Hohe Strom­preise: Brauchen wir ein neues Strommarktdesign?

Muss der Energie­preis stärker staatlich gelenkt werden? Der Energie­ex­perte Christoph Maurer erläutert das Merit-Order-Prinzip und verdeut­licht, warum die disku­tierten Reform­vor­schläge für den Umstieg auf erneu­erbare Energien kontra­pro­duktiv sind.

Auch wenn die milde Witterung und die vollen Gasspeicher etwas Entspannung bei den Energie­preisen gebracht haben: An der Leipziger Energie­ter­min­börse EEX kostet eine Strom­lie­ferung für das Jahr 2023 immer noch 350 EUR/​MWh. Das ist zwar sehr viel weniger als die deutlich über 500 EUR/​MWh bis in der Spitze fast 1000 EUR/​MWh, die im August und September aufge­rufen wurden, aber auch noch gut fünf Mal so viel wie vor der Energie­krise. Zwar bestreitet niemand, dass Russlands Krieg in der Ukraine und das Ausbleiben russi­scher Gaslie­fe­rungen diese Krise funda­mental verur­sacht haben. Aber im Laufe des Jahres haben Politi­ke­rinnen und Politiker in Europa immer vehementer das Strom­markt­design als Mitver­ant­wort­lichen für das Überschwappen der hohen Gaspreise auf den Strom­sektor beschuldigt. EU-Kommis­si­ons­prä­si­dentin Ursula von der Leyen hat in ihrer „State of the Union“-Rede im September eine tiefgrei­fende Reform der europäi­schen Elektri­zi­täts­märkte zur Entkopplung von Strom- und Gaspreisen angekündigt, da das aktuelle Design, das Merit-Order-Prinzip, den Inter­essen der Verbrau­che­rinnen und Verbraucher nicht mehr gerecht werde.

Merit-Order als Design­fehler im Strommarkt?

Liegen also im europäi­schen Strom­markt tatsächlich grund­le­gende Design­fehler vor, die zur Verschlim­merung der Krise beitragen? Und was bedeutet genau dieses Merit-Order-Prinzip, das bis vor kurzem nur einem energie­wirt­schaft­lichen Fachpu­blikum bekannt war, nun aber von Politi­ke­rinnen und Politikern aller Couleur kriti­siert wird? Die verkürzte Wahrnehmung in Politik und Öffent­lichkeit lässt sich so zusam­men­fassen: Das Merit-Order-Prinzip besagt, dass das teuerste benötigte Kraftwerk die Vergütung für alle anderen Kraft­werke bestimmt. Weil fast immer Gaskraft­werke laufen, ist der Strom­preis propor­tional zum Gaspreis gestiegen, auch wenn sich die Strom­erzeu­gungs­kosten z. B. für Windenergie- und PV-Anlagen nur wenig verändert haben.

Strom­preis­bildung beruht nicht auf Strommarktdesign-Entscheidungen

Das Merit-Order-Prinzip besagt jedoch zunächst lediglich, dass Strom­erzeu­gungs­an­lagen aufsteigend nach variablen Kosten der Strom­erzeugung einge­setzt werden, bis die Nachfrage gedeckt ist. Es enthält jedoch keine Preis­regel, sondern erklärt vielmehr die Preis­bildung am Strom­markt. Strom ist ein homogenes Gut: Strom aus unter­schied­lichen Erzeu­gungs­an­lagen ist für Verbraucher nicht unter­scheidbar, die Zahlungs­be­reit­schaft ist unabhängig von der Produk­ti­ons­tech­no­logie. Gewinn­ori­en­tiert und rational agierende Strom­erzeu­gungs­an­lagen werden deshalb nicht bereit sein, den von ihnen produ­zierten Strom unterhalb des Preises abzugeben, der für gleich­wer­tigen Strom aus anderen Erzeu­gungs­an­lagen gezahlt wird, auch wenn die eigenen Produk­ti­ons­kosten unterhalb dieses Preises liegen. Ein solches Verhalten, das aktuell im Strom­markt als Verur­sacher von Überge­winnen skanda­li­siert wird, wird auf anderen Märkten als normal empfunden und wider­spruchslos hinge­nommen. Jeder private Verkäufer, der ein Objekt auf einer Inter­net­ver­kaufs­plattform anbietet, agiert ähnlich, wenn er vor Einstellung eines eigenen Angebots den Preis ähnlicher Objekte recher­chiert und dann den eigenen Angebots­preis am allge­meinen Markt­preis­niveau orientiert.

Aufgrund dieses Mecha­nismus, der überhaupt nicht spezi­fisch für das Strom­system ist, wird Strom (an Kurzfrist­märkten) unabhängig von den indivi­du­ellen Erzeu­gungs­kosten zum Markt­gleich­ge­wichts­preis gehandelt. Im Normalfall bildet sich dieser aus den variablen Kosten des teuersten für die Nachfra­ge­de­ckung benötigten Kraft­werks. Ist das ein Gaskraftwerk, bestimmt der Gaspreis den Strom­preis für alle Erzeuger und Nachfrager. Das hat aber viel mehr mit allge­meinen ökono­mi­schen Prinzipien als mit spezi­ellen Strom­markt­design-Entschei­dungen zu tun.

Bei der Diskussion um angeb­liche Überge­winne am Strom­markt sollte zudem berück­sichtigt werden, dass diese hohe Anreize setzen, z. B. erneu­erbare Energien schnell auszu­bauen und damit in immer mehr Monaten des Jahres gasba­sierte Strom­erzeugung obsolet zu machen. Damit würden die Preise dank des Merit-Order-Prinzips sofort stark fallen, wie der bereits heute deutlich erkennbare Zusam­menhang zwischen stünd­lichen Strom­preisen und Erzeugung aus erneu­er­baren Energien z. B. während der PV-Mittags­spitze oder Windfronten zeigt.

Kontra­pro­duktive Eingriffe in den Strommarkt

Doch auch wenn das Merit-Order-Prinzip ökono­misch wenig spekta­kulär erscheint, ist gerade auf EU-Ebene die Lust ungebrochen, grund­sätz­liche Design­än­de­rungen am Strom­markt herbei­zu­führen. Hoch im Kurs stehen dabei Varianten eines Vorschlags, den die griechische Regierung im Sommer unter­breitet hat, um eine Entkopplung von Strom- und Gaspreisen zu bewirken. Dabei sollen bestimmte Erzeu­gungs­tech­no­logien wie erneu­erbare Energien und Kernenergie nur noch als Ergebnis staat­licher Auswahl­ver­fahren (wie z. B. Ausschrei­bungen) Zugang zum Strom­markt erlangen. In diesem Fall würden sie Renta­bi­li­täts­ga­rantien erhalten, dafür aber gezwungen werden, ihren Strom zu langfris­tigen Durch­schnitts­kosten, also inklusive auf die Einsatz­stunden umgelegter Fixkosten, und unabhängig vom tatsäch­lichen Wert für die Verbraucher, abzugeben. Diese sollen den Strom dann zu ebendiesen Durch­schnitts­kosten erhalten, wobei je nach Vorschlag unklar ist, ob dieses Recht zum Strom­bezug zu Durch­schnitts­kosten allen Verbrau­chern oder nur bestimmten Gruppen wie der energie­in­ten­siven Industrie zugestanden wird.

Gerade mit Blick auf den dringend benötigten Zubau erneu­er­barer Energien und die notwen­digen Schritte zur Dekar­bo­ni­sierung des Energie­systems würden sich solche Änderungen als kontra­pro­duktiv erweisen.

Hemmnis für den Ausbau erneu­er­barer Energien

Der nicht geför­derte, sondern durch private Nachfrage getriebene Zubau von erneu­er­baren Energien, der sich gerade erst entwi­ckelt, würde abgewürgt und durch ein dauer­haftes System staat­licher Inves­ti­ti­ons­lenkung mit Rendi­te­ober­grenzen ersetzt. Politisch festge­legte Ausbau­ziele würden damit, unabhängig von den Wünschen der Energie­ver­braucher, eine Obergrenze des Ausbaus darstellen. Gleich­zeitig bestünden erheb­liche Risiken der Untererfüllung, z. B., weil Inves­ti­tionen in anderen Ländern deutlich attrak­tiver würden oder unambi­tio­nierte staat­liche Ziele nicht durch Inves­ti­tionen außerhalb des Förder­systems kompen­siert werden könnten.

Weniger Anreize für Energieeffizienz

Die Anreize für Energie­ef­fi­zienz, ohnehin ein Sorgenkind der Energie­wende, würden verringert. Gemäß dem Merit-Order-Prinzip führen Energie­ein­spa­rungen dazu, dass die teuersten Kraft­werke nicht mehr produ­zieren müssen und deren Kosten einge­spart werden können. Zahlten Verbraucher aber nur einen Durch­schnitts­preis aller Erzeu­gungs­tech­no­logien, könnten sie den Wert ihrer Sparan­stren­gungen nicht mehr vollständig reali­sieren und würden deshalb weniger sparen. Bzw. umgekehrt: Sie müssten für zusätz­lichen Verbrauch weniger zahlen, als dies an Kosten im Energie­system verur­sacht. Das bedeutet nichts anderes, als dass diese Kosten von anderen Energie­ver­brau­chern (oder Steuer­zahlern) getragen werden müssten.

Integration erneu­er­barer Energien erfordert flexible Nachfrage

Die Integration von enormen Mengen volatiler erneu­er­barer Energien erfordert nach überein­stim­mender Exper­ten­meinung eine hochgradig flexible Nachfrage. Millionen von Elektro­autos, Wärme­pumpen, flexiblen Lasten in Industrie und Gewerbe, Elektro­ly­seuren etc. sollten ihr Verbrauchs­ver­halten zukünftig am Angebot von Strom aus erneu­er­baren Energien orien­tieren. Angesichts der Zahl der Akteure und des fehlenden zentralen Wissens über die Flexi­bi­li­täts­po­ten­ziale auf der Nachfra­ge­seite kann diese Koordi­nation nur über Preise erfolgen. Die effiziente Nutzung erneu­er­barer Energien erfordert also, dass Preise sehr niedrig sind, wenn das EE-Angebot hoch ist, und auf sehr hohe Werte steigen, wenn wenig EE-Strom zur Verfügung steht und statt­dessen z. B. teurer Wasser­stoff zur Strom­erzeugung genutzt werden muss. Ein auf Durch­schnitts­kosten basie­rendes Preis­system würde genau an dieser zentralen Anfor­derung scheitern. Preise würden auch bei einem Überan­gebot von EE-Strom nicht weit genug sinken, um die sinnvolle Nutzung dieses Stroms zu ermög­lichen und letzt­endlich Abrege­lungen erzwingen. Umgedreht würden bei Strom­man­gel­lagen Verbraucher ihren Verbrauch nicht ausrei­chend reduzieren, weil das Knapp­heits­signal viel zu stark abgedämpft würde.

Die von der EU-Kommis­si­ons­prä­si­dentin angekün­digte tiefe und umfas­sende Reform des Strom­markts scheint somit weder notwendig noch zielführend. Sie würde vielmehr die Gefahr bergen, um kurzfris­tiger Preis­ef­fekte willen, die anste­hende Trans­for­mation zum dekar­bo­ni­sierten Energie­system der Zukunft schwie­riger und teurer zu machen. Die Politik sollte sich statt­dessen darauf konzen­trieren, Härten der Energie­preis­krise für besonders betroffene Verbrau­che­rinnen und Verbraucher abzumildern, die funda­mentale Abhän­gigkeit von fossilen Brenn­stoffen aus autokra­tisch regierten Ländern zu verringern und Hemmnisse für einen schnellen, zunehmend nachfra­ge­ge­trie­benen Ausbau der erneu­er­baren Energien zu beseitigen.

Es wird spannend zu sehen, wie Deutschland sich in dieser Debatte positio­niert. Bundes­wirt­schafts­mi­nister Habeck hat zwar in der Vergan­genheit Sympa­thien für die Entkopplung von Strom- und Gaspreisen erkennen lassen, gleich­zeitig aber auch betont, dass Deutschland vom Merit-Order-Prinzip nicht überstürzt abrücken will. Die aktuell disku­tierte Strom­preis­bremse versucht diesen Spagat zu schaffen, in dem sogenannte Übererlöse bei Strom­erzeu­gungs­an­lagen, deren variable Kosten deutlich unterhalb des Markt­preises liegen, abgeschöpft werden, ohne direkt in die Preis­bildung am Strom­markt einzu­greifen. Es ist aber klar, dass dieses hochkom­plexe Instrument nicht auf Dauer angelegt sein kann.

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