Israel, die NSO und das ethische Dilemma

Foto: Shutter­stock, mundissima

Die Spiona­ge­software „Pegasus“, die von Unrechts­re­gimen in aller Welt gegen Opposi­tio­nelle, Journa­listen und anscheinend auch gegen Politiker demokra­ti­scher Verbün­deter einge­setzt wurde, unterlag der israe­li­schen Rüstungs­export­kon­trolle. Dass die auch von harten realpo­li­ti­schen Inter­essen geleitete Entschei­dungen trifft, ist unver­meidlich. Wie der Skandal mit dem politi­schen Weltver­ständnis des abgewählten Premier Netanjahu zusam­men­hängt, und warum er aufge­ar­beitet werden muss, analy­siert Richard C. Schneider.

Es ist unnötig, hier an dieser Stelle noch einmal den ganzen Skandal um die Abhör-Software der israe­li­schen Cyber­firma NSO darzu­stellen. Ein inter­na­tio­nales Medien­kon­sortium hat lange recher­chiert und die Ergeb­nisse nun weltweit veröf­fent­licht. Es ist, keine Frage, ein riesiger Skandal, eine Katastrophe für Journa­listen, Menschen­rechts­ak­ti­visten und politische Gegner autokra­ti­scher oder totali­tärer Regimes.

In der Bericht­erstattung taucht unter­schwellig so manches mal das bekannte Ressen­timent gegen Israel mit auf, gegen den jüdischen Staat, der spätestens 2001 bei der umstrit­tenen Anti-Rassismus Tagung der UN im südafri­ka­ni­schen Durban zum Paria unter den Staaten, zum „Juden“ unter den Staaten erklärt wurde, zum eigentlich und einzig „Bösem“, zum Staat, der angeblich größere Verbrechen begeht als etwa die Saudis, Iran, China, Russland oder Syrien, um nur einige zu nennen.

Die negative Bericht­erstattung ist häufig aber auch gepaart mit einem gewissen Neid, dass Israel techno­lo­gisch überhaupt in der Lage ist, solche Software herzu­stellen. Ein Staat wie Deutschland etwa kann von solchem Know-How nur träumen. Es hat die Fähigkeit nicht. Aber: es hat auch nicht die Notwen­digkeit. Zumindest nicht in derselben Dring­lichkeit wie Israel.

Techno­lo­gie­vor­sprung als Antwort auf existen­tielle Bedrohung

Egal, wie man zu Israel stehen mag – und selbst­ver­ständlich ist die NSO-Affäre ein schreck­licher Vorgang – der jüdische Staat hat gute Gründe seit Jahrzehnten in seine techno­lo­gische Überle­genheit zu inves­tieren. Seit seiner Gründung ist Israels Existenz bedroht. Selbst wenn das Land heute in einem konven­tio­nellen Krieg mit zwei Armeen wohl nicht mehr besiegt werden kann, wie verletzlich es dennoch ist, konnte man erst im vergan­genen Mai wieder sehen, in der vierten Runde der Gaza-Kriege seit 2008. Natürlich ist Israel „stärker“ als die Hamas. Aber die Raketen­salven, die die radikal-islamische Organi­sation auf den Süden Israels und auch wiederholt auf Tel Aviv abgefeuerte, waren in der Lage, das Land lahm zu legen, die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen und sie machten wieder einmal klar, was geschehen könnte, wenn die wesentlich besser bewaffnete schii­tische Hizbollah im Libanon ihre rund 140 000 Raketen abfeuern würde, ganz zu schweigen, was ein nuklearer Iran für Israel bedeuten könnte.

Im Zeitalter der asymme­tri­schen Kriege und des Terrors ist eine Armee, und sei sie noch so hervor­ragend, nur bedingt ein Sicher­heits­garant. Selbst wenn Israel die stärkste Armee im Nahen Osten besitzt, die Gefahr der Vernichtung oder zumindest der massiven Zerstörung ist keineswegs gebannt. Und der Terror gegen Israel hört nie auf, wer im Lande lebt, erfährt, dass beinahe täglich Terror­at­tentate verhindert werden, nicht zuletzt aufgrund eines sehr gut entwi­ckeltem Infor­ma­ti­ons­systems der israe­li­schen Geheim­dienste, zu dem natürlich auch modernste Techno­logie gehört.

Realpo­litik im ethischen Konflikt

Genau hier setzt die Entwicklung von Abhör- und Überprü­fungs­software einer Firma wie NSO an. Israel ist darauf angewiesen zu wissen, was in Damaskus, in Teheran, in Beirut, in Ramallah, in Gaza und sonst wo geschieht. Im 21. Jahrhundert geschieht das nicht mehr à la John le Carré, sondern mittels Spyware.

Und dann gibt es geopo­li­tische Inter­essen und Strategien. Ja, die einzige Demokratie im Nahen Osten sollte Menschen­rechte, Libera­lismus und demokra­tische Spiel­regeln beher­zigen und hochhalten, keine Frage. Doch wenn es zunächst einmal um das reine Überleben, um die Sicherheit des Staates geht, dann sucht man sich seine Verbün­deten nicht nach Geschmack und Gefühl aus, sondern nach gemein­samen Inter­essen. Die Saudis? Ein Unrechts­staat. Aber im Kampf gegen den Iran ein Verbün­deter. Ruanda? Wahrlich auch keine liberale Demokratie, aber ein Staat, der wohl bereit sein könnte, Zehntau­sende schwarz­afri­ka­nische, illegale Flücht­linge aus Israel aufzu­nehmen. Ungarn? Eine „illiberale Demokratie“, wie Minis­ter­prä­sident Viktor Orbán sein Land ja selbst nennt. Aber ein „Freund“, wenn es darum geht, Beschlüsse in der EU gegen Israel zu verhindern. Aserbai­dschan? Hat eine Grenze mit dem Iran und angeblich befinden sich dort israe­lische Militär­posten für den Fall der Fälle. Sie alle – und viele mehr – haben die israe­lische Spyware gekauft und erhalten.

Diese Art von Politik nennt man „Realpo­litik“. Dass sie so keinerlei moralische Regeln hat, sollte niemanden verwundern. Auch die Bundes­re­publik, die nicht müde wird, Israel inzwi­schen für so gut wie jede moralische „Verfehlung“ zu kriti­sieren, hält sich nicht an Standards, die sie von anderen erwartet. Wieso eilte als erster Europäer ausge­rechnet ein deutscher Minister nach der Unter­zeichnung des Nuklear-Abkommens mit dem Iran sofort nach Teheran, um mit dem Regime Geschäfte abzuschließen? Die Verfolgung politisch anders Denkender ging ja weiter, die Unter­stützung von Terror weltweit hatte nicht aufgehört. Wieso macht Deutschland Geschäfte mit China, mit den Russen? Ja, man spricht dann bei Staats­be­suchen kurz die Menschen­rechts­fragen an, aber dann kommt man schnell zum Business. Und von Nordstream 2 braucht man gar nicht erst anzufangen. Wer also im Glashaus sitzt...

Und doch ist der NSO-Skandal ein Armuts­zeugnis für Israel.

Denn er ist das Ergebnis einer populis­ti­schen Politik und Propa­ganda, die der frühere Premier Benjamin Netanyahu die letzten elf Jahre konse­quent betrieben hatte. Netanyahu, der selbst populis­tische Züge an sich hat, der in den letzten Jahren autokra­tische Anwand­lungen entwi­ckelte, ist ein überzeugter Anti-Liberaler. Er hält den westlichen Libera­lismus für reali­täts­fremd, für schwach, für unfähig, sich in einer bedroh­lichen, nicht-demokra­ti­schen Umgebung zu vertei­digen und zu schützen. Libera­lismus? Das ist nur etwas für Schön­geister in Staaten und Städten, die nicht von der Auslö­schung bedroht sind. Israel kann sich das nicht leisten, davon ist Netanyahu immer schon überzeugt gewesen. Und so entwi­ckelte er sein Weltbild und seine Politik, die man natürlich befragen muss. Wird sie dem Staat Israel langfristig die Sicherheit garan­tieren, die nötig ist, um zu überleben? Das wird die Zukunft zeigen müssen.

Bibi’s Export­po­litik

Doch es war Netanyahu (und seine Vorstellung von der Welt), der den Verkauf der NSO-Spyware in autokra­tische Staaten unter­stützte und förderte. Ja, oftmals beriefen sie sich bei der Cyber­firma auf ihn, denn so manches Mal wollte die NSO bestimmte Staaten nicht beliefern oder aber sie hatte die Zusam­men­arbeit einge­stellt, beispiels­weise mit den Saudis, nachdem der Journalist Jamal Khashoggi ermordet worden und wahrscheinlich mit der NSO-Software ausspio­niert war, was die israe­lische Firma aber lautstark demen­tierte. Dann kam Netan­yahus Bitte, den Saudis doch zu liefern, und schon war die NSO wieder im Geschäft mit Riad.

Der Verkauf solch sensibler Ware ins Ausland muss vom israe­li­schen Vertei­di­gungs­mi­nis­terium genehmigt werden. Israel möchte sein Know-How nicht allen preis­geben, bestimmte Techno­logien, die die israe­lische Armee in ihrem Besitz hat, sind geheim und werden natürlich an niemandem weiter­ge­geben werden. Doch Netanyahu versuchte sich mit diesem strate­gi­schen Vorteil der High-Tech-Überle­genheit, Allianzen zu erkaufen. Ob seine Strategie klug oder gar richtig war, ist eine Sache, die andere ist die wichtige Frage nach den ethischen Werten eines politi­schen Systems.

Was darf ein Staat tun, um sich zu schützen? Wie weit darf er gehen? Der Reflex, Netanyahu zu verur­teilen, weil er kein Sympa­thie­träger ist, weil er wie ein Demagoge redet, weil er zynisch ist, weil er lügt, dieser Reflex greift zu kurz. Denn auch der anstän­digste Mensch der Welt müsste in der Position eines Staats­manns, der die Sicherheit seines Landes gewähr­leisten muss, Entschei­dungen treffen, die vom morali­schen Stand­punkt aus fragwürdig sein könnten. Hat nicht die Ikone der deutschen Liberalen, Barack Obama, einen brutalen Drohnen­krieg in Afgha­nistan geführt? Und hat er – entgegen seiner Verspre­chungen – Guantanamo nicht weiter „in Betrieb“ gelassen?

Die nötige Aufarbeitung

Mit diesen Fragen soll die Politik Netan­yahus, der bis vor einem Monat an der Macht war, nicht gerecht­fertigt werden, keineswegs. Und auch die NSO und ähnliche Firmen können sich ihrer Verant­wortung nicht entziehen, nur weil sie von ihrer Regierung ermuntert oder gar aufge­fordert wurden, ihre Ware an brutale Poten­taten und Nicht­de­mo­kraten zu liefern. Aber man darf natürlich nicht vergessen, dass der Einsatz der Spyware gegen politische Gegner, gegen Journa­listen und andere Unbequeme in erster Linie von den jewei­ligen Regie­rungen zu verant­worten ist, und nicht nur von Israel.

Dennoch muss sich Israel Fragen gefallen lassen. Muss das Land sich selbst Fragen stellen, ob und wie es in Zukunft agieren will, kann und darf. Die Zusam­men­arbeit mit Unrecht­staaten ist fragwürdig und bleibt für eine Demokratie ein Problem, natürlich. Der moralische Kompass im Land funktio­niert nicht mehr wirklich, dafür gibt es viele Gründe. Doch wenn es um das eigene Überleben, die eigene Sicherheit und die Abwehr von Angriffen und Terror geht, dann ist jeder Mensch und jeder Staat bereit wohl alles zu tun, um sich zu schützen. Und in diesem Augen­blick begibt man sich, gewollt oder ungewollt, in eine kompli­zierte Grauzone.

Im besten Fall wird der Staat sein Handeln aufar­beiten, überprüfen, eventuell korri­gieren. Die neue israe­lische Regierung unter Premier Naftali Bennett hat versprochen, genau das zu tun. Ob danach alles „besser“ wird? Man darf es bezweifeln. Der Zweck heiligt die Mittel, werden sich israe­lische Politiker wohl auch weiterhin sagen (und nicht nur sie). Ein wirkliches Umdenken kommt wohl erst dann, wenn der ganz große Frieden im Nahen Osten ausge­brochen ist. Doch das wird bekanntlich wohl noch eine ganze Weile dauern.

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