Zehn Argumente, warum Georgien den Kandi­da­ten­status für eine Mitglied­schaft in der EU erhalten sollte – trotz der offen­sicht­lichen Rückschritte bei der Demokratisierung

Foto: Zurab Kurtsikidze

Im Rahmen unseres Pro­jek­tes „Öst­li­che Part­ner­schaft Plus“ ver­öf­fent­li­chen wir eine Reihe von Input Papers zum Thema: Per­spek­ti­ven und Wege zum EU-Kan­­­di­­­da­­­ten­sta­­tus für die Ukraine, Geor­gien und die Repu­blik Moldau.

Für Georgien ana­ly­siert Sergi Kapanadze die po­li­ti­sche Lage und for­mu­liert seine Hand­lungs­emp­feh­lun­gen an die Ent­schei­dungs­trä­gerInnen in Berlin und Brüssel, warum die EU ein geopo­li­ti­scher Akteur werden sollte und dem Trio im Juni einen EU-Kan­­­di­­­da­­­ten­sta­­tus ver­lei­hen sollte.

„Günstiger“ geopo­li­ti­scher Kontext

Russlands Aggres­si­ons­krieg gegen die Ukraine macht deutlich, dass die Ukrainer:innen für die Freiheit, die Sicherheit und die europäische Zukunft aller östlichen Nachbarn kämpfen. Die Staaten, die zwischen dem Westen und Russland liegen, laufen Gefahr, ihre Souve­rä­nität, ihre Freiheit und ihr Terri­torium zu verlieren. Der EU-Beitritts­antrag der Ukraine erfolgte in diesem sich wandelnden geopo­li­ti­schen Kontext. Die histo­rische Aufgabe für Georgien und Moldau, sich von dem Einfluss Russlands zu befreien und sich wieder als Mitglieder der europäi­schen Staaten­fa­milie zu etablieren, manifes­tierte sich in ihren Beitritts­an­trägen an die EU. Somit sind diese Anträge für das Trio Georgien-Moldau-Ukraine mehr als nur ein einfaches bürokra­ti­sches Beitritts­ver­fahren zu den europäi­schen Institutionen.

Beunru­hi­gende Entwick­lungen im Innern

Vor dem Hinter­grund des „günstigen“ geopo­li­ti­schen Kontexts waren die jüngsten Meldungen aus Georgien nicht ermutigend. Was die EU-Führer:innen und ‑Beamt:innen in Berlin und anderswo in den letzten Jahren gehört haben, lässt sich als ein ganzes Bündel beunru­hi­gender Entwick­lungen zusam­men­fassen: infor­melle Herrschafts­prak­tiken eines Oligarchen, umstrittene Wahlen, Verhaftung politi­scher Gegner,  eine anhal­tende politische Krise, ein zerris­senes politi­sches Abkommen, das 2021 von Charles Michel vermittelt worden war,  die Frage, ob Russland Georgien zur Umgehung der Sanktionen nutzt, weit verbreitete illegale Abhör­prak­tiken, Angriffe auf freie Medien, Kritik der georgi­schen Regierung an der EU, Nicht­be­achtung der Empfeh­lungen der EU zu politi­schen und insti­tu­tio­nellen Prozessen und nicht zuletzt eine Dämoni­sierung langjäh­riger Freunde Georgiens, die den Rückschritten bei der Demokra­ti­sierung jetzt kritisch gegenüberstehen.

Eine beunru­hi­gende Schlag­zeile der letzten Tage betrifft die Verhaftung des Direktors von Mtawari TV, des größten opposi­tio­nellen TV-Senders. Die Vorwürfe sind hanebüchen: Nika Gwaramia wurde zu drei Jahren Haft verur­teilt, weil er ein Fahrzeug eines Senders, den er früher geleitet hatte (Rustawi 2 TV), privat und für seine Familie genutzt hat. Rustawi 2 war unter Gwaramias Leitung regie­rungs­kri­tisch und entwi­ckelte sich zu einem Propa­gan­da­in­strument der Partei „Georgi­scher Traum“, nachdem der Besitzer und das Management 2019 gewechselt hatten. Vor einigen Monaten ist der Gründer von Formula TV, einem anderen opposi­tio­nellen Fernseh­sender, in Abwesenheit verur­teilt worden.

All dies sind keine Schlag­zeilen, die ein Land machen sollte, das nach einer EU-Mitglied­schaft strebt. Nach den drama­ti­schen geopo­li­ti­schen Verän­de­rungen in der Region hat Georgien am 3. März die Mitglied­schaft in der EU beantragt und den Frage­bogen der Europäi­schen Kommission recht­zeitig zum 12. Mai ausge­füllt. Jetzt wartet die gesamte Nation auf das Urteil der Europäi­schen Kommission und des Europäi­schen Rates im Juni 2022.

Szenarien hinsichtlich des EU-Beitritts­an­trags von Georgien

Es lassen sich mehrere Szenarien zu möglichen Reaktionen der EU auf den Beitritts­antrag Georgiens skizzieren.

Szenario 1: Georgien erhält eine europäische Perspektive, um die es bei der EU seit 2013 nachge­sucht hat. Das würde das Land aufs Gleis Richtung EU-Beitritt setzen, aller­dings ohne klare Road Map, ohne Bedin­gungen und Zeitplan.

Szenario 2: Georgien erhält eine europäische Perspektive und mit ihr eine Reihe von Anfor­de­rungen, deren erfolg­reiche Umsetzung zu einem Kandi­da­ten­status führen könnte. Diese Bedin­gungen könnten vage und langfristig oder aber konkret und zeitlich termi­niert sein. Der Europäische Rat könnte zu dem Schluss kommen, dass er sich nach einer bestimmten Zeit oder je nach den Fortschritten bei der Erfüllung der Bedin­gungen wieder einer Entscheidung über Georgiens Kandi­da­ten­status zuwendet.

Szenario 3: Georgien erhält einen Kandi­da­ten­status; aller­dings wäre der Beginn von Beitritts­ver­hand­lungen mit Kondi­tio­na­lität verbunden. Die zu erfül­lenden Anfor­de­rungen dürften sehr wahrscheinlich detail­liert und streng sein.

In Georgien herrscht die Auffassung, dass der Fall der Ukraine bei der Europäi­schen Kommission und bei den Mitglied­staaten gesondert geeprüft wird. Aufgrund der geopo­li­ti­schen Impli­ka­tionen, die die Entscheidung zur Ukraine haben wird, besteht eine gewisse Wahrschein­lichkeit, dass die Ukraine eine Sonder­be­handlung erfahren wird, was den Status, die Kondi­tio­na­lität und den Zeitrahmen anbelangt. Das wird in Tbilissi sehr wohl verstanden und akzep­tiert. Aller­dings ist Tbilissi auch fest davon überzeugt, dass die Länder des Trios im Kontext der Entscheidung über einen Kandi­da­ten­status nicht ausein­an­der­di­vi­diert werden sollten. Gleichwohl sollten nach Erlangung des Status im weiteren Verfahren eine Diffe­ren­zierung und das Prinzip „mehr für mehr“ (bzw. „weniger für weniger“) angelegt werden.

Alle politi­schen Parteien in Georgien, die Organi­sa­tionen der Zivil­ge­sell­schaft und auch Experten bevor­zugen Szenario 3, auch wenn die jüngsten Attacken gegen freie Medien und politische Wider­sacher es hier den Befür­wortern einer EU-Integration Georgiens erschweren, sich dafür einzu­setzen. Das vorlie­gende Diskus­si­ons­papier beabsichtigt genau dies: Trotz der beunru­hi­genden Rückschritte bei der Demokra­ti­sierung Argumente für die Sache Georgiens vorzulegen.

Argumente für einen Kandi­da­ten­status Georgiens

Es folgen zehn Argumente, die den schlechten Nachrichten entge­gen­stehen und aufzeigen, warum Georgien gleichwohl der Kandi­da­ten­status zuerkannt werden sollte. Anders gesagt: Es sind Argumente für das Szenario 3.

  1. Das erste und wichtigste Argument: Die Entscheidung der EU über einen Kandi­da­ten­status für Moldau, Georgien und die Ukraine muss geopo­li­ti­scher und nicht bürokra­ti­scher Natur sein. Wenn die Europäische Union sich der Aggression Russland durch das Angebot einer Mitglied­schaft für die Länder des Trios entge­gen­stellen will, dann sollte das eine geopo­li­tische Entscheidung sein. Auf ähnliche Weise hatte die EU nach dem Einmarsch Russlands in Georgien die Östliche Partner­schaft ins Leben gerufen und den drei östlichen Nachbarn Assozi­ie­rungs­ab­kommen, vertiefte und umfas­sende Freihan­dels­zonen (DCFTA) und Visabe­frei­ungen angeboten. Ihnen den Kandi­da­ten­status jetzt vorzu­ent­halten, bedeutete einen heftigen Schlag für die geopo­li­tische Glaub­wür­digkeit des Westens und der EU in Georgien und der erwei­terten Nachbarschaft.
  2. Der Kandi­da­ten­status ist keine Belohnung für die Regierung oder eine bestimmte Partei, sondern für das Land und die Menschen. Über 80 % der Georgier:innen sind für einen Weg in eine europäische Integration. Einer der Gründe, warum keine politische Partei, auch nicht der „Georgische Traum“, sich traute, offen vom europäi­schen Weg abzurücken, ist die poten­zielle Wut der europäisch ausge­rich­teten Georgier:innen. Eine starke europäische Identität war das wichtigste Instrument, das die EU hätte nutzen können, um in den letzten Jahren eine effek­tivere Kondi­tio­na­lität gegenüber dem „Georgi­schen Traum“ einzu­setzen. Das war nur selten der Fall. Jetzt ist es an der Zeit, dass die Europäische Union die Menschen in Georgien durch die Zuerkennung des Kandi­da­ten­status zu ihrem Verbün­deten machen kann (oder umgekehrt), um den „Georgi­schen Traum“ dazu zu bringen, mit den Reformen ernst zu machen.
  3. Ein Kandi­da­ten­status ist nicht gleich­be­deutend mit einer Mitglied­schaft. Viele Freunde Georgiens behaupten, dass eine Regierung, deren Politik derart undemo­kra­tisch ist, nicht mit der europäi­schen Völker­fa­milie vereinbar ist. Das mag in Bezug auf eine EU-Mitglied­schaft stimmen. Wir wissen aller­dings auch, dass ein Kandi­da­ten­status nur einen Schritt in Richtung einer Mitglied­schaft bedeutet. Letztere wird nur dann Realität werden, wenn ein langer Weg durch­schritten ist: die Eröffnung von Beitritts­ver­hand­lungen, die Eröffnung und der Abschluss von 35 Kapiteln des Beitritts­ver­trags sowie die abschlie­ßenden Beschlüsse durch die Europäische Kommission, die Mitglied­staaten und das Europäische Parlament. Dieser Prozess kann Jahre dauern und wird zweifellos umfang­reicher sein als der Zeitho­rizont für die derzeitige Regie­rungs­partei. Albanien hat den Kandi­da­ten­status 2014 erlangt, sechs Jahre später wurden die Verhand­lungen eröffnet, und das Land steht bislang keineswegs vor einer Mitglied­schaft in der EU.
  4. Der Kandi­da­ten­status muss mit strikten Bedin­gungen für die Unabhän­gigkeit der Justiz, einer Beendigung der Attacken gegen politische Opponenten, der Freilassung politi­scher Häftlinge, der Gewähr­leistung der Medien­freiheit, der Korrup­ti­ons­be­kämpfung und anderen Reformen gemäß dem Handbuch für die Kopen­ha­gener politi­schen Kriterien einher­gehen. Diese Bedin­gungen sollten mit dem Beginn von Beitritts­ver­hand­lungen verknüpft, sowie messbar und zeitlich begrenzt sein. Die EU muss diese Bedin­gungen mit dem Zeitplan für die Wahlen 2024 verbinden, damit der „Georgische Traum“ verpflichtet wird, sie umgehend umzusetzen; somit würde die Partei andern­falls eine Wahlnie­derlage riskieren. Die EU hat also jetzt echte Hebel in der Hand, und wenn Georgien den Kandi­da­ten­status erhält, können die Hebel tatsächlich wirksam werden. Wird der Kandi­da­ten­status aller­dings nicht erteilt, könnte Georgien in den postso­wje­ti­schen Abgrund zurück­wandern, und die georgische Regierung hätte freie Hand, ihre undemo­kra­ti­schen Reformen fortzu­setzen und das Land auf den Pfad von Lukaschenka zerren.
  5. Die EU sollte eine Klausel einführen, durch die der Kandi­da­ten­status ausge­setzt werden kann, falls die Reformen nicht ordnungs­gemäß und umfassend umgesetzt werden. Mit dieser Klausel könnte die EU die Kondi­tio­na­lität wirksam durch­setzen, was sie Georgien gegenüber bisher nicht unter­nommen hat. Eine mögliche Aussetzung wäre eine Drohung, die einer politi­schen Atombombe gleichkäme und wie ein Damokles­schwert der Kondi­tio­na­lität wirken würde. Die Furcht vor dem Verlust des Kandi­da­ten­status wird die georgische Führung davon abhalten, ihre undemo­kra­tische Herrschaft fortzu­führen. Das geschei­terte politische Überein­kommen, das Charles Michel vermittelt hatte, ist ein gutes Beispiel: Da der „Georgische Traum“ wusste, dass es keine Konse­quenzen geben würde, zog die Partei sich aus dem Abkommen zurück, das vor wenigen Monaten unter­zeichnet worden war, und trieb die Reformen, die es unter­nehmen sollte, nur zum Schein voran. Darüber hinaus wäre der „Georgische Traum“, falls es eine Suspen­die­rungs­klausel gibt, nicht in der Lage, den Kandi­da­ten­status als „Belohnung“ für seine „demokra­tische“ Regie­rungs­führung zu verkaufen. Das ist ein Argument, das die besorgten Freunde Georgiens häufig anführen.
  6. Georgiens prowest­liche Opposition, die Medien und die Zivil­ge­sell­schaft brauchen die Unter­stützung des Westens. Das macht es erfor­derlich, dass der Regierung eine Zwangs­jacke in Form von schwer­wie­genden demokra­ti­schen Auflagen angelegt wird. Ohne einen Kandi­da­ten­status würden diese Auflagen niemals ernst­ge­nommen werden, und die Regierung hätte keine Anreize, sich an diese zu halten. Ebenso hätten die prowest­lichen Kräfte in Georgien keine Kondi­tio­na­lität, auf die sie verweisen könnten; sie hätten dann noch weniger Macht als bereits jetzt, um die Regierung im Innern unter Druck zu setzen.
  7. Die EU riskiert, den gleichen Fehler zu begehen wie die NATO 2008, als Georgien eine Mitglied­schaft versprochen wurde, ein Membership Action Plan aber ausblieb. Wenn Georgien eine europäische Perspektive erhält, aber keinen Kandi­da­ten­status zugesprochen bekommt, werden die Paral­lelen zu 2008 nicht zu ignorieren sein. Es würde Russland ermutigen, den Einfluss auf die Entschei­dungs­träger in Tbilissi womöglich zu verstärken und neue Druck­mittel wirtschaft­licher oder militä­ri­scher Natur zu entwi­ckeln. Wenn Moskau Schwäche spürt, geht es gewöhnlich schnell und rücksichtslos vor, während die EU oft ein pfadab­hän­giges Vorgehen anstrebt. Wird Georgien ein Kandi­da­ten­status verwehrt, würde das von Moskau als ein Freifahr­schein für ein aggres­si­veres Vorgehen in den kommenden Jahren inter­pre­tiert werden.
  8. Wenn die EU Georgien keinen Kandi­da­ten­status zuspricht, werden die prorus­si­schen Kräfte sich wieder hämisch ins Zeug legen. Ihrer Botschaft, dass die EU nur die Ukrainer:innen und Georgier:innen gegen Russland kämpfen lassen will, und im Gegenzug nicht einmal einen „symbo­li­schen“ Kandi­da­ten­status gewährt, wäre schwerlich etwas entge­gen­zu­setzen. Die Desin­for­mation, das wichtigste Instrument der prorus­si­schen Kräfte in Georgien, würde mit einem starken Argument ausge­stattet: „Die EU und die NATO rüffeln Georgien nur, während Russland stark und gefährlich ist – warum also gen Westen schauen?“ Das Wieder­erstarken der prorus­si­schen Kräfte könnte wiederum von der Regierung des „Georgi­schen Traums“ ausge­nutzt werden. Die hatte sich lange bemüht, die prorus­si­schen Kräfte durch Zugeständ­nisse und Zuteilung von Macht zu befrieden. Der „Georgische Traum“ hat zur Besänf­tigung dieser Kräfte den Verkauf von landwirt­schaft­lichem Grund und Boden untersagt und die Ehe per Verfas­sungs­än­derung als Bund von Mann und Frau definiert. Die Regierung könnte weitere „nicht­eu­ro­päische“ Schritte unter­nehmen, die die bürger­lichen Freiheiten einschränkten und Musik in den Ohren des Kremls und seiner Kumpane in Georgien wären.
  9. Russland ist in Erwartung des Referendums in Südos­setien, bei dem im Juli über einen Beitritt zur Russi­schen Föderation abgestimmt wird. Dieses Referendum wird vermutlich in einem Paket mit Volks­ab­stim­mungen in Donezk, Luhansk und Cherson abgehalten werden. Falls Georgien im Juli ohne Kandi­da­ten­status dasteht, wird Russland die georgische Regierung wohl mit der drohenden Annexion von Südos­setien erpressen, um Georgien bei der Frage einer EU-Mitglied­schaft zu einem Rückzieher zu bewegen. Die Annek­tierung von georgi­schem Terri­torium durch Russland würde, selbst wenn es de facto am Status quo nichts änderte, de jure eine ernste Entwicklung darstellen. Es würde auf lange Zeit jedwede Hoffnung auf eine Wieder­her­stellung der terri­to­rialen Integrität zerschlagen. Ohne Kandi­da­ten­status und Aussicht auf eine Mitglied­schaft sowie angesichts einer unmit­telbar drohenden Annek­tierung Südos­se­tiens könnte die georgische Regierung dem Druck weiter nachgeben. Und erneut würden die kreml­freund­lichen Kräfte in Georgien aufleben und hämisch triumphieren.
  10. Wenn die Ukraine einen Kandi­da­ten­status erhält und Georgien (und Moldau) nicht, würde das Trio der drei Länder zerschlagen werden. Diese drei Länder der Östlichen Partner­schaft haben 2021 das Format des Trios geschaffen, weil sie der Auffassung sind, dass eine europäische Integration jeweils nur durch eine Region erfolgt. Alle drei Länder wissen, dass sie letztlich auch eine Integration innerhalb des Trios anstreben müssen, die dem Berliner Prozess für den Balkan ähneln würde. Wenn die drei Staaten jedoch in getrennten Körben landen, könnte dies nach hinten losgehen, da die Ukraine versuchen wird, sich von Georgien abzukoppeln; Georgien könnte sich dann auf der falschen Seite des neuen Eisernen Vorhangs wiederfinden.

Was ist mit dem Balkan?

Es ist oft zu hören, dass jede Beschleu­nigung der EU-Integration von Östlichen Partner­staaten gegenüber den Balkan­staaten „unfair“ wäre. Öster­reich und Deutschland sind zwei in einer Reihe von EU-Staaten, die dieses Argument vorbringen. Aller­dings ist es sehr wahrscheinlich, dass die Beitritts­kan­di­daten im Balkan weit vor den Östlichen Partnern der EU beitreten werden; diese Besorgnis scheint also übertrieben zu sein.

In der Tabelle unten wird gezeigt, dass für Balkan­staaten, die einen Kandi­da­ten­status erhielten, der Zeitraum bis zur Eröffnung von Beitritts­ver­hand­lungen zwischen einem (Serbien) und 15 Jahren (Nordma­ze­donien) liegt. Die Zuerkennung eines Kandi­da­ten­status für die Ukraine, Georgien und Moldau würde also diese Länder in den gleichen Erwei­te­rungstopf wie den Balkan werfen und nicht in einer günsti­geren Position münden, wie oft gesagt wird. Wenn die politische Entscheidung dahin­gehend fällt, dass dieje­nigen Balkan­staaten aufge­nommen werden, die ihre Sache am besten machen, dann könnte dies recht schnell erfolgen. Es wäre hingegen wesentlich ungerechter, wenn die Östlichen Partner auf der Warte­liste für einen Kandi­da­ten­status landen, weil es an einer politi­schen Entscheidung für eine Erwei­terung Richtung Balkan mangelt.

Darüber hinaus hat die EU konse­quent argumen­tiert, dass jeder Anwärter nach seinen Leistungen beurteilt wird. Einer 2021 vom Center of European Policy Studies (CEPS) veröf­fent­lichten Studie zufolge sind die Balkan­staaten und die Länder der Östlichen Partner­schaft „in der Summe der politi­schen, recht­lichen und wirtschafts­po­li­ti­schen Kriterien weitgehend vergleichbar“. Der Balkan liegt bei den politi­schen und recht­lichen Kriterien leicht vorn, während die osteu­ro­päi­schen Staaten bei der Handels- und Wirtschafts­po­litik etwas besser dastehen.¹ Der Bericht stellt auch dar, dass die drei osteu­ro­päi­schen Staaten näher an den besser positio­nierten Balkan­staaten sind als Bosnien-Herze­gowina und Kosovo, die hinter­her­hinken. Daher ist es nur gerecht, die Staaten der Östlichen Partner­schaft auf eine Stufe mit einigen der Balkan­staaten zu stellen. Das bedeutet aller­dings nicht, dass das Trio den Balkan im Rennen um eine EU-Mitglied­schaft in einem Sprung überholen wird.

Schluss­fol­ge­rungen

Georgien befindet sich bei seiner europäi­schen Integration an einem Schei­deweg. Russlands Aggression gegen die Ukraine hat den Integra­ti­ons­be­mü­hungen der Ukraine, Georgiens und Moldaus einen Anstoß für eine Beschleu­nigung gegeben. Von den poten­zi­ellen Szenarien ist für die demokra­tische Entwicklung jenes am günstigsten, das einen Kandi­da­ten­status beinhaltet, und zwar unter strenger Kondi­tio­na­lität in Bezug auf die Eröffnung von Beitritts­ver­hand­lungen, sobald demokra­tische Reformen umgesetzt wurden. Ungeachtet der ernst­lichen Rückschritte bei der Demokra­ti­sierung in Georgien könnte die Europäische Union dem Land einen Kandi­da­ten­status gewähren, sollte aber eine Klausel festschreiben, die den Status aussetzt, falls die Rückschritte bei der Demokra­ti­sierung anhalten.

Georgien sollte sich in Bezug auf hohe demokra­tische Standards gegenüber der EU verant­worten müssen. Die EU muss darauf drängen, dass der „Georgische Traum“ umgehend die undemo­kra­ti­schen Praktiken unter­lässt, die die Partei in den letzten Jahren unter­nommen hat. Das kann am wirksamsten erfolgen, wenn Georgien im Juni 2022 den Kandi­da­ten­status erhält. Die Wochen zwischen der Veröf­fent­li­chung der Stellung­nahme der Europäi­schen Kommission und dem Treffen des Europäi­schen Rates am 23. Juni 2022 werden entscheidend sein, um dafür zu sorgen, dass der „Georgi­scheTraum“ einige der seit langen überfäl­ligen Reformen und die Frage der politi­sierten Justiz angeht. Es geschieht oft, dass Länder in den letzten Tagen vor einer politi­schen Entscheidung doch noch das Gefor­derte liefern. Daher könnte die EU, wenn sie es geschickt anstellt, der Regierung von des „Georgi­schen Traums“ ein Maximum an Zugeständ­nissen für demokra­tische Reformen abringen.

Die Probleme bei der Demokra­ti­sierung, denen sich Georgien gegen­über­sieht, werden letztlich von den Georgier:innen überwunden werden, ganz wie 2003 und 2012, als der relative Stau bei den notwen­digen Reformen zu kollek­tivem Handeln führte. Die Georgier:innen werden das wieder tun. Ein Kandi­da­ten­status für Georgien wird die Entschlos­senheit der Georgier:innen und der demokra­ti­schen Kräfte im Land in ihrem Einsatz für ihre europäische Zukunft nur verstärken. Die vorläufige Verwehrung eines Kandi­da­ten­status hingegen könnte die Georgier:innen demoti­vieren und das Land zu einer leich­teren Beute für russische Desin­for­mation oder eine mögliche Übernahme machen.

¹ Michael Emerson, “Building a New Momentum for European Integration of the Balkan and Eastern European Associates States”, 09.03.2021, Center of European Policy Studies


Sergi Kapanadze, Georgia’s Reforms Associates (GRASS)

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