Fortschritt durch Technik? Negative Emissionen als positive Zukunftsvision
Die zweite Hälfte des 21. Jahrhundert wirkt auf viele wohl ähnlich wie die dunkle Seite des Mondes: unbekannt und düster, ein lebensfeindlicher Ort. Wie soll da Hoffnung auf Fortschritt, auf etwas Besseres aufkommen? Lukas Daubner denkt darüber nach, ob Negative Emissionen eine Möglichkeit darstellen, hoffnungsvoller in die zweite Hälfte des Jahrhunderts zu blicken.
Fortschritt zu denken fällt dieser Tage schwer. Das große Modernisierungsversprechen war lange: Es wird besser als zuvor. Dieses Versprechen ist gebrochen. Nicht nur an den gesellschaftlichen Rändern, auch in der Mitte geht eine große Mehrheit der Bevölkerung inzwischen davon aus, dass die Zukunft weit weniger zu bieten hat als die Vergangenheit. Für Visionen, für die es sich einzusetzen lohnt und die Möglichkeit, Zukunft aktiv zu gestalten, bleibt da kaum mehr Raum.
Diese Hoffnungslosigkeit der gesellschaftlichen Mitte wissen Reaktionäre aller Couleur für sich zu nutzen. Sie verbreiten dystopische Zukunftsszenarien und schwärmen von einer vermeintlich guten Vergangenheit. Die US-amerikanisch-polnische Journalistin Anne Applebaum beschreibt das als „die Zukunft der Nostalgie“.
Für liberale Demokratien aber sind zukunftsoptimistische Narrative wichtig. Zukunft muss als etwas Offenes, Gestaltbares verstanden werden. Diese Gestaltbarkeit ist Antrieb für prodemokratische Akteure. Doch insbesondere der Klimawandel verdüstert den Horizont. Eine „zeitliche Klaustrophobie“, so der Londoner Politikwissenschaftler Jonathan White, hält liberale Demokratien in ihrem Bann. „Das Ende ist nah“ schallt es aus allen Ecken.
Die Jahreszahl 2050 markiert dabei in der Klimadiskussion eine gedankliche Barriere: Dann sollen die EU-Klimaziele erreicht sein. Groß und mahnend steht die Jahreszahl da, als eine Art Endpunkt. Doch was kommt danach?
Die zweite Hälfte des 21. Jahrhundert wirkt auf viele wohl ähnlich wie die dunkle Seite des Mondes: unbekannt und düster, ein lebensfeindlicher Ort. Wie soll da Hoffnung auf Fortschritt, auf etwas Besseres aufkommen? Eine Möglichkeit: Negative Emissionen! Sie sind ein Tool aus dem klimapolitischen Werkzeugkasten, mit dessen Hilfe über die magische Jahresgrenze 2050 hinausgedacht werden kann. Und sie liefern eine positive Zukunftserzählung gleich mit.
Mit negativen Emissionen positiv in die Zukunft denken
Negative Emissionen entstehen, wenn CO2 aus der Atmosphäre entnommen und anschließend in Produkten oder Gesteinsformationen gespeichert wird. Dabei geht es beispielsweise um die (Wieder-)Aufforstung von Wäldern, aber auch um Verfahren mit teils illustren Namen: beschleunigte Verwitterung, Direct Air Capture, BECCS (Bioenergie mit CO2-Abscheidung und ‑Speicherung), Alkanitätserhöhung im Meer, Pflanzenkohle und vieles mehr.
Aller kontroversen Diskussionen über diese Verfahren zum Trotz besteht ein breiter wissenschaftlicher Konsens darüber, dass es nicht ausreicht, den CO2-Ausstoß auf null zu senken. In wenigen Jahrzehnten wird es zur Stabilisierung des Erdklimas unbedingt nötig sein, die CO2-Bilanz ins Negative zu ziehen. Die Methoden dazu sind zum Teil bereits jetzt einsatzbereit, teilweise befinden sie sich in der Laborphase. Bis große Mengen CO2 aus der Atmosphäre entnommen werden können, wird es also noch einige Zeit dauern.
In Deutschland wird im Wirtschafts- und Klimaschutzministerium die Langfriststrategie Negativemissionen vorbereitet. Auch auf EU-Ebene und in anderen Weltregionen gibt es entsprechende Überlegungen: Industrieverbände und Unternehmen diskutieren ihre Rolle in einer netto-negativen Welt. Umweltverbände positionieren sich kritisch bis ablehnend. Sie haben Sorge, dass die Möglichkeiten zur CO2-Entnahme die Ambitionen bei der Klimagasvermeidung in der Gegenwart mindern.
Diese Gedankenspiele sowie konkreten Strategieüberlegungen von Staaten, Unternehmen oder der Zivilgesellschaft bergen eine Chance, denn sie ermöglichen etwas, was der starre Blick auf das Jahr 2050 bisher verschleiert hat: Einen Blick in die zweite Jahrhunderthälfte.
Bei allem Optimismus: Die Potenziale, mit negativen Emissionen die CO2-Konzentration in der Atmosphäre zu reduzieren, sind begrenzt. Und die Aufgabe wird schwerer und damit teurer, je langsamer die globale Emissionsminderung voranschreitet. Negative Emissionen sind nicht die eine, einfache Lösung für den Klimawandel.
Gestaltungsmacht über unsere Zukunft
Entlang der technologischen Machbarkeit, CO2 wieder aus der Atmosphäre zu entnehmen, kann jedoch eine politische Erzählung entstehen, mit der ein Fenster in eine gestaltbare und lebenswerte Zukunft geöffnet werden kann. In dieser Zukunft kann der Klimawandel nicht nur gestoppt, sondern sogar teilweise revidiert werden. So wird deutlich, dass mehr möglich ist als die reine Verwaltung von Sachzwängen – dass es möglich ist, Zukunft zu gestalten.
Das muss den Endzeitpropheten und ihren Anhängern von links und rechts – trotz allem Niederschmetternden – unbedingt entgegengehalten werden: Der Fortschritt ist nicht tot, die Zukunft ist nicht verloren. Die nächste Gesellschaft kann noch immer eine bessere sein.
Klimaneutralität und langfristig eine negative Klimabilanz zu erreichen ist allerdings nicht nur ein Marathon, sondern ein Ultramarathon. Es ist tatsächlich machbar, aber sehr anstrengend. Wer Freiheit und Nachhaltigkeit verbinden will, wird um diese Anstrengung nicht herumkommen.
Dieser Text ist am 15.11.2024 in der FAZ erschienen.
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