Für eine neue Risikogesellschaft

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1986 hat Ulrich Beck den Begriff der Risiko­ge­sell­schaft geprägt. Heute ist angesichts multipler Krisen der Wunsch, keine Risiken einzu­gehen, zur größten Bedrohung der Risiko­ge­sell­schaft geworden. Ein neuer Wagemut ist gefragt, schreibt Nikolai Ott in seinem dritt­plat­zierten Essay.

Immer wieder gibt es Begriffe, die sogenannte Epochen­brüche ausbuch­sta­bieren. Das von Olaf Scholz geprägte Wort der Zeiten­wende gehört zweifelsohne in diese Kategorie, auch wenn es eine geopo­li­tische Neuordnung nur nachträglich, mit Jahren der Verspätung diagnos­ti­zieren konnte. Gleich­falls gibt es Schlag­wörter, die einen Epochen­bruch vorweg­nehmen. Ich denke hierbei an das von Ulrich Beck geprägte Wort der Risiko­ge­sell­schaft. Unter diesem Titel wurde die Becksche Gesell­schafts­theorie 1986 fast zeitgleich mit dem Reaktor­unfall in Tscher­nobyl publi­ziert und etablierte sich so zur Katastrophen-Begleit­lektüre innerhalb der deutschen Öffentlichkeit.

In seiner Studie des Struk­tur­wandels westlicher Gesell­schaften zeichnete der Soziologe Beck das Bild einer neuen Phase der Moderne – einen Übergang der Industrie- zur Risiko­ge­sell­schaft, gekenn­zeichnet durch das Auftreten von neuen globalen Bedro­hungs­lagen. Durch einen sich verselb­stän­di­genden Techno­lo­gi­sie­rungs­prozess habe die Indus­trie­ge­sell­schaft ihre eigenen Risiken geschaffen, die fortan als ungewollte Neben­ef­fekte aufträten. Waldsterben, verpestete Flüsse, versmogte Innen­städte oder eben nukleare Katastrophen – Ulrich Becks Diagnose traf den Nerv der Zeit und lieferte dem neuen ökolo­gi­schen Bewusstsein der Öffent­lichkeit eine theore­tische Fundierung. Finanz­krisen, Pandemien und neue Umwelt­ka­ta­strophen haben dazu beigetragen, dass Beck auch acht Jahre nach seinem Tod noch im deutschen Bewusstsein herumgeistert.

Die Risiko­ge­sell­schaft ist schon lange nicht mehr nur in eine reine Theorie, viel mehr hat sich die abstrakte Furcht vor Risiken auf allen Ebenen der deutschen Gesell­schaft, Politik und Wirtschaft einge­nistet. Wie in den 1980er Jahren befinden wir uns heute wieder in einer Zeit des Umbruchs, in einer Zeit multipler Krisen. Und so wie Ulrich Beck damals richti­ger­weise postu­lierte, dass sich die  Indus­trie­ge­sell­schaft reflexiv betrachten müsse, gilt das Gleiche heute für die Risiko­ge­sell­schaft. Denn so wie sich damals der techno­lo­gi­sierte Moder­ni­sie­rungs­prozess verselbst­stän­digte, hat sich heute unsere Risiko­aversion verselbst­ständigt. In der Ironie der Moderne ist keine Risiken eingehen zu wollen, zum größten Risiko der Risiko­ge­sell­schaft geworden.

Denn wie soll eine stabile Gesell­schaft, eine funktio­nie­rende Demokratie, eine prospe­rie­rende Wirtschaft langfristig überleben, wenn sie in jedem Atommeiler die nukleare Katastrophe wittert? Im goldenen Reis den Zusam­men­bruch der Ökosysteme vor Augen hat? Im neuen Windrad den toten Adler erblickt und in jedem zu uns Geflüch­teten einen arbeits­scheuen Sozial­schma­rotzer prognos­ti­ziert? In dem von Hans Jonas geprägten Begriff der Heuristik der Furcht reflek­tiert sich eine inner­deutsche Charak­ter­er­stellung, die sympto­ma­tisch für unseren Umgang mit gegen­wär­tigen Krisen und Problemen ist. Allen voran im Umgang mit der Klima­krise, die im Beckschen Sinne das größte aller unkon­trol­lier­baren Risiken ist. Diese uns unmit­telbar bedro­hende Gefahr wurde von der fossilen
Indus­trie­ge­sell­schaft als gefähr­lichste aller Neben­wir­kungen hervor­ge­bracht, aber es ist die moderne Risiko­ge­sell­schaft, die aufgrund ihrer inneren Wider­sprüche unfähig ist, mit ihr angemessen umzugehen.

Auf die vergleichs­weise einsamen Kassan­drarufe der damaligen Umwelt­be­wegung, die lange vor dem politi­schen Mainstream vor den Risiken eines entfes­selten Klima­wandels warnte, folgten die effizient organi­sierten Risiko-Anmahner, mit denen sich der moderne Klima­schutz konfron­tiert sieht. “STOP! Hier droht das Risiko der toten Zaunei­dechse”, heißt es dann von Baurecht-Bürokraten, wenn eine neue Bahnstrecke gebaut werden soll. “ES REICHT! Hier werden Vögel sterben” schreibt die grün-angestri­chene Bürger­initiative wütend in Flugblättern, wenn ein neuer Windpark vor der Haustür droht. “ACHTUNG! Es wird die biolo­gische Vielfalt zerstört“, erklären Umwelt­ver­bände, wenn die Europäische Union zaghaft Gentechnik deregu­liert. Und “HALT! Hast du denn nicht aus Tscher­nobyl gelernt?” erklärt der altein­ge­sessene Schre­ber­garten-Öko, wenn man andeutet, ob es nicht klüger wäre, Atomkraft­werke zumindest erst nach den Kohle­kraft­werken abzuschalten. In der aufge­klärten Risiko­ge­sell­schaft ist es also offenbar möglich, keine neuen Risiken einzu­gehen, es scheint jedoch unmöglich, bestehende Risiken zu bekämpfen, weil man dafür neue Risiken eingehen müsste. In diesem inneren Wider­spruch spiegelt sich unser falsches Verhältnis zur Risiko­ge­sell­schaft. Eine neue Beziehung zum Risiko ist notwendig. Abhilfe kann hierbei eine andere Gesell­schafts­theorie schaffen: “Konflikt ist Freiheit” heißt es bei dem deutschen Sozio­logen Ralf Dahrendorf, der in seiner Konflikt­theorie gesell­schaft­liche Konflikte als “Garanten der Erneuerung und Motoren des Fortschritts” verstand. Nein, Dahrendorf meinte nicht das Hobbessche Schre­ckens­sze­nario eines Kampfes aller gegen alle, sondern einen durch Gesetze und Insti­tu­tionen geregelten Konflikt, um die ausge­henden Reform­kräfte zu kanali­sieren. Im übertra­genen Sinne sollte Ähnliches für unseren Umgang mit Risiken gelten. In eine regellose Laissez-Faire-Welt möchten höchstens noch die letzten drei Ayn-Rand-Fans zurück, aber für einen zumindest etwas gelas­se­neren Umgang mit Risiken spricht wenig. Weder der am Mast gefes­selte Odysseus, noch der übermütige Ikarus sind angemessene Vorbilder, um mit unseren Problemen der Gegenwart fertig zu werden. Das Beispiel der Flugin­dustrie zeigt, warum die Elimi­nation von Risiken richtig bleibt. Flugzeuge werden heute gemeinhin als das sicherste Verkehrs­mittel wahrge­nommen. Und es stimmt: immer mehr Menschen fliegen, aber immer
weniger verlieren dabei ihr Leben. Während 1970 noch knapp 1400 Menschen starben, waren es 2022 nur noch 188 – bei einer gleich­zei­tigen Verzehn­fa­chung der Fluggäste. Folgt man dem Bundes­verband der Deutschen Luftver­kehrs­si­cherheit, war Fliegen 2022 59-mal sicherer als vor 50 Jahren. Verkürzt gesprochen, wird die Luftfahrt mit jedem Unfall sicherer. Und es ist genau diese Lernfä­higkeit, die uns im Umgang mit anderen Risiken fehlt. Aus dem umgekehrten Grund; weil wir nicht mehr bereit sind, nicht einmal zaghaft Risiken einzu­gehen, um sie dann später gegebe­nen­falls korri­gieren zu können.

Damit ist nicht gemeint, dass wir einen nuklearen Unfall oder einen erneut verpes­teten Rhein riskieren sollten. Auf verseuchter Erde wächst erstmal wenig bis nichts nach. Aber eben auch nicht, dass wir überall den Schadensfall vermuten sollten. In der Risiko­ge­sell­schaft drohe der “Ausnah­me­zu­stand zum Normal­zu­stand zu werden”, schrieb Beck. Ein prophe­ti­scher Satz in der Tat, jedoch in anderer Hinsicht als vom Autor inten­diert. Mahnte Beck noch richti­ger­weise an, dass die Wissen­schaft Risiken künstlich herun­ter­rechnen würde, hat sich dieser Umstand heute ins Gegenteil verkehrt. Für fast jedes Vorhabe findet sich plötzlich ein Gutachten, welches vorrechnet, warum dieses und jenes nicht möglich sei. Die Verbrau­cher­zen­tralen warnen mit Gutachten vor Gentechnik, die fossile Industrie vor dem Erneu­er­baren-Energien-Blackout und die Umwelt­ver­bände vor dem Arten­sterben durch neue Bahnstrecken.

Wissen­schaft trifft auf Wissen­schaft, Gutachten trifft auf Gutachten, überall droht der herbei­ge­redete Ausnah­me­zu­stand und im Zweifel obsiegt der Skeptiker. “Wo sich alles in Gefähr­dungen verwandelt, ist irgendwie auch nichts mehr gefährlich” heißt es in Becks Risiko­ge­sell­schaft. Und wo sich poten­ziell alles in Gefähr­dungen verwandelt, geraten die richtigen Risiken aus dem Blick, müsste man heute im
Hinblick auf die Klima­krise ergänzen.

Richtig bleibt, dass die gesell­schaft­liche Wahrnehmung von Risiken in erheb­lichem Masse einer gesell­schaft­lichen Konstruktion durch Politik und Massen­medien unter­liegt. Politisch haben sich alle Parteien ihrer eigenen Klaviatur der Risiko-Diskurse verschrieben. Allen voran die AfD, die im Hinblick auf den Klima­wandel die Risiken runter­rechnet oder gar gänzlich negiert, und im Hinblick auf Migration mit falschen Zahlen, Einzel­fällen und einer Verdachts­her­me­neutik jeden Flüchtling zunächst per se als Risiko­faktor porträ­tiert. Aber auch in der demokra­ti­schen Mitte finden sich alltäglich die Muster der Risikorhetorik.

Sozial­de­mo­kraten warnen vor dem Risiko des Arbeits­platz­ver­lustes. Konser­vative vor dem Risiko durch erneu­erbare Energien. Liberale vor der elektri­sierten Automo­bil­in­dustrie und Grüne vor genma­ni­pu­lierten Pflanzen. Wie schon Ulrich Beck anmerkte, scheint sich jedes Milieu seine Wirklichkeit nach einem “Schema­tismus von Sicherheit und Gefahr” kognitiv zu strukturieren.
Weil im Neuen die Gefahr droht, wird die Risiko­ge­sell­schaft durch den Januskopf der Sicher­heits­ge­sell­schaft ergänzt. Es ist nicht nur ein politi­sches Problem, sondern mittler­weile ein existen­ti­elles Manko der deutschen Wirtschaft. Dies zeigt nicht nur die Automo­bil­in­dustrie, die plötzlich im inter­na­tio­nalen Vergleich zurück­fällt, weil die kurzfris­tigen Gewinne durch den Verbren­nungs­motor von dem Trend zur Elektro­mo­bi­lität ablenkten. Auch die Depen­denzen der deutschen Wirtschaft von der chine­si­schen Volks­re­publik fallen in diese Kategorie – erst der
russische Angriffs­krieg konnte ein zaghaftes Umdenken hin zur Diver­si­fi­zierung einleiten. Und apropos russi­scher Angriffs­krieg, nichts steht so exempla­risch für falsche Sicher­heiten, wie die deutsche Abhän­gigkeit vom russi­schen Gas. Es ist auch eine Folge der deutschen Sicher­heits­ge­sell­schaft mitsamt ihren Vertretern in Politik, Wirtschaft und Gewerk­schaften, dass die Sicherheit eines gesamten Staates heute in und mit der Ukraine auf dem Spiel steht.

Als die deutsche Publi­zistin Constanze Stelzen­müller im Angesicht des Krieges im Economist resigniert feststellte, dass Deutschland seine Sicherheit in die USA, seine Energie­be­dürf­nisse nach Russland und sein export­ba­siertes Wachstum nach China outges­ourced habe, zeigte sich spätestens, dass die deutsche Risiko­aversion zum größten aller Risiken geworden war. Und doch gibt es Anlass zur Hoffnung: dass wir mittler­weile unabhängig vom russi­schen Gas sind, ist auch die Folge eines Umdenkens der Politik. Dass in wenigen Monaten mehrere LNG-Terminals gebaut werden konnten, zeigte das Potenzial, und wurde von Bundes­kanzler Olaf Scholz unlängst zum Anlass genommen, um bundesweit für ein neues “Deutsch­land­tempo” zu werben.

Ob dieses Wort einen weiteren Epochen­bruch ausbuch­sta­biert, wird sich zeigen müssen. Der angestrebte Bürokra­tie­abbau oder auch die Reform, beim Bau von Anlagen für erneu­er­baren Energien künftig auf kompli­zierte Umwelt­ver­träg­lich­keits­prü­fungen zu verzichten, sind vage Schritte in die richtige Richtung. Weitere sind unaus­weichlich, und es wird auf alle demokra­ti­schen Parteien ankommen, altein­ge­sessene Gewiss­heiten kritisch zu hinter­fragen. Aber nicht in nur in der Politik, auch in der Wirtschaft, auch in Gewerk­schaften und in Umwelt­ver­bänden, bei der Daten­schüt­zerin und beim Bürokraten – überall dort, wo sich über Jahrzehnte die Routinen eines proble­ma­ti­schen Sicher­heits­denkens unhin­ter­fragt etablieren konnten, braucht es ein Umdenken und den Willen zur
Veränderung.

Die Büchse der Pandora lässt sich nicht mehr schließen, das gilt auch im Umgang mit dem Risiko. Inflation, Klima­schutz, geopo­li­tische Unsicherheit – in der Bekämpfung all dieser großen und gefähr­lichen Szenarien wird es darauf ankommen, ob wir bereit sind, neue Risiken einzu­gehen. Wo Gefahr ist, da wächst das Rettende schließlich auch – aus der Risiko­ge­sell­schaft sprießt immer auch der Keim der Chancen­ge­sell­schaft. Tatsächlich schrieb schon Ulrich Beck vor 40 Jahren, dass man zum Fortschritt zwar Nein sagen könne, dies aber nichts an seinem Vollzug ändern würde. Daraus folgt die banale, aber doch schöne Einsicht, dass es im Endeffekt wieder an uns liegt. An uns, ein neues und hoffentlich angst­freieres Verhältnis zum Fortschritt zu entwi­ckeln. Und an uns, die global uns bedro­henden Gefahren endlich angemessen zu bekämpfen. Ein bisschen Risiko wird es dabei wohl brauchen.

Textende

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