Israels Annexi­ons­pläne: Was die EU tun kann

Ryan Rodrick Beiler /​ Shutter­stock

Israels Minis­ter­prä­sident Benjamin Netanyahu hat die Annexion von Teilen des Westjor­dan­landes angekündigt. Die Unter­stützung seines Plans durch die Trump-Adminis­tration der Verei­nigten Staaten bezeichnete er als „histo­rische Gelegenheit, wie es sie seit 1948 nicht gab“. Die Annexion paläs­ti­nen­si­scher Gebiete könnte den Nahost-Konflikt neu entfachen. LibMod-Kolumnist Richard C. Schneider erörtert, welche Möglich­keiten die Europäische Union hätte, die israe­lische Regierung von ihrem Vorhaben abzubringen.

Man muss sich immer wieder verge­gen­wär­tigen, wieso die Möglich­keiten der EU und damit auch Deutsch­lands gering sind, im Konflikt zwischen Israelis und Paläs­ti­nensern zu vermitteln, oder gar die Israelis zu einer bestimmten Politik zu bewegen. 

Portrait von Richard C. Schneider

Richard C. Schneider ist Buchautor und Dokumen­tar­filmer. Er war Leiter der ARD-Studios in Rom und in Tel Aviv, und bis Ende 2022 Editor-at-Large beim BR/​ARD. Er schreibt heute als freier Korre­spondent für den SPIEGEL aus Israel und den Paläs­ti­nen­si­schen Gebieten..

Auch wenn nach wie vor viele Israelis ihre Wurzeln in Europa haben, auch wenn man sehr gern nach Europa reist, insbe­sondere nach Berlin – das tiefe Misstrauen gegenüber Europa liegt nicht nur in der Geschichte der Shoah begründet, sondern vor allem am Auftreten und Handeln der EU und ebenso Deutsch­lands. Viele Israelis halten die europäi­schen Reaktionen zum Konflikt für einseitig. Während der drei Gaza-Kriege hat Europa immer wieder zur Zurück­haltung beider Seiten aufge­rufen, ohne darauf hinzu­weisen, dass es die Hamas war, die vor allem 2014 die kriege­ri­schen Ausein­an­der­set­zungen begonnen hatte. Selten bis gar nicht äußern sich die Europäer dazu, dass die radikal-islamische Organi­sation Israel vernichten will. Die Tatsache, dass der ständige Raketen­be­schuss Südis­raels aus dem Gaza-Streifen nur selten erwähnt wird, sowohl in den Medien als auch in einer entspre­chend formu­lierten Politik, dass viele europäische NGOs BDS nah stehen oder gar Terro­rismus indirekt finan­zieren, wie Israel immer wieder erklärt, kommen als Ursachen des Misstrauens hinzu. Und es geht noch weiter: die meisten europäi­schen Regie­rungen verstehen nach Ansicht vieler Israelis die Sicher­heits­be­dürf­nisse Israels nicht oder berück­sich­tigen sie nicht genügend in ihren Bestre­bungen „Frieden“ zu schaffen und eine Zwei-Staaten-Lösung durch­zu­setzen. Last but not least: die meisten Israelis halten die Europäer für naiv, sie verstünden die Komple­xität des Konfliktes nicht und meinten, mit ein bisschen Dialog und Verstän­digung sei Frieden möglich.

Was würde eine Annexion für die Juden in Deutschland bedeuten? Zunächst einmal ein weiteres Anwachsen antise­mi­ti­scher Auswüchse. Gleich­zeitig aber wären sie in einer Zwick­mühle, denn ihre Loyalität gegenüber Israel wäre auf eine harte Probe gestellt. 

Es ist nicht wichtig, ob diese israe­lische Ansichten richtig sind oder falsch. Sie bestimmen den Blick auf Europa – und einiges davon ist ja durchaus nicht so abwegig – und insofern ist ganz klar: die EU hat wenig Hebel, um eine mögliche Annexion der besetzten Gebiete, wie sie entspre­chend des „Friedens­plans“ von US-Präsident Trump vorge­sehen ist, zu verhindern. Zumindest nicht politisch. Wirtschaft­liche Konse­quenzen sind etwas anderes, doch ihnen haftet der Geruch des „Boykotts“ an und dies ist im Zusam­menhang mit dem jüdischen Staat schon aus histo­ri­schen Gründen proble­ma­tisch. Die neue Regierung Netanyahu hat angekündigt, eine Annexion ab dem 1. Juli zu erwägen, die Zeit scheint also zu drängen.

Annexion: Niemand könnte Israel davon abhalten

Was also tun? Sollten einige europäische Staaten – wie jetzt schon angedroht – bestimmte Privi­legien für Israel oder bestimmte Formen der wirtschaft­lichen Zusam­men­arbeit aufkün­digen (was nur eine schöne Verklau­su­lierung von Boykott-Maßnahmen wäre). Forschungs­pro­jekte wie Horizon 2020 könnten beeendet werden. Das wäre schmerzhaft, würde aber nur dann wirklich „Wirkung“ entfalten, wenn die Regierung Netanyahu parallel sich mit weiteren Problemen für den Fall einer Annexion herum­schlagen müsste, etwa das Ende des Friedens­ver­trages mit Jordanien, das Ende der gar nicht mehr so heimlichen Zusam­men­arbeit mit Saudi-Arabien zum Beispiel, oder auch eine neue, dritte Intifada und erneute Selbst­mord­at­tentate oder gar Raketen aus Gaza.

Doch wer all dies bis zum Ende durch­de­kli­niert, muss ernüchtert feststellen, dass selbst dann Israel sich immer noch entscheiden könnte, die Annexion zumindest teilweise durch­zu­ziehen. Zumal Jordanien und Saudi Arabien an den Bezie­hungen mit Israel viel gelegen ist. Sollte König Abdullah von Jordanien den Friedens­vertrag zerreißen, so hätte das für ihn mögli­cher­weise schlimmere Folgen als für Israel, da er auf die militä­rische und geheim­dienst­liche Zusam­men­arbeit mit Jerusalem angewiesen ist, um seinen Staat vor islamis­ti­schem Extre­mismus zu bewahren. Und seine Armee wäre absolut nicht in der Lage, einen Krieg mit Israel loszu­treten. Riad wird vielleicht verbal zum großen Schlag ausholen, doch am Ende brauchen die Saudis und die Israelis einander im Kampf gegen ihren gemein­samen Feind: Iran. Das dürfte Mohammad Bin Salman wichtiger sein als Palästina. Und selbst wenn es neue paläs­ti­nen­sische Terror­an­griffe oder gar einen vierten Waffengang mit Gaza geben sollte – alles ist schon mal dagewesen, Israel kann damit umgehen, so mag die Regierung Netanyahu eventuell glauben.

Dennoch ist noch lange nicht klar, ob Netanyahu den Schritt wagt und eine Annexion vollzieht. Die erste Frage wäre: Wozu? De facto sind die Gebiete längst annek­tiert, auch wenn das de jure so nicht formu­liert ist. Eine Zwei-Staaten-Lösung wird es nicht mehr geben, daran ist nicht nur die Siedlungs­po­litik Israels schuld, sondern auch die Zerstrit­tenheit und Unfähigkeit der paläs­ti­nen­si­schen Politiker, die – wie einst schon der israe­lische Außen­mi­nister Abba Eben über Yassir Arafat sagte – „keine Gelegenheit auslassen, um eine Gelegenheit auszulassen“.

„Der Hass auf Europa würde sich ins Unermess­liche steigern“

Der Ist-Zustand garan­tiert Ruhe. Das Management des Konflikts, der niemanden mehr wirklich inter­es­siert, funktio­niert. Zumindest aus Sicht der Israelis. Wozu also Staub aufwirbeln und sich den Ärger ins Haus holen, wenn man mit der viel größeren Gefahr – Hizbollah und Iran – umgehen muss und sich obendrein auch noch mit dem Corona­virus und einer deswegen gebeu­telten Wirtschaft herumschlägt?

Außerdem könnte es durchaus sein, dass Washington nicht wirklich mitspielen wird bei der Annexion. Schon kurz nach der Verkündung des Friedens­plans hat die Trump-Adminis­tration Netanyahu einge­bremst, als er das Jordantal sofort annek­tieren wollte.

Und schließlich gibt es da auch noch Benny Gantz und seine Blau-Weiß-Leute in der neuen Koalition, die zwar nichts gegen eine Annexion hätten, aber auf keinen Fall ein Ende des Friedens­ver­trages mit Jordanien und eventuell sogar mit Ägypten riskieren wollen. Zumindest sagen sie das, um eine Hintertür zu haben gegen die endgültige Einver­leibung des Gebiets. Denn das würde bedeuten, dass eine Annexion ja nicht zustande käme, da Jordanien den Frieden aufkün­digen will. Insofern hätte Blau-Weiß einer Annexion zugestimmt, aber leider geht’s halt nicht wegen der Araber... Wie konse­quent Blau-Weiß aber im Zweifelsfall wäre – das muss man angesichts der dubiosen Entscheidung von Benny Gantz, entgegen allen Verspre­chungen an seine Wähler doch noch mit Netanyahu in einer Koalition zu sitzen, erst noch abwarten. Umfallen ist das neue Marken­zeichen dieser politi­schen Bewegung geworden, Brechen von Versprechen und politi­schen Positionen.

Doch was würde geschehen, wenn Israel das Westjor­danland oder wenigstens Teile davon annek­tieren würde, weil es eine „histo­rische Gelegenheit für Israel“ sei, wie er immer wieder betont?

Die Reaktionen der paläs­ti­nen­si­schen Seite und vor allem auch der islamis­ti­schen Extre­misten im gesamten Nahen Osten und des Iran sind klar: der Hass auf die USA, aber auch auf die Europäer wird sich ins Unermess­liche steigern – falls dies überhaupt noch möglich ist. Auf die Europäer deshalb, weil sie – in den Augen dieser Extre­misten – nicht genug getan haben, um Israel daran zu hindern, weil sie sozusagen heimliche „Komplizen“ der Annexion waren, da sie dem jüdischen Staat immer alles erlaubten. Was diese Inter­pre­tation gerne unter­schlägt, ist die Unmög­lichkeit einem Staat etwas zu erlauben oder auch nicht. Man kann Maßnahmen einsetzen, Boykotte initi­ieren, aber dass Letztere kaum etwas bewirken, sieht man ja am Beispiel Irans, das sich kaum beein­drucken lässt von den Sanktionen der USA, selbst wenn es der Bevöl­kerung deswegen schlechter und schlechter geht. Dennoch, im Falle einer Annexion wäre der Westen im Nahen Osten endgültig diskre­di­tiert. Russland oder China könnten aller­dings als „faire Broker“ nicht einspringen, da ihnen wiederum Israel nicht vertraut. Mit anderen Worten: Der Nahe Osten wäre nur noch ein Spielball von Inter­essen, aber es wäre niemand mehr da, der vermitteln könnte.

Juden in Deutschland sind zerrissen

Und was würde eine Annexion für die Juden in Deutschland bedeuten? Zunächst einmal mit Sicherheit ein weiteres Anwachsen antise­mi­ti­scher Auswüchse, vor allem von Links und von musli­mi­scher Seite. Gleich­zeitig aber wären die deutschen Juden in einer Zwick­mühle. Ihre Loyalität gegenüber Israel wäre auf eine harte Probe gestellt. Gerade angesichts des wachsenden Antise­mi­tismus in Deutschland und im Rest Europas ist Israel als „sicherer Hafen“ zumindest theore­tisch von wachsender Bedeutung. Doch es ist ja keine Frage, dass ebenso wie in den USA auch hierzu­lande viele Juden die Politik Netan­yahus nicht gutheißen, selbst wenn sie das öffentlich nicht formu­lieren würden, um sozusagen den Antise­miten keine „Munition zu liefern“. Für Juden ist die Wahrung von Libera­lismus und Demokratie etwas funda­mental Wichtiges. Ohne sie könnten sie nicht in Frieden und Sicherheit leben. Das wissen sie nur zu gut. Und so ist es kein Wunder, dass etwa in den USA die jüdische Gemein­schaft zu 70% demokra­tisch wählt, dass man sich für andere Minder­heiten einsetzt und gegen Donald Trump kämpft, der – laut Netanyahu – doch der beste Präsident sei, den es je für Israel gegeben habe. Doch das inter­es­siert die ameri­ka­ni­schen Juden in der Mehrheit nicht. Sie können sich schon lange nicht mehr mit den antide­mo­kra­ti­schen, natio­na­lis­ti­schen und tribalen Entwick­lungen im jüdischen Staat identi­fi­zieren. Ihr Judentum definieren sie diametral anders.

Deutsche Juden mögen da konser­va­tiver sein in ihrer Gesamtheit. Das hat sozio­lo­gische Gründe, das hat etwas mit der Vergan­genheit Deutsch­lands zu tun, mit der Tatsache, dass man sich in Deutschland nicht so zuhause und sicher fühlt, wie etwa die US-Juden in Amerika. Aber auch sie bekennen sich zu Libera­lismus und Demokratie und erkennen, dass sich Israel verändert, nicht nur im Umgang mit den Paläs­ti­nensern, sondern auch innen­po­li­tisch, mit dem wachsenden Rechtsruck hin zu einer „illibe­ralen Demokratie“. Könnten die Juden in Deutschland dann Maßnahmen gegen Israel von Seiten der Bundes­re­gierung gut finden, sie gar begrüßen? Vielleicht privat. In Funktio­närs­kreisen und in der Öffent­lichkeit mit Sicherheit nicht. Denn die Diaspora in Deutschland ist, wie der israe­lische Schrift­steller A.B. Yehoshua das einst formu­lierte, eine „neuro­tische Lösung“: Man ist in einem Staat „zuhause“, dem man tief innen nicht wirklich vertraut, weil, wie man meint, die Mehrheits­ge­sell­schaft denje­nigen Staats­bürgern gegenüber, die nicht ethnisch Deutsche sind, immer noch mit Vorbe­halten gegen­über­tritt. Und deswegen kann man nicht so auftreten, wie man das vielleicht möchte, man „versteckt“ sich, in vielerlei Hinsicht. Ein jüdischer Deutscher zu sein, ist einfach nicht dasselbe wie ein jüdischer US-Ameri­kaner zu sein, ja nicht einmal dasselbe wie ein franzö­si­scher oder briti­scher Jude. Und solange das so bleibt, wird das deutsche Judentum zumindest nach außen seine unbedingte Loyalität gegenüber Israel aufrecht erhalten, selbst wenn man hinter verschlos­senen Türen längst über das Vorgehen Netan­yahus verzweifelt den Kopf schüttelt.

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