Grenz­wertig

© Julia Smirnova

Brexit, Belfast und der „Backstop“: Für die Menschen an der Grenze zwischen Irland und dem Verei­nigten König­reich wäre es das Beste, wenn der Austritt aus der EU gar nicht kommt. Unsere Autorin hat sie besucht. Eine Grenzerfahrung.

Wer nicht weiß, wo die Grenze zwischen Nordirland und Irland verläuft, könnte sie passieren, ohne es zu merken.

Eine enge Landstraße in Coshquin, einem Vorort der nordiri­schen Stadt Derry. Nur ein Straßen­schild mit einer Geschwin­dig­keits­be­grenzung deutet darauf hin, dass hier das Verei­nigte König­reich endet und Irland beginnt. „Ich bin mit der Bewegungs­freiheit aufge­wachsen“, sagt Gordon Crockett, ein 24-jähriger Landwirt: „Man kann kaum sagen, wo hier früher die Grenze war.“ 

Portrait von Julia Smirnova

Julia Smirnova ist freie Journa­listin und Studentin am King’s College London. 

Doch diese heute kaum noch sichtbare Grenze könnte bald wieder zurück­kehren. Sie könnte mitten durch die Felder der Familie Crockett führen. Denn zwei Drittel des Grund­stücks der Crocketts befinden sich auf dem irischen Gebiet. Ein Drittel hingegen außerhalb.

Nur wenige Wochen vor dem angesetzten Datum des Austritts des Verei­nigten König­reichs aus der EU, dem 29. März, ist immer noch unklar, wie es mit dem Brexit weitergeht. Ob die Verhand­lungs­frist verlängert wird. Oder ob das Parlament den von Premier­mi­nis­terin Teresa May ausge­han­delten Deal im letzten Moment absegnet. Das schlimmste Szenario – ein ungere­gelter Austritt – wird in Nordirland besonders gefürchtet. Denn es würde bedeuten, dass hier wieder eine Grenze mit Zollkon­trollen entsteht. Eine Grenze könnte ungeahnte Konse­quenzen haben, nicht nur für Firmen und Menschen, sondern mögli­cher­weise auch für den politi­schen Frieden in Irland. Um eine harte Grenze zu vermeiden, enthält das Austritts­ab­kommen zwischen dem Verei­nigten König­reich und der EU den „Backstop“, eine Regelung, mittels der – im Falle eines No-Deal-Szenarios – das ganze Verei­nigte König­reich, also Großbri­tannien und Nordirland, in der Zollunion mit der EU bleibt. Doch ausge­rechnet am diesem „Backstop“ ist die erste Abstimmung im Parlament gescheitert.

Eine Export­lizenz aus London und eine aus Dublin

Als die physische Grenze zwischen dem Ver­ei­nigten König­reich und Irland noch bestand, war die kleine Landstraße neben dem Grund­stück von Gordon Crockett komplett gesperrt. Der Weg aus Derry in die irische Grafschaft Donegall führte nur über die Haupt­straße, durch Grenz­kon­trollen und den Zoll. In ganz Nordirland gibt es hunderte kleine Landstraßen wie diese hier. Es wurde aber noch keine konkrete Lösung präsen­tiert, ob und wie diese Landstraßen nach dem Brexit kontrol­liert werden sollen. „Viele Menschen in England wollen die Bewegungs­freiheit beenden, aber gleich­zeitig keine harte Grenze haben. Ich sehe nicht, wie das möglich ist“, sagt Crockett.

Das Wirtschaften auf beiden Seiten der Grenze ist Teil der Famili­en­ge­schichte. Als der Urgroß­vater von Crockett Anfang des 20. Jahrhun­derts sein Grund­stück hier kaufte, gab es eine adminis­trative Grenze zwischen den Grafschaften Donegall und Derry, die damals beide zum Verei­nigten König­reich gehörten. Nach dem Unabhän­gig­keits­krieg wurde die Insel geteilt, sechs Grafschaften im Norden blieben Teil des Verei­nigten König­reichs. „Hier war früher auch eine Straße, aber 1922 hat man sie zugemacht und nie wieder aufge­macht“, sagt Crockett und zeigt auf ein altes Schild. Formal musste der Bauernhof in zwei unter­schied­lichen Juris­dik­tionen geführt werden. „Mein Großvater bekam eine Export­lizenz aus London und eine aus Dublin, um etwas zwischen den beiden Teilen des Grund­stücks zu bewegen“, erzählt Crockett. Immer wieder kamen Zollbeamte aus beiden Ländern auf den Hof, um zu überprüfen, dass hier auch ja nicht geschmuggelt wird.

Bis heute sind es formal zwei Bauernhöfe – auch wenn es jetzt viel einfacher ist, sie zu führen. Gordon Crockett wird bald den irischen Teil übernehmen. Ob er demnächst wie sein Großvater häufig Besuche von Zollbe­amten bekommt, weiß er noch nicht. Er bereitet sich aber darauf vor, dass die Grenze bald in irgend­einer Form gezogen wird. Wie? Das weiß im Moment niemand, nicht mal Politiker in London und Dublin. „Die beste Lösung wäre, wenn alles so bleiben würde, wie es ist – keine Grenze, keine Zollkon­trollen“, sagt Crockett.

Viele Firmen produ­zieren auf beiden Seiten

Die Folgen des Austritts aus der EU würden auch andere Landwirte in Nordirland zu spüren bekommen. Viele Firmen produ­zieren auf beiden Seiten der Grenze. So kommt es vor, dass die Milch aus Nordirland in Irland verar­beitet wird oder Kartoffeln aus Irland in Nordirland verpackt und dann wieder in Irland verkauft werden. Die Waren überqueren in einigen Fällen mehrmals die Grenze, bevor sie die Kunden erreichen. Das erschwert eine Lösung für eine „weiche“ Grenze, die die britische Regierung in Aussicht gestellt hat.

„Das sind Flausen. Es gibt keine technische Lösung“, sagt Elisha McCallion katego­risch. Die Abgeordnete der Partei Sinn Fein für den Kreis Foyle, zu dem die Stadt Derry gehört, fährt selbst mehrmals am Tag über die Grenze nach Irland, wo ihre Kinder­be­treuung liegt. So gehe es auch vielen anderen Menschen in der Grenz­region. Das wichtigste Ziel ihrer Partei sei deshalb, auf einem Abkommen mit einem „Backstop“ zu bestehen und zwar ohne jegliche zeitliche Begrenzung; sonst würde die „Backstop“-Klausel ihren Sinn verlieren.

Referendum für ein wieder­ver­eintes Irland?

Doch das andere, langfristige Ziel von Sinn Fein ist es, den Norden und den Süden der Insel wieder­zu­ver­einen. Nach der Brexit-Abstimmung bekommt diese Idee neuen Aufwind. Laut dem Karfrei­tags­ab­kommen von 1998 soll diese Frage mittels eines Referendums entschieden werden, das in Nordirland abgehalten wird. Bis jetzt zeigen Umfragen jedoch keine Mehrheit für die Wieder­ver­ei­nigung. McCallion hofft aber auf eine neue Generation von Natio­na­listen, die vom Brexit „wachge­rüttelt“ worden seien. Ein ungere­gelter Austritt könnte die Stimmung zusätzlich aufheizen. „Wir wollen aber kein zweites Brexit-Szenario, keine Falsch­in­for­ma­tionen“, versi­chert die Sinn-Fein-Abgeordnete: „Wir wollen genug Zeit und Raum haben, um legitime Argumente vorzustellen.“

Die unionis­tische Partei DUP, die momentan in London mit den Tories die Regie­rungs­ko­alition bildet, lehnt das Referendum strikt ab. Und auch bei den meisten Anhängern der DUP kommt die Idee schlecht an. Auch Gordon Crockett, dessen Familie Grund­stücke auf beiden Seiten der Grenze besitzt, würde trotz der Brexit-Ablehnung nicht für ein vereintes Irland stimmen. Er hat nur den briti­schen Pass und seine Familie gehört tradi­tionell zu den Unionisten, die die Wieder­ver­ei­nigung ablehnen. Das britische Gesund­heits­system und die Schulen seien besser und überhaupt würden die Menschen in Nordirland im Falle einer Wieder­ver­ei­nigung wirtschaftlich verlieren. „Die meisten Menschen wollen das Verei­nigte König­reich nicht verlassen, um Teil der EU zu bleiben“, glaubt er.

Radikale Split­ter­gruppen

Die Unsicherheit angesichts der Brexit-Szenarien hat in Europa die Angst vor einer Rückkehr der Gewalt geweckt. Die Erinne­rungen an den Konflikt, der mehrere tausend Menschen das Leben gekostet hat, sind noch jung. Vor allem im Fall einer harten Grenze könnte Infra­struktur zum Ziel von Angriffen werden, so wird befürchtet. Radikale Split­ter­gruppen wie Real IRA oder Conti­nuity IRA sind nach wie vor aktiv und verüben seit Jahren immer wieder Anschläge, etwa im Januar in Derry, wo eine Bombe vor einem Gerichts­ge­bäude explo­dierte. „Ja, histo­risch war die harte Grenze immer ein Ziel für Anschläge“, sagt Marisa McGlinchey, Forscherin an der Univer­sität Coventry. Für ihr neues Buch, „Unfinished business“, hat sie rund 90 Menschen aus dem Kreis der sogenannten Dissi­denten unter den Republi­kanern inter­viewt – so werden die radikalen Anhänger der irischen Einheit genannt. Viele von ihnen unter­stützen den bewaff­neten Wider­stand. Doch eine Eskalation der Gewalt sei nicht zu beobachten, so McGlinchey.

Überhaupt gehe es bei den jüngsten Anschlägen wie in Derry nicht um den Brexit, sondern darum, Konti­nuität im Wirken der IRA zu demons­trieren und darauf aufmerksam zu machen, dass einige Mitglieder der „Dissi­denten“ in Haft sitzen. „Aber, ehrlich gesagt, sehe ich keinen Anstieg ihrer Popula­rität wegen des Brexit“, sagt McGlinchey: „Und es gibt keine Hinweise dafür, dass sich ihre Aktivität inten­si­viert.“ Einen bewaff­neten Kampf wolle heute niemand mehr, nicht die Bevöl­kerung, und auch nicht die „Dissi­denten“.

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