Liberté! – Die bunte Gesell­schaft braucht den freien Markt

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Ohne die Markt­wirt­schaft wäre die liberale Demokratie weniger fortschrittlich, emanzi­piert und gewiss weniger bunt. Die Erfolge von Fortschritt, Emanzi­pation und Schutz für Minder­heiten in modernen Gesell­schaften werden oft ausschließlich der Demokratie zugeschrieben, nicht aber der Markt­wirt­schaft. Diese gilt lediglich als notwendige Wohlstands­ma­schine: effizient schafft sie im besten Fall Wohlstand und Arbeits­plätze. Fortschritt, Emanzi­pation und Vielfalt verbinden aber die Wenigsten mit der Markt­wirt­schaft. Man würde gerne, aber kann nicht ohne sie. Dieser instru­men­telle Blick übersieht aber, dass es besonders die Markt­wirt­schaft ist, die der offenen Gesell­schaft ihre Farbe gibt. 

Der erstplat­zierte Essay von Justus Enninga & Marius Drozdzewski

 

Unter­neh­me­rInnen – verkannte soziale Avantgarde

Die kollektive Erinnerung an das deutsche Wirtschafts­wunder ist geprägt durch die Bilder von alten, weißen, bundes­re­pu­bli­ka­ni­schen Männern: Eucken, Erhardt oder die Albrecht Brüder. Viele Frauen hingegen werden in der Erinnerung an die junge Bundes­re­publik ausge­blendet. Beate Rotermund-Uhse zum Beispiel, besser bekannt als Beate Uhse. Kurz vor dem Eintreffen sowje­ti­scher Soldaten 1945 kapert die ausge­bildete Kampf­pi­lotin ein Flugzeug, flieht mit ihrem zweijäh­rigen Sohn nach Schleswig-Holstein, gerät in britische Kriegs­ge­fan­gen­schaft und wird in der Schul­bü­cherei eines kleinen nordfrie­si­schen Dorfs als Flüchtling unter­ge­bracht. Ausge­stattet mit einem Wander­ge­wer­be­schein für Spielzeug und Knöpfe versucht sie wenig erfolg­reich, Haarwuchs­mittel von Tür zu Tür zu verkaufen. Doch Haustür­ge­spräche mit Frauen über „Ehehy­giene“ wie Zyklus, Periode und Verhütung, bringen Uhse auf eine bessere Idee: Sie publi­ziert die „Schrift X“, eine kleine Broschüre, die Frauen für zwei Reichsmark über Verhütung aufklärt. Das Produkt ist ein Kassen­schlager: Bis 1947 verkaufen Uhse und ihr Ehemann 32.000 Exemplare.

Während Politik und Gesell­schaft der frühen Bundes­re­publik die Anliegen von Frauen noch so versteckt hielten wie Knie unter waden­langen Falten­röcken, gründete Beate Uhse 1951 das „Spezial-Versandhaus für Ehe- und Sexual­li­te­ratur und für hygie­nische Artikel“ – den ersten Sexshop Deutsch­lands. Die Unter­neh­merin gab ihren Kundinnen die Möglichkeit, sich über Sexua­lität zu infor­mieren, Verhü­tungs­mittel oder gar Sexspielzeug zu kaufen – der erste Dildo der Bundes­re­publik firmierte noch züchtig unter dem Namen „Sorgenfrei“ oder „pneuma­tische Teilpro­these“. Und das, während noch jahrelang der Mann politisch und rechtlich über seine Ehefrau entscheiden konnte. Von Uhses Tabubruch profi­tierten natürlich nicht nur ihre Kundinnen, sondern auch die spätere Multi­mil­lio­närin. Sie selbst sah sich daher auch nie als „Liebes­die­nerin der Nation“, sondern immer zuerst als Unter­neh­merin: „Ich bin nicht Jesus, ich bin eine Kauffrau. Ich muss das anbieten und verkaufen, was die Leute haben möchten.“

Demokratie als Ordnungsrahmen

Auch wenn das junge deutsche Parlament beim Thema Gleich­be­rech­tigung viel zu spät handelte, gelang es mit Hilfe der West-Alliierten glück­li­cher­weise, nach Ende des Dritten Reiches endlich eine stabile parla­men­ta­rische Demokratie in Deutschland zu etablieren. Die parla­men­ta­ri­schen Mehrheits­ent­scheide aus Bonn und später Berlin waren ein Schlüssel, um die freiheit­liche Ordnung zu schützen und notwen­digen Zwang demokra­tisch zu legiti­mieren. Denn so manche Probleme kollek­tiven Handelns erfordern einen staat­lichen Rahmen, den zu schützen auch Zwang erfordert: Sicherheit muss gewähr­leistet, Freiheits­rechte bewahrt, das Klima geschützt und den Schwächsten der Gesell­schaft geholfen werden. Um politi­schen Zwang zu legiti­mieren, hat die politische Theorie noch keinen besseren Weg gefunden als demokra­tische Entschei­dungen im Einklang mit Minderheitenrechten.

Nur weil demokra­tische Entschei­dungen für die staat­liche Rahmen­setzung relevant sind, sollte jedoch nicht alles von Mehrheiten entschieden werden. Wenn demokra­tische Entschei­dungen zu stark in die Details privaten Lebens eingreifen, besteht die Gefahr, dass sich der Staat vom Rahmen­bauer zum Patri­archen aufschwingt, der indivi­duelle Lebens­ent­würfe vorschreibt. So gab das Grund­gesetz ab 1949 zwar vor, dass Männer und Frauen gleich­be­rechtigt sind. Die politische Realität war jedoch eine andere, patri­ar­cha­li­schere, und wurde von einer Mehrheit lange gestützt: Ehefrauen durften nur mit Zustimmung ihres Gatten Konten eröffnen, und ohne Zustimmung nicht arbeiten gehen. Ehemänner konnten ihren Frauen sogar ganz legal den Schlüssel für die gemeinsame Wohnung abnehmen. Erst 1957, fast 10 Jahre nach Verab­schiedung des Grund­ge­setzes, nach zähen Debatten, Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts­ent­schei­dungen und Unter­aus­schüssen, gelang es, grund­le­gende Gleich­be­rech­tigung zu schaffen. Erst dann wurden die Gesetze abgeschafft, die die Unter­drü­ckung von Frauen mit staat­lichem Zwang stützten.

Markt­wirt­schaft – Belohnt werden für das Anderssein

Die Ungleich­be­handlung von Frauen ist ein krasses Beispiel politi­scher Benach­tei­ligung und zeigt, was geschieht, wenn – auch demokra­tische – Staaten bestimmte Lebens­ent­würfe staatlich erzwingen. Das Beispiel Beate Uhses dagegen beweist, dass Unter­neh­me­rinnen lange vor der Politik auf dem Markt emanzi­pa­to­rische Möglich­keiten schaffen. Wer also für eine progressive, liberale Zukunft kämpft, sollte sich genau ansehen, wie die Markt­wirt­schaft Fortschritt, Emanzi­pation und Vielfalt zur insti­tu­tio­nellen Norm erhebt. Dabei spielen zwei Prinzipien eine besondere Rolle: die unter­neh­me­rische Überwindung von Tabus und der Schutz von Vielfalt.

Unter­neh­me­rinnen können die Sorgen und Bedürf­nisse auch von Minder­heiten ernst­nehmen, ohne dass sie dafür Mehrheiten gewinnen müssen. Während Konser­vative aus Politik und Gesell­schaft Beate Uhse rechtlich verfolgten, belohnte die Markt­wirt­schaft ihren Tabubruch. Und schaffte so Möglich­keiten für aufmerksame, einfühlsame Menschen. Menschen, die übersehene Sorgen entdecken, sie bedienen, anderen helfen und dabei sogar selbst profitieren.

Das gilt nicht nur für Tabus in der Hetero­se­xua­lität. Auch die Emanzi­pation von Homose­xu­ellen wurde durch den Markt beschleunigt. In seinen Buch Buying Gay – How Physique Entre­pre­neurs Sparked a Movement beschreibt David K. Johnson eine ähnlich unter­neh­me­rische Emanzi­pa­ti­ons­ge­schichte wie die von Uhse. In den USA der 50er Jahre begeg­neten Männer aus den verschie­densten Bevöl­ke­rungs­schichten das erste Mal ihrer Homose­xua­lität in privaten Zeitungs­ge­schäften. Die markt­wirt­schaft­liche Struktur des Magazin- und Zeitungs­wesens in den USA führte zu einem breiten Sortiment von Magazinen, so zum Beispiel erotische Zeitschriften, die explizit männliche Körper in Szene setzten und immer stärker von Männern nachge­fragt wurden. Die Kioske und Magazin-Heraus­geber ließen sich dabei nicht vom stock­kon­ser­va­tiven Zeitgeist der USA abschrecken, und verfolgten die ökono­misch sinnvolle Strategie, ihre Märkte mit dem zu versorgen, was die Konsu­menten nachfragten. In seinem Buch sammelt Johnson viele Stimmen von späteren Aktivisten, die berichten, wie der erste Kontakt mit diesen Zeitungen einem Erweckungs­er­lebnis gleichkam und so zum Zündfunken einer ganzen Emanzi­pa­ti­ons­be­wegung wurde.

Die Markt­wirt­schaft erlaubt nicht nur, sie schafft auch Anreize fürs Anderssein. Gleich­zeitig schafft die Markt­wirt­schaft aber auch die Grundlage, um verschie­denste Lebens­ent­würfe neben­ein­ander auszu­leben. Dabei sind markt­wirt­schaft­liche Wege in der Lage, vielfäl­tigste Angebote zu machen, ohne auf Mehrheits­ent­schei­dungen angewiesen zu sein. Müssten sich Don Alphonso und Luisa Neubauer, Mario Barth und Margot Käßmann, Sibylle Berg und Stefan Effenberg auf eine Idee des guten Lebens einigen: Es gäbe Chaos. Doch dank privater Eigen­tums­rechte und der Möglichkeit, ungehindert Verträge zu schließen, die durch einen staat­lichen Rahmen garan­tiert werden, können die unter­schied­lichsten Individuen in einem geschützten Rahmen ihren eigenen Lebens­entwurf leben. Von Alphonso bis Käßmann leben auf dieser Basis Menschen der unter­schied­lichsten Couleur friedlich neben­ein­an­derher: ganz, ohne sich gegen­seitig zustimmen zu müssen.

Auch bei der Frage, was wir essen, tragen, lesen möchten, ist man froh um Unter­neh­me­rinnen, die nicht um Erlaubnis fragen müssen. Auf dem Markt braucht es nur einen willigen Anbieter, der eine minimal notwendige Nachfrage erkennt. Vom bewussten Fleisch­konsum – halal, koscher oder egal – über vegeta­ri­sches und veganes Essen bis gluten- und lakto­sefrei: Super­märkte bieten fast alles. Und wer noch mehr Auswahl sucht, findet in jeder größeren Stadt noch Asiamärkte oder Feinkos­t­ita­liener. Für den Durch­schnitts­deut­schen wären das vermutlich zu viele Geschmacks­aromen. Mehrheits­ent­schei­dungen über die Frage, welche Lebens­mittel mit unseren begrenzten Mitteln angeboten werden, würden in Deutschland wohl irgendwo zwischen Schweinshaxe und Labskaus enden. Mehrheiten ließen sich da für viele Formen des Essens sicher nicht gewinnen. Viel Auswahl gäbe es auch nicht. So ist doch jeder froh, auf dem Markt seine ganz indivi­du­ellen Lieblinge zu finden.

Unter­schätzt von Gegnern und Befür­wortern: Die Buntheit der Marktwirtschaft

Markt­wirt­schaft ist nicht nur eine Wohlstands­ma­schine. Sie ist auch wichtige Trieb­feder des Tabubruchs und des Plura­lismus in der liberalen Demokratie. Gegner der Markt­wirt­schaft unter­schätzen sie – genauso wie scheinbare Befür­worter. Konser­vative etwa, oft Befür­worter der Markt­wirt­schaft, müssen immer wieder erkennen, dass Markt­wirt­schaft auch heißt, dass Produkte für die Versorgung von Trans­per­sonen auf dem Markt zu finden sind, ebenso wie schicke Designs für Kopftücher und englisch­spra­chige Baristas in Berliner Cafés: Schnell ist von der konser­va­tiven Begeis­terung für den Markt nicht mehr viel übrig. Statt­dessen setzen sie auf den Kampf gegen einen diagnos­ti­zierten „Werte­verfall“ der liberalen Gesell­schaft. Ökonomie-Nobel­preis­träger Friedrich August von Hayek wäre von der konser­va­tiven Irritation über die Markt­wirt­schaft nicht überrascht gewesen. Schon 1960 stellte er in seinem Aufsatz Why I am not a Conser­vative fest, dass der Konser­va­tismus ein struk­tu­relles Problem mit der Koexistenz verschie­dener Werte und Lebens­ent­würfe in der Markt­wirt­schaft habe, weil er die eigenen morali­schen Überzeu­gungen auf die ganze Gesell­schaft übertragen möchte. Für den Liberalen hingegen ist entscheidend mit Leuten, die andere moralische Ansichten haben als er, an einer politi­schen Ordnung zu arbeiten, in der beide ihren Überzeu­gungen folgen können.

Die Markt­wirt­schaft ist für viele Gegner und vermeint­liche Befür­worter nur lästige Notwen­digkeit. Ach, gäbe es doch Wohlstand ohne Unter­neh­mertum, Wettbewerb und private Eigen­tums­rechte, dann wäre Demokratie genug. Doch diese Sicht verkennt das emanzi­pa­to­rische und progressive Potential der Markwirt­schaft in der liberalen Demokratie. Beate Uhse, Veggie-Burger und die Gay-Rights Bewegung: Gerade auch unter­neh­me­risch denkende Individuen haben die Lebens­ent­würfe von Minder­heiten möglich gemacht, und durch Empathie, Mut und Geschäftssinn einer vielfäl­ti­geren Gesell­schaft den Weg geebnet. Gleich­zeitig erlauben es starke Eigen­tums­rechte aber auch, die Vielfalt einer Gesell­schaft zu schützen, in der Don Alphonso und Luisa Neubauer friedlich zusam­men­leben. Voraus­setzung ist, dass weder der Staat noch einzelne gesell­schaft­liche Gruppen tief in die privaten Lebens­ent­schei­dungen von Anderen eingreifen dürfen. Die Markt­wirt­schaft ist dabei kein notwen­diges Übel. Sie ist Grundlage für eine progressive und emanzi­pierte Gesell­schaft, die unsere Welt beständig bunter macht. 

Textende

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