Liberaler Sieg in Zeiten der Krise – Was die nieder­län­dische Wahl für den europäi­schen Libera­lismus bedeutet

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Die nieder­län­di­schen Wahlen brachten der links­li­be­ralen D66 einen histo­ri­schen Sieg – doch dahinter steht ein Land im Spannungsfeld zwischen nativis­ti­schen Tendenzen, geschwächter Linker und einer unter Druck stehenden Mitte. Eric Schliesser analy­siert, was Jettens Triumph wirklich bedeutet – und welche Lehren Europas Liberale daraus ziehen können.

Angesichts der weit verbrei­teten Diagnose einer globalen Krise des Libera­lismus zog das Ergebnis der nieder­län­di­schen Parla­ments­wahlen große Aufmerk­samkeit auf sich. Die Democraten 66 (D66), eine liberale Partei, gewann den Urnengang und verwies die rechts­po­pu­lis­tische Partij voor de Vrijheid (PVV) auf den zweiten Platz. Die Wahl war unver­meidlich geworden, nachdem deren Vorsit­zender Geert Wilders der voran­ge­gan­genen Koalition die Unter­stützung entzogen hatte. Was sind nun die Gründe für diesen Sieg? Wie ist er zu inter­pre­tieren? Was können Liberale in anderen europäi­schen Ländern daraus lernen?

Im Nachhinein betrachtet beging Geert Wilders einen völlig unnötigen Fehler, als er sich aus der ersten großen Fernseh­de­batte der vier Spitzen­kan­di­daten zurückzog. Nachdem die Polizei mehrere Terror­ver­dächtige festge­nommen hatte, setzte Wilders seine Kampagne wegen Sicher­heits­be­denken aus. Als er sich weigerte, an der Debatte teilzu­nehmen, obwohl die Veran­stalter angeboten hatten, sie an einen sicheren, geheimen Ort zu verlegen, büßte er aller­dings Glaub­wür­digkeit ein. In letzter Minute hatte man den Vorsit­zenden der D66, den jugendlich wirkenden Rob Jetten (geb. 1987) einge­laden, um Wilders’ Platz einzu­nehmen, der die Debatte dann mit Bravour gewann. In der Folge führte Jetten einen nahezu makel­losen, optimis­ti­schen Wahlkampf mit dem (an Obama angelehnten) Slogan „Het kan wél! (Es ist möglich!)”. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte holte seine Partei unter allen Parteien die meisten Stimmen.

Die D66 (gegründet 1966) hat ihre Wurzeln in einer progres­siven, auf Moder­ni­sierung und Demokra­ti­sierung zielenden Rebellion gegen das vertikale „Säulen­system” der nieder­län­di­schen Politik des 20. Jahrhun­derts, in dem Katho­liken, Protes­tanten, Sozial­de­mo­kraten und klassische liberale Eliten ein pater­na­lis­ti­sches System der Ämter­vergabe betrieben. In ihrer Program­matik hat die D66 stets Links­li­be­ra­lismus und basis­de­mo­kra­tische Elemente mitein­ander verbunden. Viele Jahrzehnte lang setzte sie sich für die Einführung von Volks­ab­stim­mungen, direkt gewählten Bürger­meistern und die Ausweitung der indivi­du­ellen Freiheits­rechte ein (z. B. bei Abtreibung, den Rechten von Homose­xu­ellen, Sterbe­hilfe usw.).

Während die D66 ihren demokra­ti­schen Populismus weitgehend aufge­geben hat, war sie bei der Werbung für ihren sozial­li­be­ralen Kurs so erfolg­reich, dass in den letzten zehn Jahren sogar viele rechts­ra­dikale Parteien die Homo-Ehe und die Rechte von Homose­xu­ellen als einen wesent­lichen Bestandteil der nieder­län­di­schen natio­nalen Identität betrachten, nicht zuletzt in ihrer antimus­li­mi­schen Program­matik. Der sogenannte „Homo-Natio­na­lismus” in den Nieder­landen ist ein Grund dafür, dass der unter rechts­extremen Parteien englisch­spra­chiger Länder so beliebte trans­feind­liche Diskurs trotz der Popula­rität einer Anti-Woke-Propa­ganda in den Nieder­landen wenig Anklang gefunden hat.

Zwischen Fragmen­tierung, Nativismus und konser­va­tiver Mitte

Die Bedeutung der nieder­län­di­schen Homose­xu­el­len­rechte trat während eines entschei­denden Wende­punkts im Wahlkampf in den Vorder­grund. Denn Jetten profi­tierte von einem vermeid­baren Fehler des Vorsit­zenden des nieder­län­di­schen Christen-Democra­tisch Appèl (CDA), Hendrik „Henri” Bontenbal. Während des größten Teils der Nachkriegszeit hatten die Christ­de­mo­kraten (und die kirchen­nahen Parteien, aus denen sie hervor­ge­gangen waren) eine zentrale Rolle in der nieder­län­di­schen Politik gespielt, bis sie 2010 eine katastro­phale politische Niederlage erlitten. In den letzten Jahren hatte sich Bontenbal erfolg­reich als überzeu­gendster Vertreter der Mitte gegen die Mitte-Rechts-Koali­ti­ons­re­gierung positio­niert, die wieder einmal wegen ihrer Migra­ti­ons­po­litik zerbrochen war. Zu Beginn des Wahlkampfs schien es wahrscheinlich, dass Bontenbal den Christ­de­mo­kraten ihre gewohnte Rolle als spiel­ent­schei­dende „Makler der Macht“ zurück­geben würde.

In einem Fernseh­in­terview gegen Ende des Wahlkampfs vertei­digte Bontenbal das Recht kirch­licher Schulen, zur Ablehnung homose­xu­eller Bezie­hungen zu erziehen, nachdem ihm eine entspre­chende Frage gestellt worden war. Als Bontenbal sich öffentlich für seine Äußerungen entschul­digte, war Jetten, der nun voraus­sichtlich als jüngster und erster offen homose­xu­eller Minis­ter­prä­sident in der Geschichte der Nieder­lande eingehen wird, schon zum Spitzen­reiter avanciert.

Im nieder­län­di­schen Verhält­nis­wahl­recht hat sich die D66 im letzten Viertel­jahr­hundert zu einer Partei der demokra­ti­schen Mitte entwi­ckelt, die tradi­tionell mehr Wert auf Bildungs­po­litik und eine schritt­weise Stärkung der Klima­po­litik legt. D66 spricht in der Regel städtische, gebildete Wähler­schichten an. Die Partei, die seit jeher als pro-europäisch gilt, griff während des Wahlkampfs sehr wirkungsvoll die natio­nalen, tradi­ti­ons­be­wussten Themen auf, die aus dem rechten bis rechts­extremen Spektrum bekannt sind. Die nieder­län­dische Flagge war denn auch fester Bestandteil ihres auf Optimismus getrimmten Wahlkampfs.

D66 erzielte ihr bestes Ergebnis aller Zeiten. Mit knapp 17 % der Stimmen ist sie aber auch der Spitzen­reiter mit dem geringsten Vorsprung vor dem Zweit­plat­zierten in der Geschichte des nieder­län­di­schen Parla­ments. Ohne mindestens drei weitere Koali­ti­ons­par­teien kommt keine arbeits­fähige Mehrheit zustande. Aufgrund des Zweikam­mer­systems wird es aber im Senat immer wieder notwendig werden, Verein­ba­rungen mit weiteren Parteien zu treffen.

Die auslän­dische Presse hat das Wahler­gebnis als Ablehnung der extremen Rechten gewertet. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich jedoch ein diffe­ren­zier­teres, ernüch­terndes Bild. Die politische Landschaft der Nieder­lande ist in etwa drei, wenn auch ungleich starke Wahlblöcke gespalten. Die PVV von Wilders musste zwar einen leichten Rückschlag hinnehmen, bleibt aber de facto im Parlament genauso stark wie die D66. Darüber hinaus blieb der Gesamt­stim­men­anteil des rechten „Blocks” (neben der PVV gehören dazu auch JA21 und Forum voor Democratie (FvD)) stabil. Die populis­tische Bauern-Bürger-Bewegung sollte sinnvol­ler­weise als Teil dieses Blocks betrachtet werden. Der rechte Block (ca. 30 %) ist damit etwas größer als der gemeinsame Stimmen­anteil des linken Blocks aus Sozial­de­mo­kraten, Grünen, Sozia­listen sowie der Tierschutz- und der Rentner­partei (ca. 25 % der Sitze).

Auffallend ist, dass in derselben Woche, in der die ameri­ka­ni­schen Demokra­ti­schen Sozia­listen ihren beein­dru­ckendsten politi­schen Sieg aller Zeiten errangen, die nieder­län­dische Linke auf ein histo­ri­sches Tief stürzte, wie es seit über einem Jahrhundert nicht mehr zu beobachten war. So profi­tierte beispiels­weise der Partei­zu­sam­men­schluss aus nieder­län­di­schen Sozial­de­mo­kraten und Grünen nicht davon, in der Opposition zu sein, und verlor ein Fünftel seiner Sitze im Parlament. Die Partei der Aktivisten für Minder­heiten, BIJ21, schied sogar ganz aus. Die am klarsten als Vertre­terin der Arbei­ter­schaft auftre­tende Partei, die Sozia­listen (SP), erzielte ihr schlech­testes Ergebnis seit dreißig Jahren. Und die wachsende, höchst aktive Klima­schutz­be­wegung ist im Parlament überhaupt nicht vertreten.

Die nicht-populis­tische, pragma­tische Mitte kommt auf etwa 40 % der Stimmen. Tatsächlich ist das Haupt­thema dieser Wahl, dass die Parteien der Mitte zwar effektiv für die Vertei­digung der demokra­ti­schen Insti­tu­tionen eintraten – denn die Zusam­men­setzung des „Blocks” der Mitte hat ganz klar an populis­ti­scher Färbung verloren –, gleich­zeitig aber auch in ihren Botschaften und Partei­pro­grammen viel tradi­tio­na­lis­ti­scher auftraten. So behandeln viele politische Parteien auslän­dische Studenten und Asylbe­werber als Haupt­ur­sache der städti­schen Wohnungs­krise und nicht als Symptom derselben. Darüber hinaus wurden die Univer­si­täten unter Druck gesetzt, die Lehrver­an­stal­tungen in Englisch zu reduzieren und zum Lehrbe­trieb auf Nieder­län­disch zurück­zu­kehren, um so die Zahl der auslän­di­schen Immatri­ku­la­tionen zu verringern. Während sich die Mitte-Parteien größten­teils erholten, brach der Stimmen­anteil der liberalsten und am stärksten pro-europäi­schen Partei, nämlich Volt, ein. Daher werden die meisten möglichen Koali­tionen, die Jetten anführen könnte, einen sehr migra­ti­ons­kri­ti­schen Charakter haben, obwohl die meisten nieder­län­di­schen Parteien beschlossen haben, auf Distanz zu Wilders zu gehen, da er derzeit als unzuver­läs­siger Partner gilt. Es wird eine große Heraus­for­derung sein, diesen Nativismus mit den Anfor­de­rungen einer freien, auf Handel ausge­rich­teten Wirtschaft in Einklang zu bringen.

Liberale Perspek­tiven und struk­tu­relle Herausforderungen

Was ist aus liberaler Sicht von all dem zu halten? Die gute Nachricht ist zunächst einmal, dass die Vertei­digung des demokra­ti­schen Rechts­staates nun ein wichtiger Bestandteil der Botschaft vieler Mitte-Parteien ist und bei einem erheb­lichen Teil der Öffent­lichkeit Anklang findet. Mögli­cher­weise kam den Mitte-Parteien sogar zugute, dass während des Wahlkampfs eine Demons­tration Rechts­extremer in Gewalt und politisch motivierten Sachbe­schä­di­gungen ausartete. Zweifellos wird die Empörung über solche Vorfälle von einer allge­meinen Antipathie gegenüber der zweiten Trump-Regierung verstärkt. Aber wie ich weiter unten darlegen werde, besteht langfristig durchaus Grund zur Sorge.

Zweitens halten die Nieder­länder neben ihren politi­schen Freiheiten auch weiterhin entschieden an ihren indivi­du­ellen Freiheiten fest. Selbst in den viel konser­va­ti­veren ländlichen Provinzen ist kein wachsendes Interesse daran erkennbar, das Sexual­ver­halten oder den Körper von Frauen wieder stärker zu kontrollieren.

Drittens hat das allgemein anerkannte Scheitern des Brexits das Liebäugeln mit einem Nexit-Diskurs auf der rechten und linken Seite des politi­schen Spektrums in den Nieder­landen unter­graben und beendet. Europa ist zu einem rein pragma­ti­schen Projekt geworden, das überwiegend als gut für die nieder­län­dische Wirtschaft beurteilt wird. Dieser Wahlkampf entsprach dem Muster des letzten Jahrzehnts, in dem die nieder­län­dische Öffent­lichkeit und die intel­lek­tu­ellen Zirkel weiterhin so tun, als könnten auslän­dische Vorgänge, wie beispiels­weise die massive Einführung von KI, getrost ignoriert werden.

Der stark rückwärts­ge­wandte, nativis­tische Diskurs wirkt sich jedoch auch auf religiöse Minder­heiten aus. Muslime sehen sich in erheb­lichem Maße feind­se­liger Rhetorik und Diskri­mi­nierung ausge­setzt. Darüber hinaus hat sich im letzten Jahr eine lautstarke antiis­rae­lische Stimmung zu einem Mainstream-Antise­mi­tismus entwickelt.

Außerdem erschweren das zersplit­terte Parlament und der wachsende Nativismus es den Parteien der Mitte, die drei weithin anerkannten politi­schen Heraus­for­de­rungen des Landes wirksam anzugehen: (i) den dysfunk­tio­nalen und überre­gu­lierten Immobi­li­en­markt, der junge Menschen und Arbeiter aus dem städti­schen Wohnungs­markt verdrängt hat; (ii) die „Stick­stoff­krise”, die eine Folge des Einsatzes von Dünge­mitteln in der inten­siven Landwirt­schaft ist und die nieder­län­dische Wasser­ver­sorgung und die Luftqua­lität schädigt, und (iii) die alternde Bevöl­kerung, die in vielen Teilen des Landes steigende Gesund­heits­kosten und soziale Stagnation verursacht.

Diese drei Themen sind auch auf komplexe Weise mitein­ander verknüpft, da sie die wachsende Kluft zwischen den städti­schen Zentren im Westen und Süden und dem Rest des Landes noch verstärken. Der nieder­län­dische Nativismus macht es praktisch unmöglich, billige auslän­dische Arbeits­kräfte für die Pflege der Senioren in den von Wegzug und Überal­terung betrof­fenen Teilen des Landes anzuwerben. Die Parteien der Mitte richten sich in der Regel an Hausbe­sitzer, was der wohlha­benden Mittel­schicht enorme Kapital­erträge beschert. Unter den Parteien der Mitte wird es wenig Bereit­schaft geben, die Inter­essen ihrer Stamm­wäh­ler­schaft zu unter­graben. Die Parteien der Mitte werden daher kaum bereit sein, gegen die signi­fi­kanten Inter­essen ihrer Wähler­schaft zu handeln.

Das allge­meine Krisen­gefühl in ländlichen Regionen erschwert es, das Problem der übermä­ßigen Nutzung von Stick­stoff­dünger anzupacken, das große Unzufrie­denheit verur­sacht. Und obwohl die Nieder­länder stets zu finanz­po­li­ti­scher Vorsicht neigen, wurde bisher kaum über die Kosten disku­tiert, die die Verpflichtung der NATO zur Aufrüstung verur­sacht. Dabei belasten sie zusammen mit den struk­turell anwach­senden Ausgaben zum Schutz vor steigenden Meer- und Fluss­was­ser­ständen den Haushalt so stark, dass es kaum finan­zi­ellen Spielraum für größere politische Verän­de­rungen in der Wohnungs- und Agrar­po­litik gibt, ganz zu schweigen von der Errei­chung ehrgei­ziger Ziele beim Übergang zu grüner Energie.

Das nieder­län­dische Verhält­nis­wahl­recht erschwert es der autori­tären Rechten enorm, aus eigener Kraft eine Mehrheits­ko­alition zu bilden. Aber die aktuelle, stark zersplit­terte politische Landschaft erschwert zugleich das Zustan­de­kommen stabiler, politi­scher Konstel­la­tionen unter Führung einer Partei der Mitte, die in der Lage wären, langfristige Reformen anzugehen. Es scheint am wahrschein­lichsten, dass sich die politische Mitte in den Nieder­landen in der aktuellen Gemengelage irgendwie durch­wursteln wird, weil sie vom Mangel an politisch begabten Konkur­renten an den politi­schen Rändern profi­tiert. Vielleicht ist dieses „Sich-Durch­wursteln“ aber auch gar nicht so schlecht.

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