Wie der Mord an einer Journa­listin Nordirland aufwühlt

Inter­na­tional Journalism Festival from Perugia, Italia [CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)]

Nordir­land­kon­flikt reloaded: Seit im April Lyra McKee erschossen wurde, rätselt das Land über die Rolle der „New IRA“. Die politi­schen Rivalen hingegen scheint der Tod der Journa­listin zusammenzuführen.

Lyra McKee nannte sich und ihre Generation „ceasefire babies“, „Kinder der Waffenruhe“, die in Nordirland im Frieden aufge­wachsen waren, nachdem das Karfrei­tags­ab­kommen 1998 unter­zeichnet worden war. Doch im April wurde die 29-jährige Journa­listin am Rande von Ausschrei­tungen in der nordiri­schen Stadt Derry erschossen. Ihr Tod zeigt, dass der Konflikt in Nordirland nicht vorbei ist. Im Gegenteil: Er hat Nachwir­kungen, die bis heute reichen. „Wir waren die Generation des Karfrei­tags­ab­kommens, bestimmt dafür, nie den Schrecken des Krieges mitzu­er­leben, sondern die Früchte des Friedens zu ernten. Nur diese Früchte scheinen uns nie erreicht zu haben“, schrieb McKee in einem Text über Selbst­morde in Nordirland. 

Portrait von Julia Smirnova

Julia Smirnova ist freie Journa­listin und Studentin am King’s College London. 

Die parami­li­tä­rische Gruppe „New IRA“ übernahm die Verant­wortung für den Mord an der Journa­listin. Sie gehört zu den sogenannten „Dissi­denten“ unter den irischen Republi­kanern, die das Karfrei­tags­ab­kommen ablehnen und mit Gewalt gegen die briti­schen Behörden und für die Wieder­ver­ei­nigung Irlands kämpfen. Und obwohl sich die „New IRA“ entschul­digte und von einem „tragi­schen Versehen“ sprach, plant sie nicht, ihre Aktivi­täten einzu­stellen. Dass Gruppie­rungen wie die „New IRA“ immer noch bestehen und immer wieder Anschläge verüben, hat zum einem mit dem ideolo­gi­schen Erbe des Konflikts zu tun. Die Situation wird durch das politische Vakuum in Nordirland erschwert, wo es seit mehr als zwei Jahren keine Regio­nal­re­gierung gibt, weil sich die protes­tan­tische Democratic Unionist Party (DUP) und die katho­lisch-republi­ka­nische Partei Sinn Féin nicht einigen können. Und auch wirtschaft­liche und soziale Faktoren tragen dazu bei, dass sich manche junge Menschen, die eigentlich im Frieden groß geworden sind, radikalen Gruppen anschließen.

„Wir sind in einer Gesell­schaft aufge­wachsen, die ein extremes Trauma, Armut, viel Diskri­mi­nierung und Ungleichheit erlebt hat“, sagt Sinead Quinn, eine Freundin von McKee aus Derry. „Nach der Waffenruhe und während des Friedens­pro­zesses wurden hier zwei Worte wiederholt: Frieden und Wohlstand. Und der Frieden kam, auch wenn er manchmal bedroht wurde. Aber der Wohlstand kam nie und das ist ein Teil des Problems.“

Lieber Arbeits­plätze als Friedenssymbole

Tatsächlich sind es ärmere Viertel wie Creggan und Rosemount in Derry, in denen die „New IRA“ und ihr politi­scher Flügel, die Partei Saoradh, die meisten Anhänger haben. Quinn macht die Republi­kaner der alten Generation dafür verant­wortlich und sagt, sie manipu­lierten junge Menschen ohne Ausbildung und Arbeits­per­spek­tiven. Und sie richtet Vorwürfe auch an die Politiker in Nordirland: „Sie haben diese Menschen allein gelassen.“ Man brauche in Derry keine Symbole des Friedens wie die Friedens­brücke, die den katho­li­schen und den protes­tan­ti­schen Teil der Stadt mitein­ander verbindet, sondern Arbeits­plätze und Schulen, findet Quinn.

Eine ähnliche Botschaft hörten die Politiker in der Kathe­drale von Belfast auf der Beerdigung von McKee vom katho­li­schen Priester Martin Magill. Zu der Beerdigung reisten die britische Premier­mi­nis­terin Theresa May und der irische Premier­mi­nister Leo Varadkar an. Die Vorsit­zende der DUP, Arlene Foster, und die Chefin von Sinn Féin, Mary Lou McDonald, saßen neben­ein­ander. „Warum musste eine 29-jährige Frau sterben, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatte, damit wir an diesem Punkt ankommen?“, sagte Magill über die traurige Tatsache, dass die politi­schen Rivalen erst jetzt wieder mitein­ander sprechen. Es folgte langer Applaus.

Vor Kurzem haben die DUP und Sinn Féin die Gespräche über eine Regie­rungs­bildung wieder­auf­ge­nommen. Die Macht­teilung zwischen den beiden Parteien ist im Karfrei­tags­ab­kommen festgelegt. Die Einheits­re­gierung zerfiel im Januar 2017. Seitdem sind die Gesprächs­ver­suche unter anderen an der Frage des Status der gälischen Sprache und der Ehe für alle gescheitert, die in Nordirland nicht erlaubt ist. Womöglich wird der Mord an Lyra McKee, die selbst lesbisch war und sich für LGBT-Rechte einsetzte, zu einem Durch­bruch in den Verhand­lungen führen.

„Denun­zi­anten werden exekutiert“

Unweit des Ortes, an dem die Journa­listin umgebracht wurde, versprühten Unbekannte vor Kurzem Graffitis. Sie warnten die Einwohner von Creggan davor , mit der Polizei zusam­men­zu­ar­beiten. „Denun­zi­anten werden erschossen“, steht etwa auf einem Straßen­schild, unter­zeichnet mit „Die IRA“, daneben ein Bild einer Ratte im Faden­kreuz einer Waffe. „Die IRA wird hier bleiben. Denun­zi­anten werden exeku­tiert“, steht auf einer Hauswand.

Die Bewohner dürften diese Drohungen ernst nehmen. Denn die „New IRA“ hat viel Macht im Viertel. In Creggan wollten viele Einwohner nur ungerne mit Journa­listen über die Gruppierung reden. Sie erzählen, dass im Viertel immer wieder Menschen in die Beine geschossen wurde, die im Verdacht standen, Drogen zu verkaufen. So hat sich die „New IRA“ als eine inoffi­zielle Miliz etabliert, die vorgibt, die Einwohner vor Drogen zu schützen.

Aller­dings will die Mehrheit der Menschen in Derry nicht in die alten Zeiten von Gewalt zurück. „Das muss aufhören. Die Menschen in dieser Stadt haben Jahrzehnte lang Gewalt gesehen“, sagt etwa Paul Doherty. Sein Vater wurde am „blutigen Sonntag“, am 30. Januar 1972, von den briti­schen Soldaten umgebracht. „Diese Menschen glauben, dass sie für die irische Freiheit kämpfen. Doch die Wut in der Stadt hat ihnen klar gezeigt, dass sich so etwas nie wieder­holen darf.“

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