Wie Russland um seine Identität ringt (3/​3)

Quelle: Julian Buijzen /​ Flickr

WM-Dossier “Russ­land ver­ste­hen“: Der Kreml sucht eine Zukunfts­er­zäh­lung. Doch die Wirt­schaft ist marode und im globalen Wett­be­werb abgehängt. Die Polit­re­gis­seure flüchten deshalb in eine Iden­ti­täts­po­litik von geopo­li­ti­schem Ausmaß: Die Insze­nie­rung des Kul­tur­kamp­fes gegen „Gayropa“ – gegen den Westen und die libe­rale Ordnung – soll verhin­dern, dass die Herr­schaft des Putin-Syndikats zerfällt. 

Russlands Wirt­schaft ist abhängig von Erdöl­ex­porten und ziemlich marode. Deshalb benötigen die Kreml­pro­pa­gan­disten eine verhei­ßungs­volle Erzählung, die die Russen von der post­so­wje­ti­schen Tristesse ablenkt. Seit den 1990er Jahren heißt es stets, Russland sei eine Großmacht gewesen und werde es immer sein. Zunächst leitete man aus diesem Postulat die „Rückkehr nach Europa“ ab – Jelzins junger Außen­mi­nister Andrej Kosyrew bezeich­nete Russland als „freund­liche Großmacht“ und versi­cherte, ein demo­kra­ti­sches Russland würde niemals wieder nach impe­rialer Größe streben.

Dezi­dierte Abwendung von „Gayropa“

Bald jedoch kehrte die russische Politik zu vertrauten Kate­go­rien sowje­ti­scher Außen­po­litik zurück – dem Denken in geopo­li­ti­schen Einfluss­zonen – und redete dem Land ein, es sei in seiner Würde als Großmacht gekränkt worden. Putin beklagt den Verlust des Imperiums als schmerz­haftes Trauma – darauf spielt auch sein berühmtes Zitat vom Zerfall der Sowjet­union als größter geopo­li­ti­scher Kata­strophe des 20. Jahr­hun­derts an – und verbreitet das Narrativ, Russland sei eine von west­li­chen Feinden belagerte Festung. Solche über­zo­genen Szenarien steigert Putins Video­kratie zu über­di­men­sio­nalen Droh­ku­lissen. Sie verun­glimpft den Westen und schart die Bevöl­ke­rung um ihren Präsidenten.

Aus ortho­doxem Ultra­kon­ser­va­tismus und Versatz­stü­cken sowje­ti­scher Tradi­tionen zimmert der Kreml ein natio­nales Selbst­bild zusammen. 

Mit Putins dritter Präsi­dent­schaft im Jahr 2012 setzt außerdem eine konser­va­tive Wende ein, die den anti­west­li­chen Kurs ideo­lo­gisch unter­füt­tert. Staat und orthodoxe Kirche demons­trieren den Schul­ter­schluss und präsen­tieren sich als natür­liche Partner; der Patriarch geht sogar so weit, im ehema­ligen Geheim­dienst­of­fi­zier Putin ein Wunder Gottes zu sehen. Umgekehrt beschwört Putin die nati­ons­bil­dende Kraft der Kirche, weshalb er die aufsäs­sigen Girls von Pussy Riot hinter Gitter setzt. Im staat­li­chen Fernsehen werden Polemiken gegen den „hyper­li­be­ralen Westen“ zur Mode, der als „Gayropa“ karikiert wird. Dahinter steckt die Infra­ge­stel­lung der kultu­rellen Zuge­hö­rig­keit Russlands zu Europa.  Das ist ein U‑Turn gegenüber den ersten Jahren Putins Außen­po­litik, die noch ganz im Zeichen eines prowest­li­chen Kurses standen. Nun hängt er der Philo­so­phie des „Eura­sia­nismus“ an und sinnt über die Gründung einer stärker poli­ti­schen „Eura­si­schen Union“. 

Portrait von Margareta Mommsen

Margareta Mommsen ist emeri­tierte Profes­sorin für Poli­tik­wis­sen­schaft an der Ludwig-Maxi­mi­lians-Univer­sität München

Eine eklek­ti­sche orthodox-sowje­ti­sche Identität soll Russland zusammenhalten

Aus ortho­doxem Ultra­kon­ser­va­tismus und Versatz­stü­cken sowje­ti­scher Tradi­tionen zimmert der Kreml ein neues natio­nales Selbst­bild zusammen, das die Denk­ho­ri­zonte und Debatten bestimmt. Die Annexion der Krim, die Putin als „Heim­ho­lung“ bezeich­nete, löste in Russland Stürme natio­naler Begeis­te­rung aus und trieb die Zustim­mung zum Präsi­denten in Umfragen auf über 80 Prozent. Durch den Ukrai­ne­krieg wittert Russland wieder den Status als imperiale Großmacht. Über Nacht wird das Land vom Syndrom der gekränkten Großmacht geheilt, ohne die es keinen Frieden gibt in Europa.

In welche Richtung wird Putin seine vermeint­liche Großmacht führen? In seinem jüngsten Bericht zur Lage der Nation machte er sich für die Libe­ra­li­sie­rung des Wirt­schafts­be­reichs stark, um den Lebens­stan­dard der Bürger zu verbes­sern und die ökono­mi­sche Wett­be­werbs­fä­hig­keit des Landes zu fördern. Gleich­zeitig will er als schlag­kräf­tige Mili­tär­macht eine post­li­be­rale Welt­ord­nung schaffen, wie sie der Außen­po­li­tik­ex­perte Fjodor Lukjanow skizziert: Dem Westen solle Russland den Rücken kehren und gemeinsam mit dem Iran eine Achse schmieden.

Unter west­li­chen Kommen­ta­toren überwiegt die pessi­mis­ti­sche Einschät­zung, mit liberalen Reformen und einem Tauwetter gegenüber dem Westen sei in naher Zukunft nicht zu rechnen. Opti­misten, darunter die Autorin, halten einen Schwenk Richtung Westen durchaus für möglich – denn ohne Reformen in Wirt­schaft und Politik wird Russland an seinem eigenen Anspruch auf Groß­macht­status scheitern müssen.

Von Margareta Mommsen erschien im Verlag C.H. Beck „Das Putin Syn­di­kat – Russ­land im Griff der Geheim­dienst­ler“ (2017).

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