Ralf Fücks aus Kyjiw: „Wir regis­trieren dort vor allem „Enttäu­schung und Bitterkeit“

Ralf Fücks aus Kyjiw: „Wir regis­trieren dort vor allem „Enttäu­schung und Bitterkeit“ über die deutsche Politik, und warnen davor, dass sich in Berlin schon wieder Illusionen über Russlands Macht­streben breit machen.

WELT: Herr Fücks, Sie sind Mitte dieser Woche mit Ihrer Frau Marie­luise Beck nach Kiew gefahren, eine Reise in den Krieg. Was hat Sie dazu bewogen?

F: Ein Zeichen der Solida­rität. Wir haben eine enge Verbindung zum Land, in Kiew leben viele Freunde und Partner, mit denen wir seit langem zusam­men­ar­beiten. Wir wollten uns ein authen­ti­sches Bild von der Lage verschaffen. Und mehr über die Erwar­tungen erfahren, die die ukrai­nische Politik an die EU und Deutschland hat.

WELT: Sie sind seit 40 Jahren Mitglied der Grünen. Wusste Ihre Partei Bescheid, dass Sie nach Kiew fahren?

F: Das ist keine Partei­reise. Aber wir haben einige Abgeordnete und Kontakte in der Regierung informiert.

WELT: Was sind Ihre ersten Eindrücke in Kiew?

F: Ich kenne Kiew als quirlige, europäische Metropole. Nun saugt der Krieg die ganze Energie auf. Es gibt viele Straßen­sperren. Restau­rants schließen um 19.00 Uhr, ab 21.00 Uhr herrscht Ausgangs­sperre, die Stadt wird verdunkelt. Auch tagsüber herrscht oft eine gespens­tische Stille. Viele Frauen sind mit ihren Kindern aus der Stadt geflohen, Kiew wurde in den ersten beiden Wochen des russi­schen Überfalls ja massiv angegriffen. Bisher wurde die innere Stadt nur spora­disch beschossen, aber es gibt häufig Luftalarm. Der Krieg findet in den Außen­be­zirken statt, Artil­le­rie­be­schuss, Bombar­die­rungen, das hören wir auch. Aber wir riskieren hier nicht unmit­telbar unser Leben.

W: Andere Städte, etwa Mariupol, wurden zerstört, die Lage dort ist drama­tisch. Was hören Sie darüber?

F: Auch in unmit­tel­barer Umgebung von Kiew gibt es furchtbare Zerstö­rungen. Mariupol hatte an die 500.000 Einwohner. Von dort kommen schreck­liche Nachrichten, Tausende tote Zivilisten, kein Strom, die Menschen hungern. Mehr als 80 Prozent der Stadt sind zerstört. Auch Chernihiv im Norden ist einge­schlossen. Die Ukraine erlebt einen Krieg mit all seinen verhee­renden Auswir­kungen. Wir waren heute im größten Kinder­kran­kenhaus der Ukraine und haben mit dem Chefarzt gesprochen. Er hat uns Fotos von Kindern gezeigt, mit zerschos­senen Gliedern. Wir haben die Bomben­splitter gesehen, die aus ihnen heraus­ope­riert wurden. Das ist ein ungeheures Elend. Kinder, die schwer trauma­ti­siert sind, die ihre Eltern verloren haben.

W: Sie haben lange vor einem blauäu­gigen Blick auf Putins Ambitionen gewarnt und sich etwa für Waffen­lie­fe­rungen an die Ukraine ausge­sprochen. Was nehmen Sie mit aus Kiew?

F: So ein Besuch verändert noch einmal die Perspektive. Wenn man die deutsche Diskussion erlebt, bekommt man den Eindruck, wir wären die eigent­lichen Opfer – höhere Benzin­preise, Knappheit beim Gas, Wohlstands­ver­luste. Hier in Kiew verändern sich die Propor­tionen. Man bekommt ein Gefühl dafür, um was es eigentlich geht.

W: Hat man in Deutschland wirklich verstanden, was gerade in der Ukraine passiert?

F: Ich fürchte, Nein. Einen Krieg dieser Dimension hat es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Zehn Millionen Menschen sind bisher geflohen, ein Viertel der Bevöl­kerung. Städte werden in Schutt und Asche gelegt, Indus­trie­an­lagen zerstört. In Deutschland erleben wir einer­seits eine beein­dru­ckende Solida­rität. Aber gleich­zeitig habe ich den Eindruck, dass wir dieses Grauen hier nicht wirklich an uns heran­lassen. Und zwar sowohl die humanitäre Katastrophe wie die politische Herausforderung.

W: Worin besteht diese Herausforderung?

F: Das ist ein europäi­scher Krieg, die Aggression zielt auf Europa und die europäi­schen Grund­werte. Wenn Putin damit Erfolg hat, wird er in der Ukraine nicht haltmachen. Seine Ambitionen sind damit nicht gestillt.

W: Sie meinen eine Bedrohung der balti­schen Staaten oder anderer russi­scher Nachbarländer?

F: Ja. Es geht Putin um die Restau­ration des russi­schen Imperiums nach der Devise: Wir holen uns zurück, was uns gehört. Es geht um die Ukraine, Belarus, Moldau, Kasachstan, die balti­schen Republiken. Im russi­schen Fernsehen wird offen darüber geredet, einen Landkor­ridor nach Kaliningrad zu schaffen. Das sollte niemand mehr für leere Drohungen halten. Den Fehler haben wir viel zu lange gemacht.

W: Sie haben in Kiew mit vielen Menschen gesprochen. Wie ist deren Blick auf Deutschland?

F: Wir haben mit Parla­men­ta­riern und hochran­gigen Regie­rungs­ver­tretern gesprochen. Da gibt es viel Enttäu­schung und Bitterkeit über Deutschland. Die politi­schen Insider regis­trieren zwar, dass sich die Bundes­re­gierung in den vergan­genen Wochen, gemessen an der bishe­rigen deutschen Politik, weit bewegt hat. Aber sie haben den Eindruck, das vieles zu langsam und zu wenig kommt. Das gilt auch für Waffenlieferungen.

W: Also vorwie­gende Skepsis gegenüber Berlin?

F: Ich kann das nachvoll­ziehen. Wir müssen uns einge­stehen, dass die Bundes­re­publik eine Mitver­ant­wortung hat, dass es so weit kommen konnte. Weil wir über Jahrzehnte die russische Aufrüstung finan­ziert haben. Weil wir die Warnsi­gnale nicht sehen wollten. Nicht 2008, als russische Truppen in Georgien einmar­schierten. Nicht 2014, bei der Okkupation der Krim und dem Krieg in der Ostukraine. Auch nicht beim Bomben­krieg in Syrien. Oder dem Hacker­an­griff auf den Bundestag. An keinem Punkt ist die deutsche Politik Putin entschieden entge­gen­ge­treten.  Gleich­zeitig haben wir die Ukraine auf Abstand gehalten. Angela Merkel und Frank Walter Stein­meier haben sowohl eine Nato- wie eine EU-Mitglied­schaft der Ukraine abgewehrt.

W: Es gibt eine deutsche Schuld an dieser Lage?

F: Ich spreche von Mitver­ant­wortung. Deshalb müssten wir jetzt mehr helfen als andere.

W: Die Bundes­re­gierung sagt, Deutschland würde mehr Waffen liefern als andere.

F: Wir hören hier eher, dass das immer noch sehr zögerlich vonstatten geht. Es dauert zu lange. Es wird unter­schieden zwischen Defensiv- und Offen­siv­waffen, letztere werden verweigert. Das ist doch sinnlos. Die Ukraine braucht Boden-Luft-Raketen größerer Reich­weite, mit denen sie sich die russische Luftwaffe vom Hals halten kann. Sie brauchen Anti-Raketen-Systeme und gepan­zerte Fahrzeuge, um die Mobilität ihrer eigenen Truppen zu erhöhen. Die deutschen Vorbe­halte werden der Wirklichkeit dieses Krieges nicht gerecht. Auch bei den Sanktionen gegen Russland gibt es eine ganze Palette von Möglich­keiten, die wir nicht nutzen.

W: Darüber entscheidet ja auch Ihre Partei. Tun die Grünen zu wenig?

F: Die Grünen haben gegenüber Moskau keine Beschwich­ti­gungs­po­litik betrieben, im Gegenteil. Die aktuelle Misere haben sie nun geerbt. Ich verstehe das Dilemma, in dem Robert Habeck nun steckt. Aber wir müssen uns stärker bewegen und die deutsche Binnen­sicht verlassen. Ich befürchte, dass es in Berlin – nicht bei den Grünen – immer noch Politiker gibt, die weiter auf ein Arran­gement mit dem Kreml hoffen. Das alte Mantra, dass es nur Sicherheit mit Russland gibt. Tatsächlich muss Europas Sicherheit gegen Russland verteidigt werden.

W: Das heißt, die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen, sonst gibt es keinen Frieden?

F:  Wir müssen alles tun, damit die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann. Unsere Gesprächs­partner haben uns gesagt: Wenn der Westen die nötige Ausrüstung liefert und gleich­zeitig Russland ökono­misch maximal unter Druck setzt, dann schaffen wir das auch.

W: Kommt bei den Verhand­lungen zwischen der Ukraine und Russland was raus?

F: Selensky hat aus seiner Perspektive schon weitrei­chende Konzes­sionen angeboten – kein NATO-Beitritt und Einfrieren des terri­to­rialen Status quo vor dem Krieg. Ob er dafür im Land Mehrheiten hat, ist nicht gewiss. Im Gegenzug will Selensky Sicher­heits­ga­rantien, auch von uns. Davor schrecken in Berlin schon wieder viele zurück. Und während verhandelt wird, verüben russische Truppen Verbrechen gegen die Mensch­lichkeit. Das ist die Lage. Putin will die Ukraine auf die Knie zwingen und sich große Teile des Landes unter den Nagel reißen. Das Ergebnis wäre eine gedemü­tigte, amputierte, ökono­misch ruinierte Ukraine. Kann das ernsthaft aus westlicher Sicht ein möglicher Kompromiss sein? Ich finde, nein.

W: Viele europäische Regie­rungs­po­li­tiker haben, wie Sie, Kiew besucht – aus Solida­rität. Deutsche Regie­rungs­ver­treter waren noch nicht da. Werden die vermisst?

F: Ein Besuch von Vertretern der Bundes­re­gierung wäre hier in Kiew ein hochwill­kom­menes Signal. Möglichst zusammen mit anderen Europäern.

W: Die Nato wird nicht direkt ins Kampf­ge­schehen eingreifen. Das ist die rote Linie. Wie reagieren ihre ukrai­ni­schen Gesprächs­partner darauf?

F: Die würden sich das wünschen, halten es aber politisch nicht für durch­setzbar. Aber sie erwarten, dass man sie wenigstens angemessen mit Waffen ausrüstet. Die Nato hat die Waffen­systeme, die die Ukraine jetzt braucht. Jedem, der da auf der Bremse steht, kann ich nur einen Besuch in Kiew empfehlen.