit und Gutherzigkeit siegen über die Versuche des Feindes, andere zu zerstören und zu erobern. Dieser Tag wird zum Tag des Mutes, denn am 24. Februar haben sich Menschen furchtlos und selbstlos gegen einen zahlenmäßig überlegenen Gegner erhoben. Dieser Tag wird zum Tag der Einheit, denn die Ereignisse haben all jene vereint, die die Freiheit, Menschlichkeit, das Recht auf Leben und den Frieden schätzen. Dieser Tag wird zum Tag der Gerechtigkeit, denn diejenigen, die das Böse entfesselt haben, werden bestraft werden. Und diese Werte werden wir mit Nachdruck verteidigen, so lange es nötig ist. Der 24. Februar ist der Tag, an dem wir die Freiheit feiern und weiter feiern werden.“
Warum der 24. Februar?
Wie viele andere europäische Länder ging Estland als selbständiger demokratischer Staat aus dem Ersten Weltkrieg hervor; die Imperien zerfielen, so auch das russische, zu dem das Gouvernement Estland seit 1783 gehört hatte. Ebenso wie in vielen anderen Völkern Mitteleuropas war die staatliche Unabhängigkeit durch eine libertäre Nationalbewegung, ausgehend von der Universität in Dorpat (Tartu), vorbereitet worden. Doch die Freiheit musste erst noch erstritten werden. Die Proklamation der unabhängigen estnischen Republik erfolgte am 24. Februar 1918 zwischen dem Abzug der russischen Truppen und der Besetzung durch die deutsche Armee, die bereits einen Tag später Tallinn erreichte. Es war also ein schmales Zeitfenster, das die Esten für die Begründung ihrer eigenen Staatlichkeit nutzten. Doch die Kämpfe zwischen Deutschen und Russen um Estland gingen weiter. Anfang 1919 eröffneten die Esten eine Gegenoffensive. Mit Hilfe Großbritanniens und Finnlands gelang es der erst im Aufbau befindlichen estnischen Armee, ihr Territorium ebenso wie Nordlivland zu befreien. Am 19. Mai 1919 rief die demokratisch gewählte verfassungsgebende Versammlung zum zweiten Mal die unabhängige Republik Estland aus. Der Freiheitskrieg dauerte noch bis 1920. Am 2. Februar 1920 erkannte Sowjetrussland im Frieden von Tartu die estnische Unabhängigkeit an und verzichtete „für alle Zeiten“ auf Gebietsansprüche.
Annexion und der lange Weg zur Freiheit
Zwanzig Jahre später wurde Estland erneut zum Objekt sowjetischer und deutscher Aggressionen. In Folge des geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 besetzte die Rote Armee am 17. Juni 1940 Estland. Vier Tage später wurde Estland zur Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR) erklärt. Nach ihrem Überfall auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) überschritten deutsche Truppen am 5. Juli 1941 die estnische Grenze und okkupierten nach und nach das ganze Land. Im Februar 1944 kehrte die rote Armee zurück; im November 1944 hatte sie Estland vollständig besetzt. Die Sowjetunion annektierte Estland und übertrug die 1920 von Russland an Estland abgetretenen Gebiete der Russischen Föderativen Sowjetrepublik. Die von Michail Gorbatschow in der Sowjetunion initiierten Reformen weckten in den zwangsweise inkorporierten Ländern Hoffnungen auf Eigenständigkeit. Als im November 1988 der Oberste Sowjet der Estnischen SSR die Souveränität Estlands innerhalb der Sowjetunion proklamierte, erklärte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR dies als ungültig.
Im März 1990 erklärte der Oberste Sowjet Estlands, die unabhängige estnische Republik wiederherstellen zu wollen. Auch diese Erklärung wurde aus Moskau annulliert – diesmal durch Michail Gorbatschow selbst. Nichtsdestoweniger hat sich die Estnische SSR am 8. Mai 1990 in Estnische Republik umbenannt. Während des Putsches reformunwilliger Kader im August 1991 in Moskau erklärte der Oberste Sowjet Estlands am 20. August 1991 einstimmig die Unabhängigkeit Estlands. Moskau schickte Soldaten, doch die scheiterten am Widerstand der estnischen Bevölkerung.[2]
Weil der 20. August entscheidend für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Estlands war, ist auch dieser Tag in Estland ein gesetzlicher Feiertag. Aber wirklich groß wird der 24. Februar gefeiert, zeigt er doch, dass Estland auf eine Tradition als unabhängiger, demokratischer Staat zurückblickt. Die unabhängige estnische Republik existierte de facto vom 24. Februar 1918 bis 17. Juni 1940 und nun wieder seit dem 8. Mai 1990 bzw. 20. August 1991. Eine Besonderheit ist, dass Estland in der Zeit der sowjetischen Annexion eine Exilregierung hatte, welche die rechtliche Kontinuität des unabhängigen estnischen Staates wahrte. Deshalb also 105 Jahre Unabhängigkeit!
Die Lieder der Anderen
Ukrainische Flüchtlinge gratulierten den Esten an diesem 24. Februar mit deren heimlicher Hymne aus der Sowjetzeit. Damals war die estnische Hymne verboten, und so sangen die Esten stattdessen das Lied von den Bienen, die immer wieder in ihren Stock zurückkehren. Ein Vers daraus steht auf dem Denkmal für die Opfer sowjetischer Repressionen in Tallinn, und Bienen symbolisieren dort das estnische Volk, das gemeinsam in Freiheit leben will. Der Gesang der Ukrainer für die Esten war wie eine Antwort auf das Wohltätigkeitskonzert, das Tausende Esten am 22. Mai 2022 auf der Sängerwiese bei Tallinn für die von Russland überfallenen Ukrainer gaben. Damals sangen sie das ukrainische Lied vom geknickten roten Schneeballstrauch – der Schneeballzweig ist das ukrainische Nationalsymbol.
Übrigens entstammt die Murka aus Paavo Matsins Roman auch einem Lied – einer russischen Gaunerballade, die Wladimir Wyssozki einst sang. Murka ist – wie anfangs im Roman auch – eine Diebin; in dem Lied geht es um Liebe, Verrat und Rache. Dass der Romanautor aus der Ganovin eine Geheimpolizistin macht, die Dissidenten in die Psychiatrie bringt und am Ende das Antiquariat der estnischen Kleinstadt in Flammen aufgehen lässt, ist keine abwegige Fantasie. Bereits die Bolschewiki rekrutierten, kaum dass sie an der Macht waren, ihre Tschekisten aus dem Kriminellenmilieu; und auch im Sankt Petersburg der 1990er Jahre waren diese beiden Welten nicht immer voneinander zu unterscheiden. In diesem Milieu sozialisierte Akteure haben die Ukraine mit Krieg überzogen. Der estnische Nationalfeiertag war in diesem Jahr auch ein Tag der Solidarität mit der Ukraine.
[1] Paavo Matsin, Gogols Disko, Erlangen 2021
[2] Herwig Kraus, Die Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten, München 2007, S. 139–150
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