Lukaschenkas Krieg gegen das eigene Volk

Foto: Natalia Fedosenko /​ Imago Images

Seit den Protesten im August 2020 sieht sich die illegitime Führung der Republik Belarus im Krieg gegen den „kollek­tiven Westen“, den Kampf führt sie gegen die eigenen Bürge­rinnen und Bürger. Ein Kommentar von Felix Ackermann

Die Fotografien vom Sommer der nicht vollendeten belaru­si­schen Revolution wirken zwei Jahre später wie Bilder aus einer anderen Zeitrechnung. Das Weiß-Rot-Weiß der fried­lichen Märsche des August 2020, die Euphorie des bunten Protestes gegen die offen­kundige Fälschung der Präsi­dent­schafts­wahlen und die Lichter­ketten der impro­vi­sierten Nachbar­schafts­feste in den Hinter­höfen der Haupt­stadt Minsk erinnern an den Aufbruch einer Gesell­schaft, die selbst überrascht war von ihrer Kraft und geeint in der Überzeugung, selbst ihr Land gestalten zu können. Die Klarheit von Sviatlana Tsikha­nouskaja, die anstelle ihres bereits im Mai 2020 verhaf­teten und zu 18 Jahren Haft verur­teilten Mannes Siarhei gegen den autori­tären Herrscher Alexander Lukaschenka angetreten war und die Entschlos­senheit von Maria Koles­nikova, die gemeinsam mit Veronika Tsepkalo ihre Kandi­datur unter­stützte, standen für die Möglichkeit einer anderen Zukunft, die für wenige Wochen greifbar schien.

2020 hatten sowohl die Protes­tie­renden als auch die maskierten Vertreter der Staats­macht verstanden, dass sich etwas verändert hatte. Die horizontale Solida­rität der Frauen, die dezen­trale Selbst­or­ga­ni­sation des Protests und die Dynamik gemein­schaft­lichen Handelns waren deutliche Zeichen dafür, dass aus dem eher zufäl­ligen Zerfalls­produkt der Sowjet­union, in dem es 1994 eine einzige freie Wahl gegeben hatte, innerhalb von drei Jahrzehnten eine vielfältige, kreative und verant­wor­tungs­be­wusste Gesell­schaft erwachsen war. Im August 2020 trat sie als Subjekt in die Gegenwart Europas und rief lautstark: Wir!

Dieser Ruf nach Selbst­be­stimmung, die den Kern von Souve­rä­nität ausmacht, traf Alexander Lukaschenka so umfassend, dass er über Wochen keine Antwort parat hatte, denn in seiner Wahrnehmung ist das belaru­sische Volk Objekt und nicht Subjekt.

Als nach einer spontanen Kündi­gungs­welle im Staats­fern­sehen vom Kreml entsandte Propa­ganda-Spezia­listen das Programm übernahmen, wurde deutlich, dass Lukaschenkas Herrschaft statt auf Selbst­be­stimmung auf der umfas­senden Abhän­gigkeit von Russland fußt. Erst nach dem demons­tra­tiven Schul­ter­schluss der Dikta­toren fand Lukaschenka wieder die Kraft, gemeinsam mit seinen unifor­mierten Schergen die Sprache der Gewalt gegen alle zu sprechen, die eine eigen­ständige Position innerhalb der Republik Belarus einnahmen: Journa­lis­tinnen und Rechts­an­wälte, Künst­le­rinnen und Aktivisten. Er und seine getreuen Vertreter von KGB sowie dem Innen- und Justiz­mi­nis­terium hatten etwas gemeinsam mit Wladimir Putin: In der Weltsicht der Silowiki – toxisch-minis­te­rialer Männlichkeit in Uniform – waren Frauen in weißen Kleidern an den Rändern der Ausfall­straßen belaru­si­scher Städte ebenso eine Bedrohung ihrer Herrschaft wie die Band Irdorath, die lauthals lachend auf dem Prospekt der Unabhän­gigkeit, dem zentralen Minsker Boulevard, Viktor Zois Perestroi­ka­hymne „Peremen“  spielte. Die Folgen sind bekannt: Unter den heute über 1300 politi­schen Gefan­genen ist die Flötistin Maria Koles­nikova ebenso wie die Dudel­sack­spie­lerin Julia Martschenko und ihr Mann Piatro, weil ihre symbo­lische Kraft für Lukaschenka eine reale Gefahr darstellt. Und auch alle unabhän­gigen aktiven Journa­lis­tinnen und Journa­listen sind heute entweder im Gefängnis oder im Ausland. Das zentrale Medien­portal der belaru­si­schen Gesell­schaft „Tut.by“ und sein Archiv sind seit Mai 2021 offline und noch immer sind fünf ehemalige Mitar­bei­te­rinnen im Gefängnis.

Der Sommer 2020 ist auch deshalb in weite Ferne gerückt, weil es heute nicht mehr möglich ist, Belarus selbst in Augen­schein zu nehmen, um vor Ort aus den Infor­ma­ti­ons­splittern ein Bild zusam­men­zu­setzen. Selbst die digitalen Spuren der Revolution, die zwar das symbo­lische Feld verän­derte, nicht aber die realen Macht­ver­hält­nisse, verschwinden, weil Organi­sa­tionen zerstört, vertrieben oder zur Selbst­zensur gezwungen wurden. Es bleibt der Wider­spruch, dass die Selbst­er­mäch­tigung der Bürger­schaft in den sozialen Netzwerken eine Explosion von Infor­ma­tionen aus ganz unter­schied­lichen Teilen des Landes bewirkte, deren digitale Hinter­las­sen­schaften nun aber den Männern in Uniform helfen, noch mit einem Abstand von zwei Jahren syste­ma­tisch die Aktivsten zu verfolgen.

Doch auch Gerichte, die langjährige Gefäng­nis­strafen wie am Fließband produ­zieren, die größte Migra­ti­ons­welle seit Ende des Zweiten Weltkriegs und die Errichtung eines Regimes der Angst sind nicht im Stande, jene Verän­derung des Bewusst­seins rückgängig zu machen, eine Gesell­schaft zu sein, die die Kraft hat, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Dieje­nigen, die flohen, um der Verfolgung zu entgehen, tun dies bereits heute – im Jugendhub am Warschauer plac Konsty­tucji, bei Razam, dem 2020 gegrün­deten Verein der belaru­si­schen Diaspora in Deutschland und im Stab von Sviatlana Tsikha­nouskaja in der litaui­schen Haupt­stadt üben sie eine andere Form gesell­schaft­licher Zusam­men­arbeit ein, die auf die Zukunft in Belarus ausge­richtet bleibt.

Alexander Lukaschenka und seine maskierten Schergen wissen, dass ihr Herrschafts­modell 2020 die letzten Züge von Legiti­mität verloren hat. Das gedachte Kollektiv, mit dem er über zwei Jahrzehnte lang den Vertrag Stabi­lität gegen Loyalität geschlossen hatte, gibt es nicht mehr. Genau deshalb nimmt das Maß an symbo­li­scher und physi­scher Gewalt gegenüber den eigenen Bürgern auch 2022 noch immer zu.

Hätte Lukaschenka nicht im Mai 2021eine Ryanair-Maschine entführt, wären alltäg­liche Willkür und Gewalt gegen die eigene Bevöl­kerung von der Weltöf­fent­lichkeit wahrscheinlich übersehen worden, weil diese sich nach innen und nicht nach außen richten. Der Staats­ter­ro­rismus vor laufender Kamera – allein mit dem Ziel, einen Blogger und seine Freundin zu verhaften – bewegte etwas im Westen Europas. Die erstmalig von der Europäi­schen Union geschlossen einge­führten Sanktionen betrafen nun zum ersten Mal auch wichtige Export­verbote für Wirtschafts­sek­toren wie die Kali- und Chemie­in­dustrie, mit deren Gewinnen die Vertei­lungs­schlüssel der Staats­macht in Minsk bedient wurden. Ihre innere Umver­teilung stabi­li­sierte ebenso wie indirekte Subven­tionen aus Russland die Herrschaft der Silowiki. Beide Mecha­nismen fallen derzeit weg.

Seither wähnt sich das Lukaschenka-Regime im Krieg. Der 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjet­union wurde im Sommer 2021 in Reaktion auf die Sanktionen zum „Angriff eines kollek­tiven Westens“ umgedeutet, in dem „Kolla­bo­ra­teure aus ganz Europa“ gemeinsam gegen Belarus gekämpft haben sollen. Die General­staats­an­walt­schaft in Minsk wurde damit beauf­tragt, deutsche Massen­ver­brechen gegen die jüdische und slawische Zivil­be­völ­kerung in der besetzten Sowjet­union in einem Verfahren wegen Genozid am belaru­si­schen Volk auszu­rollen, dessen Ziel allein in der Diffa­mierung der eigenen Bürger liegt, die unter der weiß-rot-weißen Flagge – seit 2020 das populäre Symbol der Demokra­tie­be­wegung – protes­tiert hatten. Das geschichts­po­li­tische Säbel­rasseln richtete sich vor allem gegen Polen und Litauen, die anders als die Bundes­re­publik Deutschland die durch den Exodus Hundert­tau­sender entstandene belaru­sische Diaspora konse­quent mit großzü­gigen Visa- und Aufent­halts­re­ge­lungen, aber auch durch finan­zielle Direkt­hilfe unterstützten.

Gemeinsame Truppen­ma­növer von russi­schen und belaru­si­schen Streit­kräften nutzte Putin aus, um den russi­schen Angriff auf die Ukraine ab dem 24. Februar auch von Norden zu führen. Der Vormarsch auf Kyjiw erfolgte Anfang März vom Terri­torium der Republik Belarus aus. Städte im Westen der Ukraine werden bis heute von Start­rampen im Süden des Nachbar­lands bombar­diert. Die reguläre Einbindung belaru­si­scher Infra­struktur in den offenen Angriffs- und Vernich­tungs­krieg belegt, dass Alexander Lukaschenka 2022 endgültig die Unabhän­gigkeit des Staats einge­tauscht hat als Gegen­leistung für die gewaltsame Stützung seines Regimes durch Russland.

Der Umstand, dass belaru­sische Truppen bis heute nicht unmit­telbar an Kampf­hand­lungen in der Ukraine beteiligt sind, dokumen­tiert das Ringen um das politische Überleben Lukaschenkas, der auch in Zeiten des Krieges versucht, einen Rest Handlungs­spielraum gegenüber Moskau zu behalten. Seit dem Frühjahr 2022 ist aber auch offen­kundig, dass die Nieder­schlagung der Protest­be­wegung in ganz Belarus Teil der umfas­senden Angriffs­vor­be­rei­tungen Russlands war, denn der Ruf nach Selbst­be­stimmung und die situative Selbst­er­mäch­tigung einer ganzen Gesell­schaft sind nicht nur eine Bedrohung für Lukaschenka, sondern auch für Putin.

Der Krieg in der Ukraine richtet sich ebenso wie der Feldzug Lukaschenkas gegen die eigenen Bürger und gegen die Souve­rä­nität einer ganzen Gesellschaft.

Vom Ausgang des Krieges hängt die Zukunft beider Männer ab, deren Regime vor allem auf Willkür und Gewalt basiert. Putin führt diesen Krieg in der Ukraine, Lukaschenka gegen die Bevöl­kerung im eigenen Land.

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