Nach der Wahl ist vor dem Brexit

Kuhlmann /​MSC [CC BY 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/deed.en)]

Die Euro­pa­wahl hat gezeigt, wie pola­ri­siert Groß­bri­tan­nien ist: Der Erfolg der Brexit-Partei stärkt die Position von Boris Johnson. Dabei haben rund 40 Prozent der Wähler für Parteien gestimmt, die sich für den Verbleib in der EU aussprechen.

Eigent­lich hätte dieser Urnengang in Groß­bri­tan­nien nicht statt­finden sollen. Zum Zeitpunkt der Euro­pa­wahl hätte das Verei­nigte König­reich die Euro­päi­sche Union eigent­lich schon verlassen haben sollen. Doch weil die Verhand­lungs­zeit­raum bis zum 31. Oktober verlän­gert wurde, musste Groß­bri­tan­nien an der Wahl teil­nehmen. Und auch wenn niemand weiß, wie lange britische Euro­pa­ab­ge­ord­nete überhaupt im EU-Parlament bleiben werden, wurde die Abstim­mung zu einem Seis­mo­grafen, an dem man die poli­ti­schen Erschüt­te­rungen des Brexit ablesen konnte. Das Ergebnis macht die ohnehin vertrackte Lage nicht einfacher. 

Portrait von Julia Smirnova

Julia Smirnova ist freie Jour­na­listin und Studentin am King’s College London. 

Als Gewinner der Euro­pa­wahl kann sich der Rechts­po­pu­list Nigel Farage feiern. Seine Brexit-Partei, die erst in diesem Januar gegründet wurde, konnte aus dem Stegreif 32 Prozent der Stimmen holen. Sie wird 29 Abge­ord­nete ins EU-Parlament schicken. Farage fordert einen sofor­tigen Ausstieg aus der EU, einen „klaren Bruch“, im Zweifel ohne einen Deal. Schon vor fünf Jahren hatte er die Euro­pa­wahl gewonnen, damals als Vorsit­zender der recht­po­pu­lis­ti­schen Partei UKIP, die 2014 mit 27 Prozent der Stimmen stärkste Kraft geworden war. Ausge­rechnet der Aufstieg von UKIP hatte den damaligen Premier­mi­nister David Cameron dazu gedrängt, das Brexit-Refe­rendum anzu­kün­digen. Die heutige Popu­la­rität von Farage zeigt, dass die euro­skep­ti­sche Stim­mungen auch nach zwei Jahren mühsamer Brexit-Verhand­lungen nicht nach­ge­lassen haben.

Dennoch: Ausge­rechnet die Libe­ral­de­mo­kraten gehen als die zweit­stärkste Kraft aus dieser Euro­pa­wahl hervor, eine Partei, die sich ganz klar gegen den Brexit posi­tio­niert hat. Und auf Platz vier landeten die ebenfalls deutlich pro-euro­päi­schen Grünen mit zwölf Prozent. Rechnet man die Stimmen von allen Parteien zusammen, die den Brexit ablehnen – die Libe­ral­de­mo­kraten, die Grünen, Change UK, die Scottish National Party SNP und die wali­si­sche Partei Plaid Cymru – kommt man auf 40 Prozent der Wähler, die sich für den Verbleib in der EU ausge­spro­chen haben. Das ist etwas mehr als die Zahl der Menschen, die für die Parteien eines harten Ausstiegs gestimmt haben – die Brexit-Partei und der UKIP haben zusammen 35 Prozent bekommen.

Die Tories und Labour mussten herbe Nieder­lagen einstecken

Insgesamt zeigen diese Ergeb­nisse, dass Groß­bri­tan­nien weiterhin tief gespalten ist. Zwischen Anhängern eines harten Brexits und eines zweiten Refe­ren­dums liegen Welten und kein Kompro­miss ist hier in Sicht. Die Euro­pa­wahl hat diese Pola­ri­sie­rung noch deut­li­cher gemacht. Die beiden großen Parteien – die Tories und Labour – die in der Brexit-Frage gespalten sind, mussten herbe Nieder­lagen einste­cken. Die Konser­va­tive Partei stürzte auf neun Prozent. Das ist das schlech­teste Ergebnis bei einer landes­weiten Abstim­mung in der Geschichte der Partei. Auch Labour kam mit 14 Prozent der Stimmen lediglich auf Platz drei . Sogar im Wahlkreis des Partei­vor­sit­zenden Jeremy Corbyn in Nord­london unterlag die Partei den Liberaldemokraten.

Die beiden Parteien wurden dafür abge­straft, dass sie bis jetzt keine Lösung in der Brexit-Frage gefunden haben. Nachdem die Verhand­lungs­frist bis Ende Oktober verlän­gert wurde, versuchten Labour und die Tories über einen Kompro­miss zu verhan­deln. Doch die Gespräche wurden sehr schnell abge­bro­chen.  Premier­mi­nis­terin Theresa May ist an der Aufgabe geschei­tert, ein Austritts­ab­kommen durchs Parlament zu bringen. Am 7. Juni wird sie deshalb als Partei­vor­sit­zende zurück­treten. Das Rennen um ihr Amt ist bereits eröffnet und die Ergeb­nisse der Euro­pa­wahl beein­flussen die Stimmung.

Der Erfolg der Brexit-Partei bringt Wind in die Segel der harten Brexi­teers – des ehema­ligen Außen­mi­nis­ters Boris Johnson, des Ex-Brexit-Ministers Dominic Raab sowie der ehema­ligen Chefin des Arbeits­mi­nis­te­riums Esther McVey. Johnson hat bereits in seiner Kolumne in der Zeitung „Telegraph“ gefordert, kein verant­wor­tungs­voller Politiker solle einen unge­re­gelten Austritt ausschließen. Raab, der seine Kandi­datur mit einem Gast­bei­trag in der „Mail on Sunday“ ankün­digte, wollte einen Ausstieg ohne Deal ebenfalls nicht von Tisch nehmen. Solle er zum Premier­mi­nister werde, werde seine Regierung „durch die Notwen­dig­keit vereint“, spätes­tens am 31. Oktober die EU zu verlassen, auch wenn sich die Verhand­lungs­po­si­tion der EU nicht ändern werde. Er behaup­tete außerdem, man könne die „kurz­fris­tigen Risiken“ eines unge­re­gelten Ausstiegs managen. Auch McVey sagte, der Brexit solle am 31. Oktober statt­finden – egal ob mit einem Abkommen oder ohne. „Das beste was wir tun können, ist uns auf einen No Deal vorzu­be­reiten“, sagte sie im Studio des Fern­seh­sen­ders SkyNews.

Unter den Mitglie­dern der Tories genießt Boris Johnson die größte Popularität

Doch gleich­zeitig gibt es eine Gegen­be­we­gung in der Konser­va­tiven Partei, die einen chao­ti­schen Austritt und insbe­son­dere die Wahl von Boris Johnson zum Partei­vor­sit­zenden und Premier­mi­nister verhin­dern will. Der amtie­rende Außen­mi­nister und Kandidat für den Partei­vor­sitz, Jeremy Hunt, erklärte, es sei „poli­ti­scher Selbst­mord“ für die Partei, solle sie versuchen, ein No-Deal-Szenario umzu­setzen. Denn das werde zu vorge­zo­genen Neuwahlen führen, bei denen sehr wahr­schein­lich der Labour-Chef Jeremy Corbyn noch vor Weih­nachten zum Premier­mi­nister werde. Im Fall von Neuwahlen werde die Konser­va­tive Partei „zerstört“, schrieb er im Telegraph. Auch der Schatz­kanzler Philipp Hammond warnte vor einem chao­ti­schen Austritt. Der Premier­mi­nister, der das anstrebe, „kann nicht damit rechnen, sehr lange zu überleben“, sagte er.

Unter den Mitglie­dern der Tories genießt Boris Johnson derzeit die größte Popu­la­rität. Die Wahl eines Partei­vor­sit­zenden erfolgt in der Konser­va­tiven Partei jedoch in zwei Schritten. Zunächst stimmt die parla­men­ta­ri­sche Fraktion der Partei über die Kandi­daten ab und macht eine Vorauswahl von zwei Personen, die sich anschlie­ßend einer Abstim­mung der Basis stellen. Die moderaten Abge­ord­neten der Frak­tionen wollen versuchen, Johnson mit seiner harten Brexit-Politik schon in der ersten Runde ausscheiden zu lassen. So könnte etwa der Umwelt­mi­nister Michael Gove zum Favoriten werden – ebenfalls ein Brexit-Anhänger, jedoch nicht so radikal wie Johnson. Auch der Innen­mi­nister Sajid Javid warf seinen Hut bereits in den Ring.

Der neue Premier­mi­nister wird aber mit den gleichen Problemen konfron­tiert sein, an denen Theresa May geschei­tert ist – das gespal­tene Land, die gespal­tene Partei und das Parlament, das sich auf keine Brexit-Option einigen kann. Die Posi­tionen der Abge­ord­neten haben sich nicht geändert, der Wille zum Kompro­miss ist nicht größer geworden. Der Nach­folger oder die Nach­fol­gerin von Theresa May wird es nicht einfach haben und könnte in der gleichen Patt­si­tua­tion landen, die ohne Neuwahlen oder ein zweites Refe­rendum nicht zu lösen ist.

Die Euro­pa­wahl erhöht den Druck auf Labour, sich nun doch als eine Anti-Brexit-Kraft zu posi­tio­nieren und eine Kampagne für eine zweite Volks­ab­stim­mung zu starten. Der Partei­vor­sit­zende Corbyn sagte nach der Nieder­lage, er höre beiden Seiten der Debatte um das Refe­rendum „sehr aufmerksam“ zu. Und obwohl eine Neuwahl die Priorität von Labour sei, solle eine Volks­ab­stim­mung über das Brexit-Abkommen abge­halten werden. Das ist alles andere als eine klare pro-euro­päi­sche Position. Doch partei­in­tern wird er jetzt noch stärker dazu gedrängt, klar und deutlich ein zweites Refe­rendum zu unterstützen.

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