Was Boris Johnsons Aufstieg für Großbritannien bedeutet
Mit seiner Exzentrik und der Bereitschaft, ohne Abkommen aus der EU auszutreten, hat Boris Johnson sich die Stimmen der Tory-Mitglieder gesichert. Doch einen Plan, wie er seine Versprechen umsetzen kann, hat er nicht.
Für Boris Johnson ist am Dienstag ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen. Er wurde zum Vorsitzenden der Konservativen Partei gewählt – und ist damit auch der neue britische Premierminister. Noch vor einem Jahr war das eine albtraumhafte Vorstellung für viele pragmatisch denkende Briten: Ausgerechnet der unberechenbare Opportunist Johnson, der mit einem ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union droht, übernimmt die Führung des Landes. Das für März 2019 geplante Austrittsdatum wurde inzwischen bereits zwei Mal verschoben. Ex-Premierministerin Theresa May scheiterte bei ihren Versuchen, das mit der EU vereinbarte Abkommen durchs Parlament zu bringen. Just in diesem Moment der Unsicherheit übernimmt Johnson ihr Amt. Er wird Mays Probleme erben: ein tief gespaltenes Land, eine gespaltene und geschwächte Partei und keine Mehrheit im Parlament für eine realistische Brexit-Option.
Den exzentrischen Politiker scheinen die äußerst schwierigen Umstände nicht zu stören. In seiner kurzen Rede nach der Verkündung der Ergebnisse am Dienstag wiederholte er seine Wahlkampfversprechen: den Brexit durchzuführen, das Land zu vereinen und Jeremy Corbyn, den Labour-Chef, zu besiegen. Einen konkreten und überzeugenden Plan, wie er das erreichen will, stellte er allerdings nicht vor. Auch am Dienstag hatte er nur eine pathetische Vision parat: „Wir werden wieder an uns selbst glauben, und wie ein schlafender Riese werden wir uns aufrichten und die Fesseln von Selbstzweifel und Negativität abschütteln.“
Bei den rund 160.000 Mitgliedern der Konservativen Partei, die Johnson gewählt haben, kamen die Floskeln und Allgemeinplätze jedoch besser an als die vorsichtigeren Aussagen seines Rivalen, des Außenministers Jeremy Hunt. Johnson gewann deutlich mit 66 Prozent. Zum einen dürfte seine Ankündigung, den Brexit bis zum 31. Oktober durchzuführen, „koste es was es wolle“, den Tory-Mitgliedern gefallen haben. Tatsächlich zeigte eine Umfrage im Juni, dass mehr als die Hälfte der Mitglieder der Konservativen Partei dazu bereit sind, einen sehr hohen Preis für den Brexit zu zahlen: Sie würden den Austritt aus der EU befürworten, selbst wenn das der britischen Wirtschaft einen erheblichen Schaden zufügte. Oder wenn sich als Folge Nordirland und Schottland vom Vereinigten Königreich abspalteten. Oder wenn die eigene Partei daran zugrunde ginge.
Ein Chaot, dem alles verziehen wird
Zum anderen war der Charme von Johnson für die Parteimitglieder wichtiger als die Kompetenz von Hunt. Seine Anhänger glauben daran, dass sein Charisma ausreicht, um die gespaltene Partei zu vereinen, die schwierigen Verhandlungen mit der EU durchzuführen und Neuwahlen zu gewinnen, falls es dazu kommen sollte. Johnson, der ehemalige Bürgermeister von London, pflegt seit Jahren das Image eines exzentrischen Chaoten, der ungeschickt, aber authentisch ist. Dadurch konnte er viele Sympathien gewinnen. Seine Anhänger scheint nichts an ihm abzuschrecken. Seine Unberechenbarkeit wird etwa als die Fähigkeit umgedeutet, kreative und ungewöhnliche Lösungen zu finden. Sein fehlendes Interesse an Details als die Bereitschaft, Aufgaben zu delegieren. Seine Affären werden ihm verziehen.
Auch Johnsons lässiger Umgang mit Fakten wird meist einfach so hingenommen. Schon zu Beginn seiner Karriere als Journalist wurde Johnson von der „Times“ gefeuert, weil er ein Zitat erfand. Als Brüssel-Korrespondent des konservativen „Daily Telegraph“ schrieb er arg übertriebene bis erfundene Geschichten, in denen die EU als eine absurde und bürokratische Institution dargestellt wurde, die angeblich einheitliche „Euro-Särge“ einführen wolle und eine Polizeieinheit zusammenstelle, die die Krümmung von Bananen messen solle. Und während der Kampagne vor dem Brexit-Referendum behauptete er fälschlicherweise, nach dem Austritt aus der EU könne Großbritannien jede Woche 350 Millionen Pfund – das Geld, das ins EU-Budget eingezahlt werde – zusätzlich ins Gesundheitssystem NHS investieren.
Doch jetzt hat Johnson eine hohe Verantwortung und muss liefern. Er zeigt sich entschlossen, ein neues, besseres Abkommen mit der EU auszuhandeln, das bis Ende Oktober vom Parlament ratifiziert werden muss. Den alten Deal von Theresa May hat er bereits für „tot“ erklärt. Der wichtigste Punkt, in dem Johnson Konzessionen von der EU will, ist die Frage nach dem sogenannten „Backstop“, der eine harte Grenze zwischen Großbritannien und der Republik Irland verhindern soll. Laut dem Abkommen, das May ausgehandelt hat, soll Großbritannien in der Zollunion bleiben, falls in der Übergangszeit keine Lösung für die Grenze gefunden wird. Diesen Punkt wollen die Brexit-Befürworter streichen, weil sie fürchten, dass daran der ganze Austritt scheitern kann. Allerdings bekräftigten EU-Vertreter mehrmals, dass sie nicht bereit seien, das Abkommen neu zu verhandeln.
Mehrere Minister der Konservativen Partei sind aus Protest zurückgetreten
Was Johnson nicht vom Tisch nehmen will, ist ein ungeregelter Austritt, ein „No deal“. Für die britische Wirtschaft wäre das ein schwerer Schlag und die Mehrheit der Abgeordneten im Parlament ist nach wie vor entschlossen, dieses Szenario zu verhindern. Am Montag haben mehrere Minister der Konservativen Partei ihren Rücktritt angekündigt, um ein Zeichen des Protests gegen Johnsons Bereitschaft zu einem harten Austritt zu setzen. Nicht wenige Mitglieder der Fraktion der Tories sind dazu bereit, bei einem Misstrauensvotum gegen Johnson zu stimmen, um ein „No deal“ zu verhindern. Theoretisch hat Johnson eine Möglichkeit, die Queen darum zu bitten, das Parlament zu suspendieren. Das würde Elisabeth II. jedoch in eine sehr heikle Position und das Land in eine noch tiefere politische Krise katapultieren.
Es bleibt noch die Option von Neuwahlen, die für die Konservative Partei jedoch sehr riskant ist. Als Theresa May sich in der Hoffnung auf eine deutliche Mehrheit auf vorgezogen Wahlen einließ, führte das dazu, dass die Tories schlechter als gedacht abschnitten und eine Koalition mit der protestantisch-unionistischen Partei DUP aus Nordirland bilden mussten. Johnson ist zwar ein talentierter Wahlkämpfer und populär unter den Brexit-Anhängern. Doch schaut man auf das ganze Land, hat die Mehrheit der Bevölkerung ihm gegenüber eine ablehnende Haltung. Und so könnte er die Wähler regelrecht in die Arme von Labour und Liberalen Demokraten treiben. Außerdem wäre der Brexit bei dieser Option nicht bis zum 31. Oktober umzusetzen.
Damit bleibt die Lage auch für Johnson hochgradig vertrackt. Mit Charme und Humor alleine sind die Herausforderungen, die vor ihm liegen, nicht zu bewältigen. Womöglich wird er gezwungen sein, vom Populisten zum Realpolitiker zu werden.
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