„Wir verlieren unser Vertrauen in Deutschland“
Der Krieg in der Ukraine ist in den baltischen Ländern präsenter als in Deutschland – und der Wunsch nach mehr deutscher Unterstützung für die Ukraine deutlich. Uta Gerlant hat dazu Stimmen in Estland gesammelt.
„Ihr habt Euren guten Ruf verloren“, mit diesen Worten begrüßt mich Ignas, als ich ihn nach einem Jahr wiedersehe. Er ist 36 Jahre alt und Geschichtslehrer im litauischen Kaunas. Kennengelernt haben wir uns bei der Sommerschule, zu der das Estnische Institut für nationales Gedenken jedes Jahr Historiker aus der ganzen Welt einlädt.
Ignas erklärt, was er genau meint: „Ihr hattet ein gutes Image bei uns, aber jetzt verlieren wir unser Vertrauen in Deutschland – aufgrund dessen, wie es in dieser Krise agiert. Litauische Politiker haben immer darüber gesprochen, besonders Vytautas Landsbergis. Bereits in den 1990er Jahren hat er wiederholt gesagt, dass die Russen eine Bedrohung sind. Möglicherweise hört Deutschland uns nicht und meint, es besser zu wissen. Aber du spürst die Dinge sehr genau, wenn dein Land klein ist – und es hier passiert. Russland ist unser Nachbar. Sag mir, wer eure Nachbarn sind: Frankreich, Belgien, die Niederlande, Polen, Österreich, die Schweiz – ihr habt nur Freunde um euch herum. Ihr spürt die Aggression nicht physisch.“
„Berlin is next“ – von Narva aus gesehen
Kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine demonstrierten am 26. Februar 2022 in der estnischen Hauptstadt Tallinn 30.000 Menschen – es war die größte Demonstration in Estland seit der singenden Revolution 1989. Deutschlands Haltung spielte auch dort eine Rolle. Auf einem Schild stand: „Wake up, Germany, Berlin is next“ – eine Anspielung auf „Narva is next“. Die estnische Stadt an der russischen Grenze hat 60.000 Einwohner – 87 % von ihnen sprechen Russisch. Nach der russischen Besetzung der Krim veröffentlichte das internationale Nachrichtenmagazin „The Diplomat“ am 8. April 2014 einen Artikel unter der Überschrift „Will Narva be Russia’s next Crimea?“
1993 stimmten 97 % der Einwohner Narvas (bei einer Wahlbeteiligung von 54 %) für eine Autonomie innerhalb Estlands. Das estnische Parlament erklärte das regional initiierte Referendum für verfassungswidrig, und Russland hatte kein Interesse an Narva. Doch 2014 war Russland ein völlig anderes als 1993. Während Russland bereits auf der Krim und im Donbass vorgab, die russischsprachige Bevölkerung zu „schützen“, beklagte der Kreml eine angebliche „Misshandlung“ von Russen in Estland – eine Drohung, auch hier die Sprache als Vorwand für Einmischung zu benutzen. Die Esten jedoch haben „Narva is next“ zum Slogan erhoben und versuchen, die Stadt attraktiver für ihre Einwohner zu machen und so die Bindung der russischsprachigen Bevölkerung an Estland zu stärken. Die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid antwortete 2019 auf die Frage „Will Narva be the next?“ mit: „Yes, Narva will be Estonia’s next success story!“ 2024 ist Narva europäische Kulturhauptstadt.
Nun also „Berlin is next“ auf einem Schild bei der Demonstration in Tallinn am 26. Februar. Dass auch Berlin betroffen ist, obwohl Deutschland keine unmittelbare Invasion droht – dafür ist das Bewusstsein in Nordosteuropa wacher als bei vielen Menschen hierzulande. „Wake up, Germany, Berlin is next“ bedeutet auch: „Was tut Deutschland?“
Erwartungen an Deutschland
Während der diesjährigen Sommerschule des Estnischen Instituts für nationales Gedenken in Tallinn beschäftigen wir uns mit der estnischen Geschichte im 20. Jahrhundert und mit dem Krieg in der Ukraine. Ich frage einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach ihren Erwartungen an Deutschland angesichts der russischen Aggression. Iverson ist 27 Jahre alt, stammt aus Hongkong und lebt seit einigen Jahren in Estland. Er antwortet: „Ich glaube, die deutsche Regierung sollte als wertebasierter Leader der europäischen Union agieren. Es geht darum, die Menschenrechte, Demokratie und andere universale Prinzipien der europäischen Grundrechtecharta zu verteidigen. Und außerdem glaube ich, dass die deutsche Regierung nicht nur Unterstützung zur Verteidigung der Freiheit der Ukraine und Europas bekunden, sondern auch konsequente militärische Unterstützung leisten sollte, um sicherzustellen, dass die russische Aggression nicht erfolgreich sein wird.“ Karlis, Museumsguide in Riga, meint: „Die Deutschen sind vielleicht nicht so hilfreich mit Waffen. Gleichzeitig weiß ich, dass Deutschland sehr viel tut, mit Geld und auf andere Weise. Die Deutschen helfen, aber vielleicht nicht so, wie die Ukrainer es sich wünschen. Wir sind schockiert, dass wohlhabende westliche Länder vergleichsweise wenig tun.“ Und Ignas ergänzt: „Wenn ihr der Ukraine helft, dann richtig. Macht es richtig und tut nicht nur so, als ob ihr helfen würdet.“
Valentina, 49 Jahre alt und Geschichtslehrerin in Helsinki, konkretisiert: „Deutschland ist die europäische Führungsmacht und ich denke, es sollte diese Führungsrolle annehmen. Wenn wir wirklich wollen, dass die Ukraine überlebt – ich weiß nicht, ob gewinnen das richtige Wort wäre – dann braucht die Ukraine alle Hilfe und eine Europäische Union, die zusammensteht, zusammenarbeitet und bereit ist, ein bisschen zu leiden. Nicht wie die Ukrainer leiden – denn sie sterben – aber wir sollten bereit sein, höhere Preise für Energie oder Lebensmittel und aufgrund von Inflation in Kauf zu nehmen. Ich weiß, dass das schmerzt und dass nicht alle Leute Geld übrig haben. Aber ich hoffe, dass wir bereit sind, einen kleinen Teil unseres Lebensstandards zu opfern: vielleicht einen Urlaub weniger oder unsere Autos weniger nutzen. Die Ukrainer sterben, während unsere Kinder normal zur Schule gehen und die meisten von uns doch genug zu essen haben. Deutschland sollte seine Bürger auf Schwierigkeiten vorbereiten, denn es wird Schwierigkeiten geben, wenn wir wollen, dass die Ukraine überlebt.“ Und Ignas ergänzt: „Kappt alle Verbindungen mit Russland. Ja, das ist sehr schwierig und wird sehr schmerzhaft werden, aber selbst wir Litauer haben es geschafft, also könnt ihr es auch. Wir bezahlen mehr, aber wenn wir ein paar Euro mehr bezahlen für unsere Freiheit, dann ja!“
Verhandlungen mit Russland?
Sehr kritisch sehen Ignas und Karlis die Stimmen, die in Deutschland für Verhandlungen mit Russland werben. Ignas beschreibt, wie er seinen Schülerinnen und Schülern den Krieg erklärt: „Stell dir vor, dein Nachbar dringt in deine Wohnung ein und nimmt sich ein Zimmer. Was tust du? Stehst du da und tust nichts? Sagst du ‚Bitte, lass uns darüber verhandeln‘ oder: ‚Bitte sehr, du kannst auch die Möbel nehmen‘?“ Karlis meint: „Wenn wir über Verhandlungen sprechen, dann wird in der Ukraine und in Lettland gesagt, dass, wenn die Deutschen vorschlagen, die Ukraine sollte doch einige Territorien an Russland abgeben, um einen Friedensvertrag mit Russland zu schließen, unser Vorschlag wäre, einige deutsche Territorien an Russland zu geben und dann einen Friedensvertrag zu schließen, warum nicht? Dasselbe gilt für Frankreich oder Italien.“
Wirtschaftliche Interessen, Angst und Behäbigkeit
Was hält Deutschland davon ab, so zu handeln, wie es sich Valentina, Ignas, Karlis und Iverson wünschen? Iverson glaubt, „dass die deutsche Politik den deutschen Geschäftsinteressen untergeordnet ist, was die Ukraine betrifft.“ Ignas sagt: „Vielleicht hat Deutschland Angst vor sich selbst. Die Deutschen könnten viel Gutes tun. Aber sie haben Angst zu handeln, Angst, tapfer zu sein. Ich denke, das kommt aus ihrer Geschichte: Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Holocaust… Ich denke, das ist das Problem für sie.“ Eli ist Historikerin am Institut für nationales Gedenken in Tallinn und hat die Sommerschule organisiert. Sie sieht es so: „Deutschland ist wie ein großes Schiff, das nicht so schnell und einfach wenden kann wie Estland, wie ein kleines Schiff. Ich hoffe, dass es sich nicht wieder zurückdreht, wenn ich höre, man müsse mit Russland einen Dialog führen und Putin müsse sein Gesicht wahren können. Muss man wirklich selbst bombardiert werden, um die Gefahr zu begreifen, die von Russland ausgeht? Man könnte die Gefahr auch früher verstehen.“
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