Libera­lismus neu denken: Die Rache der Gefühle

Grand Warszawski/​​Shutterstock

Gefühle spielen eine sehr große Rolle in der populis­ti­schen Politik. Liberale haben die Bedeutung von Gefühlen größten­teils übersehen. Populisten können Angst und andere Gefühle gegen die liberale Demokratie einsetzen. Darauf kann man aber nicht nur mit Vernunft antworten. Es gibt eine andere Möglichkeit, politisch mit Gefühlen umzugehen, sagt die polnische Intel­lek­tuelle Karolina Wigura.

Wie illiberale Politiker Wahlen gewinnen, indem sie an unsere Gefühle appel­lieren (und was ihre Gegner dagegen tun können).

Im Zusam­menhang mit dem durch die Corona-Pandemie erzeugten Durch­ein­ander wurde zunehmend deutlich, welch große Rolle Gefühle weltweit in der Politik spielen. Gefühle haben die Entschei­dungen ganzer Staaten beein­flusst, wenn es um das Verhängen eines strengen Lockdowns ging. Sie sind auch die Grundlage der großen Protest­be­we­gungen, die wir während des gesamten Jahres 2020 beobachtet haben. Von den Demons­tra­tionen der Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA und Großbri­tannien bis hin zu Protesten zur Vertei­digung von Frauen­rechten in Polen – die Ursache dieser Erschei­nungen ist die Verstärkung sozialer Gefühle während der Pandemie. Angst und Unruhe verwandeln sich leicht in Zorn und Wut, wie wir gut an diesen Protest­be­we­gungen erkennen können.

Man könnte sich fragen, was daran so seltsam ist. Seit Jahrhun­derten ist den Menschen bewusst, dass Politik die Gefühle anspricht. Führer großer und kleinerer Staaten haben ihre Fähigkeit, Gefühle in den von ihnen Regierten hervor­zu­rufen, seit den Tagen Machia­vellis perfek­tio­niert. Dieser hatte in seinem berühmten Werk „Der Fürst“ der Forderung Ausdruck verliehen, dass ein Herrscher in der Lage sein sollte, sowohl Angst als auch Liebe hervorzurufen.

Heute, in der Ära der sozialen Medien, sind Gefühle nicht mehr nur Beiwerk politi­scher Strategien. Sie bilden ihren Kern und dieje­nigen, die sie am besten nutzen können, sind auch in Wahlen erfolg­reich. Dies ist eine besonders große Heraus­for­derung für die Politiker, die die liberale Politik vertei­digen wollen, denn in den letzten Jahren waren es deren Feinde, die aus verschie­denen Gründen die Kunst, die Gefühle der Massen anzusprechen zur Perfektion gebracht haben. Der franzö­sische Philosoph Pierre Hassner schrieb vor einigen Jahren über das, was er als Rache der Leiden­schaften bezeichnete. Wir leben wahrhaftig in einer Zeit der Rache der Gefühle. Dies erfordert Verstehen und angemessene Reaktionen.

Ist die Politik die Domäne der Vernunft oder der Leidenschaft?

Bis vor Kurzem schien die Politik die Domäne der Vernunft zu sein. Seit die liberalen Demokratien 1945 den Faschismus besiegten, herrschte der Glaube, dass Gefühle in der Politik zu blutigen Aufständen und ethni­schen Säube­rungen führen. Dass man ihnen gegenüber Vorsicht walten lassen sollte. Und dass gute politische Systeme vor allem Bildung, Recht, Konsti­tu­tio­na­lismus und unabhängige Insti­tu­tionen fördern sollten. Darüber hinaus sollte der Lebens­standard allmählich verbessert werden, so dass die Menschen nie wieder die große Wut und Frustration fühlen würden, die einst dazu führte, dass politische Extreme und Grausamkeit Europa in nie zuvor gekanntem Ausmaß beherrschten. Damit sollte gewähr­leistet werden, dass Ordnung und Stabi­lität bestän­diger wären als je zuvor.

Vor einigen Jahren begannen sich die Dinge jedoch zu ändern. Plötzlich begannen die Bürger vieler Lände Unruhe, Frustration, Angst und Wut zu zeigen. Diese Gefühle waren gegen die sie regie­renden liberalen Eliten gerichtet. Dann waren da auch die Politiker, die diese Stimmung der Öffent­lichkeit aufgriffen: die Illibe­ralen. Im Gegensatz zu ihren liberalen Opponenten zeigten sie Verständnis für diese Gefühle. Sie boten ihnen eine Bühne und richteten sie gegen die alten Eliten in Staat und Recht, gegen auslän­dische Migranten und gegen Menschen, die anders lebten als die Mehrheit. Als Ausweg versprachen die Illibe­ralen eine neue Welle der Demokra­ti­sierung, mit der angeblich die öffent­lichen Einrich­tungen in die Hände der Bürger gegeben werden sollten.

Ein Beispiel für genau dieses Phänomen ist der Sieg und die fortbe­stehende Popula­rität der Partei Recht und Gerech­tigkeit (PiS) in Polen mit ihrer anti-elitis­ti­schen und anti-liberalen Rhetorik. Aber die PiS steht keineswegs allein. Es gibt weltweit eine ganze Reihe von Gruppie­rungen, die ein ähnliches Muster aufweisen, und entweder gewinnen sie Wahlen oder erlangen wachsende Unter­stützung. Die Liste umfasst Donald Trump in den USA, die Alter­native für Deutschland in Deutschland, Thierry Baudets Forum für Demokratie in den Nieder­landen, die Brexit-Befür­worter in Großbri­tannien, die Fidesz in Ungarn und so weiter.

Wahlsiege dieser Politiker führen bald entweder zur Auflösung des Rechts­staates und unabhän­giger Insti­tu­tionen (wie es in Polen geschieht) oder zumindest üben sie erheb­lichen Druck darauf aus (wie in den USA). Gleich­zeitig erhalten sie gesell­schaft­liche Unter­stützung. In Polen ist die PiS zum zweiten Mal Regie­rungs­partei und auch ihr Präsident wurde wieder­ge­wählt. In Ungarn gewinnt Victor Orbán eine Wahl nach der anderen. Wenn man die Ereig­nisse beobachtet stellt man fest, dass Liberale die Menschen oft tadeln und behaupten, sie hätten sich von Illibe­ralen kaufen lassen und, dass ihre Verär­gerung und Zynismus diese Verän­de­rungen zugelassen hätten.

Dr. habil. Karolina Wigura ist Ideen­his­to­ri­kerin, Sozio­login und Journa­listin. Sie ist Vorstands­mit­glied der Stiftung Kultura Liberalna mit Sitz in Warschau und Senior Fellow des Zentrum Liberale Moderne. Wigura ist außerdem Dozentin am Institut für Sozio­logie der Univer­sität Warschau und beschäftigt sich mit der politi­schen Philo­sophie des 20. Jahrhun­derts und Emotionen in der Politik sowie mit Sozio­logie und Ethik der Erinnerung, insbe­sondere mit Übergangs­justiz, histo­ri­scher Schuld und Versöhnung. Sie ist außerdem Assis­tenz­pro­fes­sorin und Mitglied des European Council on Foreign Relations. Von 2016 bis 2018 war sie Co-Direk­torin des Polni­schen Programms am St. Antony’s College der Univer­sität Oxford. 

Wigura erhielt Stipendien am Institute for Advanced Studies in Berlin, der Robert Bosch Akademie, dem Institut für die Wissen­schaften vom Menschen in Wien, dem German Marshall Fund und dem St. Antony’s College der Univer­sität Oxford. 2008 erhielt sie den Großen Presse­preis für ihr Interview mit Jürgen Habermas „Europa in der Todes­starre“. Wigura ist die Autorin von The Guilt of Nations: Forgi­veness as a Political Strategy (2011) und The Invention of Modern Heart: Philo­so­phical Sources of Contem­porary Thinking of Emotions (2019) – beide auf Polnisch. Ihre Arbeiten wurden auch in The Guardian, The New York Times, Neue Zürcher Zeitung, Gazeta Wyborcza und anderen Zeitschriften veröffentlicht. 

Ihr neuestes Buch, das sie gemeinsam mit dem konser­va­tiven und katho­li­schen Intel­lek­tu­ellen Tomasz Terli­kowski verfasst hat, „Polni­scher Atheist vs. Polni­scher Katholik“ wurde kürzlich zu einem der Bestseller in Polen (2022). Derzeit bereitet Wigura zusammen mit Jarosław Kuisz ein Buch über die Auswir­kungen des Krieges in der Ukraine auf Mittel- und Osteuropa für den Suhrkamp Verlag vor. Wigura studierte Sozio­logie, Philo­sophie und Politik­wis­sen­schaft an der Univer­sität Warschau und der Univer­sität München. Sie promo­vierte und habili­tierte sich an der Univer­sität Warschau. 

Demokratie und Verlustgefühle

All dies kann man auch anders beschreiben. Die Ursachen für die gegen­wärtige politische Lage und auch der Schlüssel für ihre Überwindung liegen in den großen gesell­schaft­lichen und kultu­rellen Verän­de­rungen der Gefühle der Massen, denen wir alle unterliegen.

„Schritt für Schritt, Jahr für Jahr, verbessert sich die Welt. Nicht bei jeder einzelnen Maßnahme in jedem einzelnen Jahr, aber in der Regel. Obwohl die Welt vor großen Heraus­for­de­rungen steht, haben wir enorme Fortschritte gemacht. Dies ist die auf Fakten basie­rende Weltan­schauung.“ Auf diese Weise beschreibt der schwe­dische Arzt und Forscher auf dem Gebiet des Gesund­heits­wesens die Wirkung des weltweiten Fortschritts in der jüngsten Geschichte.

Diese Verän­de­rungen wurden in den letzten 200 Jahren erreicht, aber die größte Beschleu­nigung erfuhren sie im letzten halben Jahrhundert. Dazu gehören insbe­sondere die Verrin­gerung der Kinder­sterb­lichkeit, eine höhere Lebens­er­wartung, Zugang zu fließendem Wasser in den Haushalten, bessere Bildung für Jungen und Mädchen, bessere Ernährung, Zugang zu techni­schen Errun­gen­schaften wie Autos, Computer und Mobil­te­lefone und vor allem ein größerer Wohlstand in ganzen Gesell­schaften, wodurch sie von der untersten auf mindestens eine mittlere Stufe des Wohlstands gelangten.

Man sollte annehmen, dass diese großen wissen­schaft­lichen und techni­schen Verän­de­rungen und die Verän­de­rungen der Lebens­weisen zu größerem Optimismus hinsichtlich der Zukunft und zu der Auffassung führen würden, dass wir und unsere Kinder damit rechnen können, in einer besseren Welt zu leben. Das Paradoxe ist, dass wir uns durch das Erreichen dieses kollek­tiven Erfolges zutiefst frustriert fühlen. Warum ist das so?

Wie jede Verän­derung ist auch diese Entwicklung mit Kosten verbunden. Das rührt daher, dass Verän­derung Verlust bedeutet. Alther­ge­brachte Bindungen, gefestigt durch Tradition und soziale Ordnung, lösen sich auf. Verhal­tens­stra­tegien, die bislang perfekt funktio­nierten, werden unwirksam. Es kommt zu einem Verlust bewährter Gewohn­heiten. Entwicklung ist also aus emotio­nalen Gründen schwierig, nicht obwohl sie Erfolge mit sich bringt, sondern weil sie es tut. Dies führt zum Entstehen eines starken Gefühls, nämlich zu dem des Verlustes. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt hin zu Angst, Frustration und Unruhe.

Dieje­nigen Politiker, die diesen Mecha­nismus zuerst verstanden hatten, waren in der Lage, in der jüngsten Vergan­genheit große Erfolge zu erzielen. Der perfekte Beleg für dieses Phänomen ist der Erfolg der politi­schen Gruppierung von Jarosław Kaczyński in Polen. Er hat es geschafft, das ziemlich ambiva­lente und unklare Gefühl des Verlustes in sehr konkrete Gefühle – Angst vor Migranten und Minder­heiten (wie die LGBT-Gemein­schaft) und Ärger über die liberalen Eliten und die Gründe­rInnen der dritten polni­schen Republik umzuwandeln.

Eine ähnliche Erklärung könnten wir für den Erfolg finden, dessen sich die Alter­native für Deutschland erfreut. Auch diese Situation kann leicht missver­standen werden. Viele Menschen in meinem Land glauben wie die Menschen anderer postkom­mu­nis­ti­scher Länder, dass Ostdeutschland aufgrund der seit 1989 vor sich gegan­genen Verän­de­rungen vor Begeis­terung überschäumen sollte. Als die Mauer fiel und inter­na­tionale Mächte die Wieder­ver­ei­nigung Deutsch­lands zuließen, war die DDR der einzige postkom­mu­nis­tische Staat, der sich keine Sorgen zu machen brauchte, woher die Gelder für seine Moder­ni­sierung kommen sollten. Westdeutschland pumpte exorbi­tante Geldmengen in die Infra­struktur der östlichen Länder. Bahnhöfe und Straßen wurden entweder saniert oder neu gebaut und histo­rische Innen­städte wurden wieder­auf­gebaut. Man ging davon aus, dass die Umgestaltung schnell vor sich gehen würde – fast wie ein bei einem zweiten Marshall-Plan.

Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass es entgegen den anfäng­lichen Erwar­tungen in der früheren DDR nicht zu einer Wieder­holung des Wirtschafts­wunders wie in Westdeutschland unter Kanzler Erhard kam. Entschei­dende makro­öko­no­mische Werte (ein gerin­geres Wirtschafts­wachstum, ein Aufwärts­schnellen der Arbeits­lo­sen­zahlen usw.) waren völlig anders als in den 1950er Jahren in Westdeutschland. Es ist also kein Wunder, dass obwohl Deutschland den 30. Jahrestag seiner Verei­nigung feierte, die deutschen Medien voll sind von Skepti­zismus und Zweifel hinsichtlich der tatsäch­lichen Folgen des Wieder­ver­ei­ni­gungs­pro­zesses. In Diskus­sionen werden Fehler, vergebene Chancen für ganze Gruppen der Bevöl­kerung, ungleiche Bezahlung angeführt. Ein weiteres Argument, dass in den Diskus­sionen zum 30. Jahrestag der Verei­nigung Deutsch­lands vorge­bracht wurde, ist die fehlende Anerkennung der ostdeut­schen Errun­gen­schaften nach 1989. Es gibt auch fast keine aus Ostdeutschland stammenden Eliten. Politische Nutznießer all der Vorbe­halte in den östlichen Ländern ist niemand anderes als die Alter­native für Deutschland.

Empathie, Zugehö­rigkeit und Pluralismus

Was können die Vertei­diger der liberalen Demokratie also in der gegen­wär­tigen Situation tun? Für viele besteht die erste intuitive Reaktion auf eine durch aufge­heizte Emotionen gekenn­zeichnete Politik in der Forderung nach Vernunft. Dafür gibt es gute Gründe. Die Geschichte der europäi­schen Politik zumindest des vergan­genen Jahrhun­derts hat uns gelehrt, Vorsicht walten zu lassen, wenn es um diesen Bereich der indivi­du­ellen und gesell­schaft­lichen Psyche geht. Gefühle zu manipu­lieren ist einfach. Jüngstes Beispiel hierfür sind die vom Natio­nal­so­zia­lismus in Deutschland und von unter­schied­lichsten anderen Arten von Natio­na­listen began­genen Grausam­keiten, deren Handeln zum Beispiel zu dem Krieg im früheren Jugoslawien geführt hat.

Die intel­lek­tu­ellen Gründer der modernen liberalen Demokratie wie der bekannte deutsche Philosoph Jürgen Habermas oder die ameri­ka­nische Denkerin Martha Nussbaum halten uns deshalb dazu an, Gefühle mit Vorsicht zu behandeln und sie in Gedanken oder zumindest in sorgfältige liberale Bildung zu verwandeln. Habermas forderte die Erfindung eines neuar­tigen Patrio­tismus: statt natio­naler Gefühle, die manchmal zum Ausschluss ganzer Bevöl­ke­rungs­gruppen und Feind­schaft ihnen gegenüber führen können. schlägt der Philosoph das Konzept des konsti­tu­tio­nellen Patrio­tismus vor, der auf der Verfassung Deutsch­lands und dem EU-Vertrag von Lissabon beruht.

Nussbaum hat sich ihrer­seits intensiv mit Liebe, Angst und anderen Gefühlen befasst, die in unserem kollek­tiven Leben eine wesent­liche Rolle spielen. Was den Umgang mit Gefühlen in der Politik betrifft ist das, was sie vorschlägt, aller­dings ein recht utopi­sches Projekt einer „sokra­ti­schen Pädagogik“, die zuerst zu kriti­schem Verstehen und im Weiteren zu Mitgefühl und Sympathie führen soll. Dieser Ansatz beruht auf der Tatsache, dass viele Menschen, die die Kosten von Verän­derung und das Gefühl des Verlustes verstehen, mit größerer Wahrschein­lichkeit sagen würden, dass es viel besser ist, sich auf Rechts­staat­lichkeit und Insti­tu­tionen zu konzen­trieren als auf die unvor­her­seh­baren Reaktionen des Herzens.

Aber man kann auch auf andere Art mit Gefühlen in der Politik umgehen. Statt sie zu elimi­nieren sollten wir versuchen, so mit ihnen zu arbeiten und sie so zu beschreiben, dass sie einer besseren, nicht einer schlech­teren politi­schen Gemein­schaft dienen.  Gleich­zeitig müsste dies an den Wahlurnen wirksam werden können. Es wäre demzu­folge ein neuer Ansatz in der liberalen Politik, sich wieder dem Gefühl des Verlustes zuzuwenden und zu versuchen, mit dieser Empfindung zu kommu­ni­zieren, mit Empathie auf sie zu reagieren und eine Alter­native zu illibe­ralen Projekten zu schaffen – in Form eines von Fremden­feind­lichkeit freien Gefühls der Zugehö­rigkeit zur eigenen politi­schen Gemeinschaft.

Das von mir beschriebene kollektive Gefühl des Verlustes kann mit der Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen verglichen werden. Beim Trauern ist unsere erste Reaktion zurück­zu­schauen und uns ständig mit dem Verlust zu befassen. Den Inhalt des reaktio­nären Illibe­ra­lismus kann man mit genau dieser Phase der Trauer vergleichen. Aus unserer Erfahrung als Menschen wissen wir jedoch, dass die Trauer auch andere Phasen umfasst. Eine davon ist die, in der wir uns bemühen, uns selbst wieder­zu­be­leben und Quellen der Hoffnung in die Zukunft zu finden. Dies ist die Phase, in der man Mut, Hoffnung und Mitgefühl braucht, insbe­sondere für dieje­nigen unter uns, die nicht so sind wie wir.

Dies könnte der Weg in die Zukunft des Libera­lismus werden. Dieses politische Vorhaben hat schon begonnen, sich inter­na­tional zu entwi­ckeln. Der erdrut­sch­ähn­liche Sieg von Zuzana Čaputová bei den Präsi­dent­schafts­wahlen 2019 in der Slowakei könnte darauf zurück­zu­führen sein, dass sie in ihrem Wahlkampf vor allem auf Empathie gesetzt hat. 2019 gewann die vorher kaum bekannte Aktivistin die Präsi­dent­schafts­wahlen in der lange von der populis­ti­schen Partei Smer-SD (Richtung – Sozial­de­mo­kratie) beherrschten Slowakei mit beein­dru­ckenden 58 % der Stimmen. In meinem Heimatland Polen schlug der für den Bürger­meis­ter­posten kandi­die­rende Rafał Trzas­kowski einen der PiS angehö­renden Rivalen in der ersten Runde der Warschauer Kommunalwahlen.

Auch als Trzas­kowski die Präsi­dent­schafts­wahlen 2020 verlor, zeigte das Maß der Unter­stützung für ihn, dass die Entscheidung, Empathie zu einem wichtigen oder sogar wesent­lichen Element der politi­schen Sprache zu machen, der Schlüssel zum Erfolg bei Wahlen ist.

Gefühle und die Covid-19-Pandemie

Zum Schluss sollten wir uns der Covid-19-Pandemie zuwenden und zu der Frage, wie sie sich auf die kollek­tiven Emotionen auswirkt und wie Politiker darauf reagieren können.

Als die Pandemie ausbrach, konnte man die histo­ri­schen Erfah­rungen aus früheren Pandemien in der Geschichte unseres Konti­nentes (und auch unseres gesamten Planeten) nutzen, um Schluss­fol­ge­rungen zu ziehen, welche Gefühle sie wecken würde und welche Rolle diese wiederum spielen könnten.

Die erste und wichtigste Emotion im Zusam­menhang mit einer Pandemie ist natürlich Angst. Diese Angst hat viele mögliche Facetten, aber unsere Reaktionen darauf sind seit Jahrhun­derten unver­ändert geblieben. Heute – so wie zu Boccaccios Zeiten – hören wir von der Angst der Menschen vor gefähr­lichen Krank­heiten, die von Menschen um uns herum, von unseren eigenen Nachbarn, verbreitet werden.

Das zweite Gefühl, über das seit dem Ausbruch der großen Epidemien im alten Europa stets gesprochen wird, ist Verdäch­tigung. In seiner „Geschichte des pelopon­ne­si­schen Krieges“ berichtet Thuky­dides von dem Verdacht, dass die Krankheit von den Pelopon­ne­siern hervor­ge­rufen wurde – angeblich indem sie Brunnen­wasser vergif­teten. In Dokumenten aus dem 14. Jahrhundert wird berichtet, wie Pogrome gegen Juden durch den Verdacht, die Juden würden den Schwarzen Tod beher­bergen, hervor­ge­rufen wurden. Inwiefern unter­scheidet sich dies von den heute umgehenden Gerüchten, das Corona­virus sei ein Produkt einer chine­si­schen oder sogar chine­sisch-jüdischen Verschwörung?

Die dritte grund­le­gende mit der Pandemie zusam­men­hän­gende Emotion ist Unsicherheit. Diese Emotion wird auch in histo­ri­schen Berichten von Epidemien viel disku­tiert. Unsicherheit hing vor allem damit zusammen, dass während der Seuchen die Rechts­staat­lichkeit verfiel – es war nicht mehr klar, welche allge­meinen Regeln noch galten.

Die gegen­wärtige Pandemie und die sie beglei­tenden Emotionen legen einen weiteren Schleier über alles, was zuvor in der Weltpo­litik funktio­niert hatte. Falls die Gegner der Populisten wirklich davon träumen, diesen die Macht zu entreißen, oder zumindest ihre Popula­rität zu verringern, werden sie alles berück­sich­tigen müssen, was gegen­wärtig eine Rolle spielt. Nach ihrem Sieg in den US-Präsi­dent­schafts­wahlen zögerten Joe Biden und Kamala Harris nicht, zu Mut und Hoffnung in die Zukunft aufzu­rufen. Dies könnte das erste Zeichen dafür sein, dass die Liberalen dafür bereit sind, die Politik für das 21. Jahrhundert neu zu erfinden, Angst in Mut zu verwandeln, Verdäch­ti­gungen in Vorsicht und Unsicherheit in Kreativität.

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