Freiheit grenzenlos!? Zum Verhältnis von Libera­lismus und Christentum

Das Verhältnis zwischen Chris­tentum und Libera­lismus ist histo­risch spannungs­reich. Und heute? Einer­seits werden religiöse Narrative von jenen, die den Libera­lismus zu Fall bringen wollen, instru­men­ta­li­siert – anderer­seits können christ­liche Perspek­tiven wichtige Beiträge zur Bewäl­tigung aktueller Krisen liefern.

In einer gut besuchten Katho­li­schen Akademie disku­tierten die franzö­sische Philo­sophin Chantal Delsol und der Frank­furter Religi­ons­phi­losoph Thomas M. Schmidt. Jarosław  Kuisz moderierte die Veran­staltung, die die zweite unserer Reihe „Der Libera­lismus und seine Kritiker“ ist und unser vom BMFTR geför­dertes Verbund­projekt „Vordenker der liberalen Moderne“ begleitet.

Gleich zu Anfang wurde klar: Das Verhältnis von Chris­tentum und Libera­lismus ist ein ambiva­lentes, histo­risch existierten immer schon sowohl Gegner­schaft als auch Partner­schaften: Wurden im Zuge der Aufklärung zahlreiche Dogmen und Glaubens­über­zeu­gungen des Chris­tentums von den Vertretern einer liberalen Weltan­schauung infrage gestellt und sogar mit ihnen gebrochen, trat anderer­seits schon früh das Chris­tentum, insbe­sondere in seiner insti­tu­tio­nellen Form als Kirche, als Kritiker des Libera­lismus auf und wiesen christ­liche Denker auf die blinden Flecken des Libera­lismus hin.

Inzwi­schen werden liberale Grund­rechte, die Demokratie und die Menschen­rechte von den Kirchen anerkannt und befür­wortet. Bei anderen zahlreichen Fragen aber bestehen weiterhin Spannungen. Man denke an aktuelle Kontro­versen zu bioethi­schen Themen, zur Sexual­ethik oder bei Fragen rund um Gender und Familie.

Ursprung und Krise des Liberalismus

Chantal Delsol verortete Aufklärung und Libera­lismus, wie häufig verkürzt darge­stellt, nicht als reine Gegen­be­wegung zum Chris­tentum, sondern stellte beides in eine über die Theorie der Moderne hinaus­wei­sende lange geistes­ge­schicht­liche Tradition. Libera­lismus trete in „einem kultu­rellen Feld zum Vorschein, das durch das vom Judentum sich herlei­tende Chris­tentum geprägt ist.“ Delsol kam zum Schluss, der Libera­lismus sei somit „Frucht der Anthro­po­logie der Person“.

Die Idee der indivi­du­ellen Freiheit sei damit eine, die sich nicht in erster Linie in Opposition zu einem religiös geprägten Weltver­ständnis heraus­ge­bildet habe. Im Gegenteil: Sie sei von Anfang an religiös einge­bettet gewesen. Und: Freiheit könne nie ohne Verant­wortung gedacht werden. Sie sagte: „Es gibt keine Freiheit ohne die Idee ihrer zugleich hinge­nom­menen und hinzu­neh­menden Schranken. In ihrem Ursprung beruht Freiheit also auf klar bestimmten Grund­lagen und geht mit Bedin­gungen einher.“ In dieser Verwur­zelung sei der ursprüng­liche Libera­lismus auch weiterhin tragfähig.

Proble­ma­tisch werde der Libera­lismus jedoch in der Moderne, wenn er sich von diesen religiösen und morali­schen Funda­menten löse. Dann erscheine Freiheit „einer weit klaffenden Leere ausge­setzt“. Delsol sprach von einem „Nihilismus“, der in der heutigen Kultur die Überzeugung nähre, „dass alles möglich ist“.

Als Beispiel dafür nannte sie gesell­schaft­liche Debatten wie jene um den assis­tierten Suizid: Für sie ein Beispiel dafür, wie absolute Selbst­be­stimmung ohne Maß und Bindung in moralische Orien­tie­rungs­lo­sigkeit führe. Die Lösung? Sieht Chantal Delsol nicht etwa in einer einfachen Rückkehr in vormo­derne Ordnungen. Sie unter­strich: „Wir können nicht in die Vergan­genheit zurück“. Vielmehr plädierte sie dafür Ihr Anliegen, innerhalb der Moderne eine christlich geprägte Anthro­po­logie stark­zu­machen, die Sterb­lichkeit und Verant­wort­lichkeit ernst nimmt. Damit könne sie Orien­tierung jenseits vom „postmo­dernen Relati­vismus“ bieten.

Abwehr­re­aktion und Voraus­set­zungen des Liberalismus

Thomas M. Schmidt stimmte in seiner Replik vielen Thesen Delsols zu. Aber er erwei­terte ihre Perspektive noch um eine politische Dimension: Libera­lismus sei zwar inspi­riert durch christ­liche Anthro­po­logie, aber nicht allein darauf zu reduzieren. Vielmehr sei er zugleich „eine politische Abwehr­re­aktion […] auf den gesell­schaft­lichen Monopol­an­spruch der Religion“. Der weltan­schaulich neutrale Staat sei als Lehre aus den Religi­ons­kriegen entstanden. Diese hätten eine Trennung von politi­scher Ordnung und religiöser Vormacht­stellung notwendig gemacht.

Schmidt griff das bekannte Diktum des Verfas­sungs­richters und Rechts­phi­lo­sophen Ernst-Wolfgang Böcken­fördes auf: „Der freiheit­liche, säkula­ri­sierte Staat lebt von Voraus­set­zungen, die er selbst nicht garan­tieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, einge­gangen ist.“

Damit betonte er, dass Freiheit auf inneren morali­schen Ressourcen basiert, die weder vom Staat geschaffen noch erzwungen werden können. Dies sei „das große Wagnis“ des Libera­lismus, das dieser „um der Freiheit willen“ eingehe. Schmidt warnte zugleich davor, eine einheit­liche religiöse Grundlage für die Gesell­schaft zu fordern: „Weltan­schau­ungen sind in der Tat unver­zichtbare Ressourcen der Orien­tierung. Aber es gibt Weltan­schau­ungen nur im Plural.“ Ein moderner Rechts­staat könne daher nicht auf eine einzelne Religion verpflichtet werden, ohne seine Freiheit­lichkeit zu verlieren.

Besonders würdigte Schmidt Delsols Verständnis der gegen­wär­tigen Rolle des Chris­tentums. Er erklärte: „Das Chris­tentum sollte vielmehr still und solida­risch präsent sein an jenen Orten, an denen Individuen die Freiheit liberaler Gesell­schaft eben nicht nur als Emanzi­pation und Berei­cherung erleben, sondern auch als Entfremdung und Einsamkeit.“ Er inter­pre­tierte die christ­liche Anthro­po­logie in diesem Zusam­menhang als „Schule der empathi­schen Wahrnehmung des Anderen, gerade des verletzten Anderen.“

Konflikt­reiche Vergan­genheit, spannungs­reiche Zukunft

Beide Disku­tanten einte die Überzeugung, dass Libera­lismus ohne moralische Substanz nicht bestehen könne. Sie betonten, dass das Chris­tentum eine Ressource sein kann, um Freiheit menschlich zu erden. Doch während Delsol stärker den Verlust gemein­samer Grund­lagen betonte, plädierte Schmidt für eine Reform des Libera­lismus im Rahmen einer plura­lis­ti­schen Moderne.

Welche Ressourcen also kann das Chris­tentum heute bieten? Kann es Orien­tierung bieten, um einer grenzen­losen Ausweitung der Freiheiten etwas entge­gen­zu­setzen? Skepsis herrschte darüber, ob das Chris­tentum angesichts seines Bedeu­tungs­ver­lustes in Europa tatsächlich noch eine gemeinsame normative Basis liefern könne. Statt Freiheit und Verant­wortung mitein­ander zu verschränken, könne ein solches Vorhaben auch Gefahr laufen, das Chris­tentum zu verab­so­lu­tieren. Welche Dynamiken dies entfachen kann, sieht man aktuell am christ­lichen Postli­be­ra­lismus in den USA, der sich zu einer ernst­haften Bedrohung der liberalen Demokratie entwi­ckelt hat.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Spenden mit Bankeinzug

Spenden mit PayPal


Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.