Liberale Demo­kratie, Iden­ti­täts­po­litik & Europa: Wie wir die Dinge sehen

Quelle: Stephan Roehl /​ Flickr

Über die doppelte Bedrohung der liberalen Demo­kratie, die Irrtümer post­mo­derner Iden­ti­täts­po­litik, Europas Zukunft und mehr  – Wie wir bei LibMod die Dinge sehen

Wer bedroht die liberale Moderne?

Zum einen selbst­be­wusst auftrump­fende Mächte wie Russ­land, China, Iran und die Türkei. Sie ver­ste­hen sich nicht mehr als Über­gangs­ge­sell­schaf­ten von einer auto­ri­tä­ren Ver­gan­gen­heit hin zu einer demo­kra­ti­schen Zukunft, sondern als Gegen­mo­dell zum Westen. Damit entsteht eine globale Sys­tem­kon­kur­renz zwi­schen Auto­ri­ta­rismus und Demo­kratie. Gleich­zei­tig sitzt der Feind im eigenen Haus. In den Kern­län­dern des Westens verbreitet sich mit Trump, Brexit und den rechts­po­pu­lis­ti­schen bis rechts­ra­di­ka­len Bewe­gun­gen eine anti­li­be­rale Revolte. Die Ver­tei­di­gung der libe­ra­len Demo­kra­tie ist die Kern­frage unserer Zeit. Dabei geht es nicht um die Bewah­rung des Status quo – Ver­tei­di­gung heißt Erneue­rung. Wir brauchen einen neuen Gesell­schafts­ver­trag, der Freiheit mit sozialer Teilhabe verbindet.

Was hat die Anti­li­be­ra­len auf den Plan gerufen?

Wir befinden uns in einer Moder­ni­sie­rungs­krise. Fun­da­men­tale Ver­än­de­run­gen voll­ziehen sich in hoher Geschwin­dig­keit: die ökono­mi­sche Globa­li­sie­rung mit ihrem stei­genden Leis­tungs­druck, die Digi­ta­li­sie­rung der Arbeits- und Lebens­welt, globale Migra­tion und – was wir zuweilen unter­schätzen – das Aufbre­chen der Geschlech­ter­ver­hält­nisse. Diese Ver­än­de­run­gen erzeu­gen in weiten Teilen unserer Gesell­schaften ein Grund­ge­fühl von Unsi­cher­heit und Kontroll­ver­lust. Dafür stehen drei sym­bol­träch­ti­ge Ereig­nis­se: 9/​​11, der Anschlag auf das World Trade Center in New York, die Finanz­krise von 2008 und die Flücht­lings­be­we­gung. Alle drei haben den Eindruck verschärft, dass die Dinge aus dem Ruder laufen.

Wie gewinnen wir die Zuver­sicht zurück?

Die Vertei­di­gung der liberalen Demo­kratie wird uns nur gelingen, wenn wir eine Ant­wor­t auf das Be­dürf­nis nach Sicher­heit, Gemein­schaft und Zuge­hö­rig­keit finden. Menschen brauchen Bindungen. Die Kritik an Indi­vi­dua­li­sie­rung und Frag­men­tie­rung der Gesell­schaft ist eine Grund­me­lodie der Moderne. Die libe­ra­le Gesell­schaft ruft radi­ka­le Gemein­schafts­be­we­gun­gen wie den Kom­mu­nis­mus und den völ­ki­schen Natio­na­lis­mus auf den Plan. Unsere Antwort auf die Wieder­kehr tota­li­tärer Ideo­lo­gien ist die demo­kra­ti­sche Republik: eine poli­ti­sche Gemein­schaft freier Bürger, die Werte und Grund­über­zeu­gun­gen teilen und soli­da­risch fürein­an­der einstehen.

Die post­mo­derne Linke will Freiheit durch Iden­ti­täts­po­litik vertei­digen – verträgt sich das mit der Republik? 

Iden­ti­täts­po­li­tik stellt sich als Falle heraus. Die Poli­ti­sie­rung von Geschlecht, Ethnie, Kultur und Religion mündet in den auto­ri­tären Gegen­schlag. Auf die Iden­ti­täts­po­li­tik von links folgt die Iden­ti­täts­po­litik von rechts: Nation, Familie, Tradition. An die Stelle des post­mo­dernen Triba­lismus, der die Gesell­schaft in kultu­relle Subgruppen teilt, tritt die Herr­schaft der Mehrheit. Das führt zur „illi­be­ralen Demo­kratie“ wie in Ungarn und Polen. Wir müssen uns wieder auf das repu­bli­ka­ni­sche Ver­ständ­nis von Demo­kra­tie als Bürger­re­pu­blik mit glei­chen Rechten und Pflichten besin­nen. Demo­kratie leitet sich nicht aus Grup­pen­iden­ti­tä­ten ab, sondern aus der Freiheit und Gleich­heit jedes Einzelnen.

Um Einigkeit zu stiften, wird Politik neuer­dings über den Begriff Heimat erzählt – kann das funktionieren? 

Ein Hei­mat­mi­nis­te­rium ist sicher nicht die Antwort auf das Bedürfnis nach Zuge­hö­rig­keit – Heimat ist keine Staats­auf­gabe, sie gehört in die Sphäre der Zivil­ge­sell­schaft. Richtig ist aber, dass wir den Rechts­po­pu­lis­ten den Heimat­be­griff strei­tig machen: Heimat ist dort, wo ich aner­kannt und geach­tet werde. Heimat muss offen sein für Neu­an­kömm­linge, die ihr Leben gemeinsam mit anderen gestal­ten wollen.

Ist Europa eine Heimat? 

Europa bietet uns eine zusätz­liche Schicht poli­ti­scher Zuge­hö­rig­keit. Menschen besitzen multiple Iden­ti­täten. Wir sind Euro­päer und durch Geschichte, Kultur und Sprache gleich­zeitig auch Deut­sche, Fran­zo­sen oder Ita­lie­ner. Genauso sind wir Ange­hö­rige von Regio­nen mit ihren einzig­ar­tiger Land­schaft und Dia­lekt – und in unserer Verschie­den­heit bleiben wir alle Europäer.

Die EU zeichnen die System­gegner als undurch­schau­bares, von der Lebens­welt der Menschen entkop­peltes Büro­kra­tie­monster, als Symbol eines – Achtung! – liberalen Autoritarismus. 

Das ist ein groteskes Zerrbild. Wir müssen aber aufpassen, diesem Narrativ nicht in die Hände zu arbeiten, indem wir den Eindruck erwecken, dass die Euro­päi­sie­rung ganz selbst­ver­ständ­lich auf einen euro­päi­schen Zentral­staat hinaus­läuft. Ein Groß­teil der Bürger kann mit dem Post­na­tio­na­lismus nichts anfangen. Was den einen als Fort­schritt erscheint, ist für die anderen eine Bedrohung. Sie empfinden die Erosion der Natio­nal­staaten als Verlust von Mitbe­stim­mung und Sicher­heit. Deshalb müssen wir raus aus der fal­schen Alter­na­tive zwi­schen einem Europa der Natio­nal­staa­ten und den Ver­ei­nig­ten Staaten von Europa. Das euro­päi­sche Erbe heißt Einheit in Vielfalt. Es braucht Raum für frei­wil­lige Koope­ra­tion, wo sich kein Konsens aller erzielen lässt. Wenn man versucht, einheit­liche Lösungen per Mehr­heits­ent­schei­dung zu erzwingen, verstärkt man nur die zentri­fu­galen Gegen­kräfte. Denken wir Europa als ein poli­ti­sches Netz­werk mit gemein­sa­men nor­ma­ti­ven Grund­la­gen und Institutionen!

Russland greift Europa durch Cyber­at­ta­cken, groß­an­ge­legte Desin­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen und mili­tä­ri­sche Inter­ven­tionen in seiner Nach­bar­schaft an. Wie reagieren? 

Wir müssen uns den geopo­li­ti­schen Heraus­for­de­rungen stellen. Die Vorstel­lung, mit Geld und Gut-Zureden jeden Kon­flikte zu lösen, ist trüge­risch. Spätes­tens mit der Anne­xion der Krim und der Inter­ven­tion in der Ost­ukraine ist klar, dass für den Kreml das Recht des Stärkeren gilt. Russland tritt heute als Gegner der libe­ra­len Ordnung auf­. Dagegen ist Fes­tig­keit gefragt. Es geht um die euro­päi­schen Frie­dens­ord­nung: Aner­ken­nung der Menschen­rechte, Gewalt­ver­zicht und gleicher Souve­rä­nität aller euro­päi­schen Staaten. Die Zeit ist vorbei, in der die Europäer im Wind­schatten des großen Bruders Amerika segeln konnten. Das gilt insbe­son­dere für die östliche und südliche Nach­bar­schaft der EU.

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