Post aus Tel Aviv: Warum „King Bibi“ auch in Zukunft regieren könnte
Der israelische Premier Benjamin Netanyahu, vom Volksmund „Bibi“ gerufen, hat die Wahlen vorgezogen, um einer Anklage wegen Betrugs und Bestechung zu entgehen. Das Ende des „Bibiismus“ muss das aber nicht bedeuten – die oppositionellen Parteien bekämpfen sich vornehmlich untereinander.
Kein Geringerer als Henry Kissinger brachte das politische System des jüdischen Staates einst auf den Punkt: „Israel has no foreign policy; it has only a domestic policy“ („Israel hat keine Außen‑, sondern nur Innenpolitik“). In diesem Sinne ist der Wahlkampf, der in Israel gerade begonnen hat, zu verstehen. Israels Premier Benjamin Netanyahu, der nicht ganz zu Unrecht befürchtet, wegen möglichen Betrugs und Bestechung in mehreren Fällen vom Generalstaatsanwalt angeklagt zu werden, hat die Wahlen von November auf April vorgezogen. Er will damit einer Anklage noch vor den Wahlen entgehen. „Bibi“, wie der Premier auch in den israelischen Medien genannt wird, hofft, mit einem neuen Mandat die Justiz davon zu überzeugen, daß das Volk ihn will – und er somit ungeschoren davonkommt. Darum geht es.
Wie schon seit jeher ist das israelische politische System bestimmt von zahlreichen verschiedenen Parteien, die kommen und gehen. Ja, es gibt den Likud, die immer noch stärkste Partei mit ihrem Vorsitzenden und Premier Netanyahu, und es gibt auch noch die sozialdemokratische Arbeitspartei Avoda, die jedoch, ebenso wie die Sozialdemokratie in Europa, auch in Israel schwächelt und möglicherweise bedeutungslos wird. Schon bei den letzten Wahlen 2015 hat aus diesem Grund der damalige Vorsitzende der Avoda, Isaac Herzog, ein Bündnis mit der kleinen Hatnua-Partei der einstigen Außenministerin Zipi Livni geschlossen. Daraus entstand die „Zionist Union“, die nach dem Likud zweitstärkste Fraktion wurde.
Doch, wie so häufig in Israel, bekämpfen sich die Parteien in der Mitte und links von der Mitte untereinander, anstatt sich auf den gemeinsamen politischen Gegner zu konzentrieren. Seitdem der wenig charismatische Avi Gabbay Vorsitzender von Avoda wurde, arbeitete Livni intensiv an einem großen Bündnis aller Kräfte, um „King Bibi“, wie ihn das US-Magazin „TIME“ in einer Cover-Story nannte, vom Thron zu stoßen. Tatsächlich wäre Livnis Bestreben sinnvoll. Die vielen oppositionellen Parteien dürften sich bei den Wahlen gegenseitig Stimmen wegnehmen – und Netanyahus Likud damit möglicherweise den Wahlsieg bescheren. Doch Gabbay verstand Livnis Bemühung als Mißtrauensvotum gegen ihn. So berief er im Dezember eine Fraktionssitzung zusammen mit Livni ein und düpierte die Ex-Ministerin in der Öffentlichkeit, indem er das Bündnis mit ihrer Partei aufkündigte – ohne daß Livni zuvor davon wußte.
Ein Sieg Netanhayus wäre eine Katastrophe. Eine Niederlage eine noch größere?
Das war selbst im taffen israelischen Politikgeschäft ein brutales Novum. Diese Aufspaltung geschah parallel zur Entstehung neuer Parteien in der sogenannten Mitte. Der ehemalige Verteidigungsminister Moshe Yaalon gründete die mitte-rechts angesiedelte Partei Telem, ebenso Benny Gantz, der vorletzte Generalstabschef der israelischen Armee. Gantz, der an der Spitze der Armee stets bedachtsam und ruhig agierte, gilt in diesem Wahlkampf als Joker. Seine Partei, die „Widerstandsfähigkeit für Israel“ heißt, hat aus dem Stand bei Umfragen zweistellige Zahlen erreichen können. Bei einer letzten Umfrage Anfang Januar ist Gantz Netanyahu inzwischen gefährlich nahegekommen. Ihn trennen nur noch drei Prozentpunkte von „Bibi“. Doch wofür stehen Gantz und seine Partei?
Das weiß niemand. Denn Gantz spielt die Sphinx. Er sagt einfach nichts. Wie er die großen, brennenden Probleme Israels lösen will, den israelisch-palästinensischen Konflikt, den Kampf gegen die Hizbollah und den Iran, und die großen sozialen Probleme des Landes – keiner weiß es. Und doch scheint ihm eine große Anzahl an Israelis im Augenblick zu vertrauen. Das liegt nicht nur daran, daß Generäle in der israelischen Gesellschaft ein hohes Ansehen genießen. Auch Rabin, Barak und Sharon waren Generäle oder gar Generalstabschefs der Armee.
Doch mehr noch hat die Popularität Gantz‘ mit einem allmählichen Überdruss an Netanyahu zu tun, an der Sehnsucht und Hoffnung nach Veränderung der verkrusteten israelischen Politik. „Bibis“ mögliche Verwicklung in Korruptionsfälle, seine zunehmend illiberale Politik, vor allem aber die wachsende Schere zwischen Arm und Reich bei extrem hohen Lebenshaltungskosten, lassen vielen Israelis nach zehn Jahren „Bibiismus“ Gantz als einzige Alternative erscheinen.
Denn einem Gabbay oder auch dem ehemaligen Journalisten Yair Lapid mit seiner Yesh Atid-Partei in der Mitte des Parteienspektrums werden politische Erfahrung vor allem in Fragen der Sicherheit und Verteidigung nicht ganz zu Unrecht abgesprochen. Bevor Gantz seinen Einstieg in die Politik bekanntgab, schien Lapid der einzige, wenngleich nicht wirklich gefährliche, Widersacher Netanyahus zu sein. Ein israelischer Linker formulierte die Lage so: „Wenn Netanyahu wiedergewählt wird, ist das eine Katastrophe. Wenn er nicht wiedergewählt wird, ist das eine noch größere Katastrophe!“
„Mr. Security“ brandmarkt Friedenspläne als gefährlich
Tatsächlich ist es Netanyahu in seinen Jahren als Premier gelungen, sich als „Mr. Security“ zu verkaufen, als der einzigen Mann, der Israel durch unsichere Zeiten im Nahen Osten bringen kann. Und tatsächlich hat Israel ruhige Jahre hinter sich, relativ gesehen. Die Palästinenser sind keine existentielle Bedrohung für Israel und mit Tausenden von gezielten und offensichtlich erfolgreichen Angriffen in Syrien und Libanon hat die israelische Luftwaffe dafür gesorgt, daß die Pläne Irans, sich in unmittelbarer Nachbarschaft Israels militärisch festzusetzen, niederzulassen, durchkreuzt werden konnten. Zumindest bis auf Weiteres.
Und so ist noch keineswegs sicher, daß Gantz „Bibi“ besiegen wird. Die aufgeplusterten Egos der diversen, vor allem männlichen Parteienführer verhindern die von Livni geforderte Einheitsfront gegen „Bibi“ und könnten so am Ende Gantz den Sieg kosten. Doch auch „Bibi“ könnte Schwierigkeiten bekommen, selbst wenn er die Wahlen gewönne. Denn ebenso wie auf der Linken, so hat sich auch auf der Rechten eine Spaltung vollzogen. Naftali Bennett, Erziehungsminister und bisheriger Führer der Siedlerpartei HaBait HaYehudi, hat zusammen mit seiner Kollegin, der Justizministerin Ayelet Shaked, die Partei verlassen und „Die Neue Rechte“ gegründet, eine Partei, die nicht nur religiöse Siedler, sondern auch säkulare Rechte bis Rechtsextreme an sich binden soll.
Ob die Rechnung der beiden aufgeht, ist ungewiß. Auch hier könnte es sein, daß die Parteien rechts der Mitte sich gegenseitig die Stimmen wegnehmen. In Israel liegt die Hürde zum Eintritt in die Knesset bei 3,25 Prozent. Eventuell hätte also ein wiedergewählter Netanyahu Mühe, eine neue rechte bis ultrarechte Koalition zu bilden. Bennett und Shaked nehmen das Risiko aber in Kauf, sie denken schon an die Zeit nach Netanyahu und suchen neue Wählerschaften, um einmal die Macht zu übernehmen oder – erstarkt – in den Likud zurückzukehren und dort die Spitze der Partei zu übernehmen. Denn selbst bei einem erneuten Wahlsieg dürfte dies Netanyahus letzte Kadenz sein. Eine Anklage ist sehr wahrscheinlich, auch sein Alter und der bereits erwähnte Überdruß an seiner Person deuten ein Ende der „Ära Bibi“ an.
Für linksliberale Demokraten in Israel ist das aber kein Grund zur Freude. Denn auch die größeren Oppositionsparteien sind ideenlos, wenn es um die Frage der besetzten Gebiete geht. Die meisten wollen den Status quo erhalten, weil sie weder in dem alternden Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas, noch in der radikal-islamischen Hamas einen Partner für Frieden sehen. Und weil sie sich nicht mit den allzu mächtigen Siedlern anlegen wollen. Ein Bürgerkrieg ist das Letzte, was Gabbay, Lapid oder Gantz wollen.
So bleibt nur die kleine Meretz-Partei, vergleichbar am ehesten mit den Grünen in Deutschland, die klare liberale Positionen und ein eindeutiges Bekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung vertritt. In der gegenwärtigen Knesset hat sie allerdings gerade mal fünf Sitze. Im israelischen Mainstream kann sie sich kaum behaupten. Denn eines ist Netanyahu nach nun fast zehn Jahren ununterbrochener Macht gelungen: Die Bevölkerung in ständiger Angst vor dem Untergang zu halten – und sich somit nicht nur als „Mr. Security“ unentbehrlich zu machen, sondern auch alle Friedenspläne als gefährlich zu brandmarken. Man darf gespannt sein, ob die Israelis, Benny Gantz oder Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit „Bibis“ Pläne und Hoffnungen für den 9. April durchkreuzen werden.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.